Protokoll der Sitzung vom 09.05.2008

(Beifall bei der SPD)

Zu einer Kurzintervention auf den Beitrag von Herrn Tanke hat sich jetzt Herr Dr. Sohn von der Fraktion der Linken. Ich erteile ihm das Wort.

Herr Tanke und auch Herr Briese, es macht uns überhaupt keine Bange, dass wir in dieser Position isoliert sind. Wir sind ja, wie Sie wissen, als Partei gegen die aus den anderen vier Parteien bestehende große gemeinsame Koalition zu Hartz IV groß geworden. Unsere Position ist also mehr ein Wachstumshormon.

Herr Briese, ich bin großer Anhänger des Grundgesetzes einschließlich des Artikels 15, um auch das noch einmal zu betonen. Ich bin ein so großer Anhänger dieses Grundgesetzes, dass ich mir ein ähnlich prägnantes und klares Verfassungswerk auch für die Europäische Union wünschen würde. Das ist der Kern der Ablehnungsposition, die Frau Flauger hier formuliert hat. Europa krankt doch nicht an noch einem dicken Schinken von Vertragswerk, das in Europa kein Mensch liest. Europa krankt doch am Fehlen einer wirklichen Verfassungsdiskussion. Die Zustimmung zu diesen Lissabon-Verträgen ist doch das Kneifen vor dieser Verfassungsdiskussion. Das ist der Kernpunkt.

(Beifall bei der LINKEN)

So gewinnen Sie keine Zustimmung zu Europa. Das Kneifen geht weiter. Wenn Herr Wulff diesem Ding im Bundesrat zustimmt, dann wird damit auch die Chance vergeben, gegen dieses unglaubliche EuGH-Urteil in Sachen Rüffert vorzugehen. Da sollte eine Landesregierung doch das Rückgrat haben zu sagen: Europa ja! Aber nicht, wenn auf europäischer Ebene an unseren Parlamenten vorbei solche Urteile kommen. Das muss zunächst einmal auf politischer Ebene diskutiert werden, und dafür brauchen wir andere Vertragsgrundlagen. - Bei dieser ganzen europäischen Diskussion wer

den die Völker nicht mitgenommen. Außerdem findet keine wirkliche Verfassungsdiskussion statt.

(Jörg Bode [FDP]: Über Verfassung sollten Sie lieber nicht reden, Herr Sohn!)

Das brauchen wir.

(Beifall bei der LINKEN)

Zu einer weiteren Kurzintervention hat sich Frau Polat von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gemeldet. Bitte schön!

Herr Präsident! Hier wird europäische Politik anders interpretiert. Wenn wir die Europaskepsis überwinden wollen, müssen wir mit dieser Politik aufhören, europäisch zu reden und national zu blockieren. Hier wurde das Rüffert-Urteil angesprochen. Herr Tanke hat auch vom Mindestlohn gesprochen. Das Rüffert-Urteil haben Sie falsch interpretiert, Frau Flauger. Es ist kein schlechtes Urteil, vielmehr hat die Große Koalition versagt, wie ich leider sagen muss. Wir müssen zunächst einmal auf nationaler Ebene unsere Hausaufgaben machen. Aus dem Urteil geht ja hervor, dass wir es schaffen müssen, bestimmte Tarifverträge für allgemein verbindlich zu erklären.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Wir können nicht zulassen, dass viele Menschen vollzeitbeschäftigt sind und dennoch unter Tarif bezahlt werden. Wir brauchen einen Mindestlohn. Also müssen wir unsere Hausaufgaben zunächst einmal auf nationaler Ebene machen. Danach können wir auch die Europaskepsis überwinden. Das aber ist kein europäisches Problem.

Um jetzt auch die Linke mit ins Boot zu nehmen, möchte ich noch Folgendes ergänzen. Denn gerade die Linke - - -

(Anhaltende Unruhe)

Frau Polat, ich muss Sie kurz unterbrechen. - So geht es nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten. Geben Sie Frau Polat jetzt noch 20 Sekunden Zeit, damit sie sich äußern kann.

Dort, wo wie z. B. in Berlin die Linkspartei mitregiert, werden für die Bewachung landeseigener Gebäude weiterhin 5,30 Euro pro Stunde gezahlt. An diesem Beispiel zeigt sich doch die Widersprüchlichkeit dieser Partei.

(Beifall bei den GRÜNEN - David McAllister [CDU]: Was? Herr Sohn, wo bleibt die Revolution?)

Jetzt hat sich der Herr Ministerpräsident zu Wort gemeldet. Herr Ministerpräsident, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Landesregierung bedankt sich ausdrücklich für die Unterstützung durch CDU, FDP, SPD und Grünen in der Frage der Ratifizierung der Lissabon-Verträge. Ich gehe davon aus, dass es eine breite Mehrheit geben wird. Das wird auch ein Signal an Länder wie Irland sein, den LissabonVertrag ebenfalls zu ratifizieren; denn er bringt Verbesserungen für Europa. Meines Erachtens wird es einer eigenen Diskussion bedürfen, um so manche krause Vorstellung aufseiten der Linkspartei zu widerlegen. Man spürt bei jedem Ihrer Beiträge einen europaskeptischen Ansatz.

(Beifall bei der CDU)

Vor allem spürt man, dass Sie mit dem Thema der Gewaltenteilung große Probleme haben. Zu unseren Vorstellungen von parlamentarischer Demokratie gehört, dass es Parlamente gibt, dass es Regierungen gibt und dass es unabhängige Gerichte gibt. Sie aber haben offenkundig die Vorstellung, dass alles, was Sie als Partei wollen, gut ist, und dass alles, was andere wollen, schlecht ist. - Das aber ist nicht unsere Vorstellung von Gesellschaftspolitik.

(Beifall bei der CDU)

Ich bin ein bisschen ratlos in der Frage, wie wir es schaffen wollen, die Begeisterung für Europa aufrechtzuerhalten. Die Wahlbeteiligung bei Wahlen zum Europäischen Parlament sinkt seit 30 Jahren kontinuierlich. Das Thema Europa ist vielen nicht so gegenwärtig, wie wir uns das alle wünschen. Wenn ich mit Schulklassen diskutiere, muss ich jedes Mal hören, dass Geschichten über den Mauerbau oder den Mauerfall für junge Leute Geschichten von Opa am Kamin sind. Ein 25-Jähriger

hat überhaupt keine Erinnerung an die Mauer. Im Zweifel wird er denken, dass dies eine Mauer gewesen ist, wie es sie zwischen zwei Grundstücken gibt. Dass es dort aber Stacheldraht, eine Sperrzone und Selbstschussanlagen gab, dass dort Menschen in ihrer Freizügigkeit behindert worden sind und nicht von A nach B, nicht von Ost nach West reisen konnten, können junge Leute heute glücklicherweise aber nicht mehr so ohne Weiteres wissen. Sie können sich gar nicht vorstellen, welches Unrechtsregime auf europäischem Boden nur ein paar hundert Kilometer von hier sein Unwesen über Jahrzehnte hinweg treiben konnte.

(Beifall bei der CDU und Zustimmung von Dr. Philipp Rösler [FDP])

Die Gründerinnen und Gründer des Landes Niedersachsen hätten sich vor 60 Jahren nicht träumen lassen, dass bei einer Debatte über diesen Fortschritt europäischer Einigung mit einem freiheitlichen, einem friedlichen, einem demokratischen Europa, in dem wir von Freunden umringt sind, so gut wie kein Pressevertreter auf der Pressetribüne anwesend ist und dass dieses Thema so gut wie keine öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Das hätte sich damals niemand träumen lassen, weil das für die Menschen seinerzeit revolutionär war. Vor hundert Jahren sind Leute gegen Frankreich in den Krieg gezogen. Von diesen Leuten hat kaum einer einen Franzosen gekannt. Heute hingegen kennt jeder junge Mensch Engländer, Franzosen, Afrikaner oder auch Südamerikaner. Wir leben heute in einer globalen Welt. Deshalb gilt die Gefährdung des Friedens in Europa nicht mehr als akutes Problem. Aber immer dann, wenn man etwas für selbstverständlich hält, kann es gefährdet sein. Deshalb mache ich mir Sorgen über das abnehmende Interesse an Europa.

(Beifall bei der CDU und Zustimmung von Dr. Philipp Rösler [FDP])

Die Befähigung für dieses Europa vieler Sprachen, vieler Kulturen, vieler Religionen und vieler Herkünfte kann nur der Bereich der Bildung sein. Wir müssen damit aufhören, junge Leute zu vernachlässigen. Zu Ihrer Zeit, Herr Tanke, der Sie eben ja so eine selbstgerechte Rede gehalten haben, haben noch 10 % eines Jahrgangs in Niedersachsen ohne Abschluss die Schule verlassen. Das war ein Skandal, den man eher bei Entwicklungsländern hätte vermuten können.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Es beschämt mich persönlich als Ministerpräsident, dass Sie sich hier so oberlehrerhaft hinstellen und sagen, wir bräuchten streitige Debatten, sich aber bei Herrn Wenzel danach erkundigen müssen, was ich gerade gesagt habe, weil Sie gar nicht zugehört haben. Das ist meiner Meinung nach empörend für junge Leute, die dieser Debatte folgen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wenn wir hier eine streitige Debatte über Europa führen, höre ich immer sehr genau hin, ob diese Debatte überhaupt wirklich gewollt ist. Ich habe den Eindruck, dass Sie hier nur Ihre Thesen vorlesen und sagen: Das ist es gewesen. - Wir aber wollen hier eine Debatte darüber führen, was wirklich für Europa befähigt. Das sind die Bildung, die frühkindliche Förderung, die Vermeidung von Schülern ohne Abschluss, die Verbesserung unserer Hauptschulen, die Verbesserung unserer Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen, die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung, die Mehrsprachigkeit und bilinguale Zweige. Dieses Konzept ist, glaube ich, die beste Vorsorge für Europa.

(Beifall bei der CDU)

Wir müssen eine streitige Debatte über die Frage führen - dafür wird die Zeit jetzt nicht ausreichen; wir sollten aber einmal eine Europadebatte führen -, wie wir es schaffen, dass Deutschland seine Entwicklungschancen in Europa behält. Wir geben Fragen, die nach Europa gehören, nach Europa ab: Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Terrorismusabwehr und anderes, was globale Gefahren betrifft. Wir müssen aber auch fragen, wo es nationale und auch deutsche Sonderwege geben kann: beim VW-Gesetz, beim Vergabegesetz, bei FFH oder Vogelschutz. Wollen wir einen Kündigungsschutz wie in Dänemark? Oder wollen wir wie andere Länder eine Mehrwertsteuer von 26 %? - Es ist gut, dass es Möglichkeiten gibt, nationale Standortpolitik zu betreiben.

Dass heute 19 % aller Maschinen und Anlagen der Welt von deutschen Herstellern vertrieben werden, dass also ein Land mit 82 Millionen Einwohnern die Erde mit 7 Milliarden Menschen zu einem Fünftel mit Maschinen und Anlagen versorgt, zeigt die Leistungsfähigkeit des Standorts Deutschland. Diesen Standort weiterentwickeln zu dürfen, ohne dass alle Fragen von Brüssel aus zentralistisch geregelt werden, ist uns ein Anliegen. Man muss trennen, was europäisch entschieden werden muss und was weiterhin national zu entscheiden

ist. Darüber können wir sehr wohl auch im Vorfeld der Europawahl streiten.

Mit dem EU-Projekttag am 6. Mai dieses Jahres war ich sehr zufrieden. Daran haben immerhin 17 Mitglieder des Landtags sowie zahlreiche Mitglieder der Landesregierung, des Bundestags und des Europäischen Parlaments mitgewirkt. Wir sind in Schulen gegangen und konnten dort feststellen, für wie selbstverständlich das freiheitliche Europa inzwischen gehalten wird. Unsere entsprechenden Anstrengungen müssen wir intensivieren.

Allerdings sind die Räume des EIZ angemessen. Es ist dort gut untergebracht.

(Detlef Tanke [SPD]: Anscheinend waren Sie lange nicht dort!)

Kein anderes Bundesland in Deutschland macht eine solche Informationsarbeit über Europa wie Niedersachsen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Das hat der Landtag mit den Stimmen der Sozialdemokraten mehrfach festgestellt. Wir sind mehrfach ausgezeichnet und belobigt worden. Bis auf den Landesrechnungshof sagen alle Beteiligten: Was Niedersachsen hier tut, ist vorbildlich. - Kein anderes Bundesland hat solche Räume wie Niedersachsen mit seinem Europäischen Informations-Zentrum.

(Detlef Tanke [SPD]: Wollen wir gleich einmal dorthin gehen?)

- Das gehört zu meinem Zuständigkeitsbereich. Sie müssen nicht immer so belehrend auftreten. Sie dürfen unterstellen, dass nicht nur Leute durch die Gegend laufen, die halb so viel wissen wie Sie.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Ministerpräsident, Frau Polat würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?

Ich habe noch nie eine Zwischenfrage von Frau Polat nicht zugelassen.

Herr Ministerpräsident, welche Gründe haben Sie dazu bewogen, das Europäische InformationsZentrum nicht in der Mitte Niedersachsens an einem zentralen Punkt in der Landeshauptstadt Hannover zu verorten? Dort stehen nämlich größe