Protokoll der Sitzung vom 14.12.2009

(Glocke des Präsidenten)

In der Diskussion um die Wahl der angemessenen Schulform wird häufig vergessen, dass die Ausrichtung unserer Schulformen völlig unterschiedlich ist. Da ist zum einen der wissenschaftliche Anspruch, der in Gymnasien erfüllt werden soll, und zum anderen der - ich sage einmal - dienstleistungsmäßige oder handwerklich orientierte Anspruch in den anderen Schulen.

Es gibt eben Fälle, in denen zwischen Elternwunsch und Schullaufbahnempfehlung keine Einigung erzielt werden kann. Genau um diesen Anteil, verehrte Kolleginnen und Kollegen, geht es uns. Wir müssen eine Regelung finden, die dazu beiträgt, dass zahlreichen Kindern Überforderungen erspart bleiben. Kinder, die aufgrund eines besonders gut gemeinten Ehrgeizes in der sogenannten falschen Schulform landen, verlieren die Freude am Lernen. Sie werden Ängsten ausgesetzt.

(Glocke des Präsidenten)

Eine Abstufung der Kinder im Nachhinein lässt sich jedenfalls nach meiner Erfahrung nur mit deutlich negativen Spuren feststellen. Das lässt sich nur noch sehr schwer aufarbeiten.

Herr Kollege, letzter Satz bitte!

Ja. - Wir möchten ganz gerne, dass in dem Moment, in dem sich die beiden Entscheidungen nicht decken, ein Instrument eingesetzt wird, bei dem die Kinder zum Schluss die Gewinner sind; denn ihnen wollen wir es ersparen, in Situationen zu kommen, in denen sie nur leiden.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, für die Fraktion DIE LINKE hat jetzt Frau Reichwaldt das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine kleine Vorbemerkung dazu, warum wir die Diskussion über die Schulstruktur jetzt und an dieser Stelle führen wollen. Ich erinnere an die Steilvorlage der FDP. Über Bildungsqualität reden und Kinder in den Mittelpunkt stellen, das heißt für mich ganz klar: Wir reden über Schulstruktur.

Zu Ihnen, Herr Klare: Ich rede jetzt auch über den freien Elternwillen. Die FDP in Niedersachsen hat auf ihrem Parteitag am 28. November in Wilhelmshaven beschlossen, dass die Eltern für ihre Kinder die weiterführende Schule nicht mehr frei auswählen sollen. Sollte die Grundschule zu einer anderen Einschätzung bezüglich der weiteren Schullaufbahn des Kindes gelangen, müsse ein Eignungstest entscheiden, ob das Kind beispielsweise ein Gymnasium besuchen könne.

Nun erhob sich ob dieses Beschlusses ein vielfältiges Stimmengewirr im Land, recht unharmonisch, alle durcheinander. An einer angeblichen Grundfeste konservativer Schulpolitik war gerüttelt worden, nämlich am freien Elternwillen, und das auch noch von einem Teil der Regierungskoalition, ausgerechnet von der freiheitlich-demokratischen Partei. Der Ministerpräsident stellte dann prompt seine angebliche Grundüberzeugung in dieser Frage infrage. Wer stoppt die Freiheitlichen?

Lassen Sie mich etwas zur Schullaufbahnempfehlung nach der vierten Klasse insgesamt sagen. Sie

ist für mich an dieser Stelle schlicht und einfach pädagogischer Unsinn,

(Beifall bei der LINKEN und bei der SPD)

vor allem in einem Bildungssystem, in dem der Bildungserfolg eines Kindes in so hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängt wie bei uns.

(Zuruf von Ursula Ernst [CDU])

Der freie Elternwille ist in diesem eben nicht gerechten System besser als eine Entscheidung durch die Schulen; denn eines wollen Eltern sicher übereinstimmend: einen möglichst hohen Bildungsabschluss für ihr Kind.

Gibt es den freien Elternwillen überhaupt? Nein. Die Zahl der Anmeldungen bei den Gesamtschulen zeigen ganz deutlich, dass der freie Elternwille für die Landesregierung nicht viel zählt. In Hannover musste jedes fünfte Kind von den IGSen abgewiesen werden, weil die Kapazitäten nicht ausreichen. Wesentlich wichtiger als der freie Elternwille ist der Regierungskoalition der Erhalt des selektiven Schulsystems und damit die Aufteilung von Zehnjährigen auf unterschiedliche Einrichtungen mit unterschiedlichen Zukunftschancen. Wenn die Landesregierung wirklich für einen freien Elternwillen wäre, müsste sie die Hürden für die Gesamtschuleinrichtungen niederreißen und allen Eltern, die ihre Kinder dort hinschicken wollen, den Besuch dieser Schulform ermöglichen.

(Beifall bei der LINKEN)

In Nordrhein-Westfalen wurde der Abiturjahrgang 2009 an den Gesamtschulen genau untersucht. 70 % dieser Abiturienten hatten keine Gymnasialempfehlung und haben es trotzdem geschafft. Ein Drittel davon sind Migranten. An den Gymnasien liegt die Migrantenquote unter den Abiturienten bei nur 14 %. In Niedersachsen ist die Quote höher. Gesamtschulen, die es hier gibt, machen aber die gleichen Erfahrungen wie in Nordrhein-Westfalen.

Die Durchlässigkeit ist in unserem Schulsystem nicht gegeben. Der Bildungsweg nach oben ist dicht. Einmal selektiert bedeutet zementiert. Die Eltern wissen das und schicken ihre Kinder deswegen nicht auf die Hauptschulen. Im aktuellen Schuljahr gab es in Niedersachsen 21,7 % Hauptschulempfehlungen, aber nur 12,4 % Anmeldungen. Sie alle kennen diese Zahlen.

Die Quote der Klassenwiederholungen von unter 5 % zeigt deutlich, dass die Kinder mit der Anmeldung an einer höheren Schule zurechtkommen.

Auch wenn unsere Lehrerinnen und Lehrer in der vierten Klasse nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, eine Aussage über die Zukunft zu machen, bleibt festzuhalten: Sie können das zu diesem Zeitpunkt nur begrenzt zutreffend tun, weil der Zeitpunkt dafür zu früh ist, weil die Kinder sich unterschiedlich entwickeln, weil ihre soziale Herkunft zu unterschiedlich ist. Deshalb brauchen wir ein Bildungssystem, das den Kindern alle Chancen offenhält. Das ist auch der Elternwille.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie den freien Elternwillen jetzt verteidigen wollen, dann setzen Sie ihn auch um und ermöglichen mehr Gesamtschulen in Niedersachsen.

Liebe Kolleginnen und Kollegin von der CDU, stoppen Sie die merkwürdigen „freiheitlichen“ Gedankenspiele Ihres kleineren Koalitionspartners. Zum Schluss noch einmal: Die Linke in Niedersachsen will ein flächendeckendes Angebot an Integrierten Gesamtschulen. Das hat nichts mit Einheitsschule zu tun. Wir wollen eine solche gemeinsame Schule für alle Kinder bis Klasse 10 verwirklichen.

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Klare?

Nein. - Das heißt, das von der FDP in diese Aktuelle Stunde eingebrachte Thema - Vorrang für Bildungsqualität, die Kinder in den Mittelpunkt unseres Schulsystems stellen - zu verwirklichen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, es ist wegen der Zwiegespräche etwas laut. Wenn Sie sich untereinander erst noch unterhalten wollen, kann ich die Sitzung unterbrechen. Wenn Sie wieder bereit sind, der Sitzung zu folgen, sagen Sie Bescheid; dann eröffne ich die Sitzung wieder. - Danke schön.

Der nächste Redner ist Herr Poppe für die SPDFraktion.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines hat die aktuelle Debatte bereits in aller Deutlichkeit gezeigt: In der Bildungspolitik der

FDP und dieser Regierung stehen nicht die Kinder im Mittelpunkt. Im Mittelpunkt stehen vielmehr das Aufrechterhalten von Strukturen, das Aufrechterhalten von Privilegien und der Versuch der Stabilisierung eines gescheiterten Dreiklassenschulsystems.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Vor allem Sie von der FDP, die Ideologien der Zwangseinteilung, haben offenbar längst den Bezug zu der Freiheit, die Sie im Parteinamen tragen, verloren.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Sie sind doch ein Obergymnasialer! Sie müs- sen da vorsichtig sein!)

Herr Försterling hat völlig am Thema vorbeigeredet, und Herr Klare und Herr Schwarz haben Zwangsmaßnahmen pädagogisch verbrämt. Ich frage Sie hier und jetzt: Wollen Sie den Elternwillen einschränken, Ja oder Nein?

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Wollen Sie, Frau Ministerin und Herr Ministerpräsident - wo ist der Ministerpräsident eigentlich bei dieser Debatte über Schulfragen? -, das Niedersächsische Schulgesetz in diesen Punkten ändern, ja oder nein?

(Hans-Werner Schwarz [FDP]: Wir haben gesagt, was wir wollen!)

- In dieser Frage nicht. Deshalb die klare Frage: Soll das Schulgesetz geändert werden, ja oder nein? Sagen Sie es uns doch, Herr Schwarz!

Sie haben auf dem Parteitag in Wilhelmshaven, auf den keiner von Ihnen eingegangen ist, nicht nur die Aushöhlung des Elternwillens beschlossen, sondern neben mancher Leerformel - auch zu BNE - weiter eine Reihe von interessanten Punkten. So fordern Sie die Beitragsfreistellung des ersten und zweiten Kindergartenjahres, die Verbesserung des Betreuungsschlüssels im gesamten Bereich der frühkindlichen Bildung, den Einsatz von Sozialpädagoginnen und -pädagogen in Primarstufen, langfristig aber auch in Haupt- und Realschulen,

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Bestandsschutz für die Vollen Halbtagsschulen,

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

kleinere Klassen, wobei als Zielzahlen Klassenteiler von 18 für Hauptschulen und 24 für Realschulen angegeben werden.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren von der FDP, wenn dies ein Antrag der Linken wäre, würden Sie wohl fragen: Ist denn heute schon Weihnachten?

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)