Protokoll der Sitzung vom 17.04.2013

Der Staatsgerichtshof genießt aufgrund seiner konsistenten Rechtsprechung landesweit und parteiübergreifend hohes Ansehen. Die Bekanntheit des Staatsgerichtshofs und seine Verankerung im öffentlichen Bewusstsein werden freilich nicht allein durch die Qualität und die Überzeugungskraft seiner Entscheidungen geprägt, sondern gleichermaßen durch den Umfang der dem Gericht zugewiesenen Aufgaben. Dabei möchte ich, um Missverständnissen vorzubeugen, vorausschicken, dass das öffentliche Bewusstsein von der Existenz und der Stellung des Staatsgerichtshofes nun gar nichts mit der Eitelkeit oder dem Sendungsbewusstsein seiner Mitglieder zu tun hat. Beides entspräche nicht dem Gebot richterlicher Zurückhaltung. Mir geht es bei diesem Thema deshalb ausschließlich um die identitätsstiftende Funktion unserer Landesverfassung, um die Kontrolle staatlicher Machtausübung und um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes.

Bei einer vergleichenden Betrachtung des Verfassungsrechts der Länder ist der Aufgabenkatalog des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs bislang eher begrenzt. Mit Ausnahme der kommunalen Verfassungsbeschwerde, die im Jahre 1993 neu in das Landesverfassungsrecht eingefügt wurde und zahlreiche wegweisende und bundesweit beachtete Entscheidungen insbesondere zum kommunalen Finanzausgleich hervorgebracht hat, beschränken sich die Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs im Wesentlichen auf das Staatsorganisationsrecht und die Klärung von Rechtsstreitigkeiten zwischen den Verfassungsorganen. Die Folge ist, dass der Staatsgerichtshof seit Inkrafttreten der neuen Landesverfassung im Jahre 1993 bislang erst 69 Entscheidungen getroffen hat, durchschnittlich also 3,5 pro Jahr. Schon an diesen Zahlen kann man erkennen: „Da geht noch was“!, ohne nun gleich die Frage der Überlastung stellen zu müssen.

(Heiterkeit)

Ein strukturelles Defizit im Rechtsschutzsystem des Staatsgerichtshofs ist aus meiner Sicht - ich

freue mich, dass wir, mein Amtsvorgänger und ich, insoweit Übereinstimmung haben - das Fehlen der individuellen Verfassungsbeschwerde, die inzwischen in 10 der 16 Bundesländer zur festen Verfassungspraxis gehört. Es ist nicht recht einzusehen, weshalb ein Gastwirt, der das Niedersächsische Nichtraucherschutzgesetz für verfassungswidrig hält, diese Frage dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorlegen muss oder warum ein großes niedersächsisches Drogerieunternehmen, das sich gegen die neuen Rundfunkbeiträge wenden will, eine Popularklage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof anhängig machen muss. So ist es aber geschehen, und die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

Die Niedersächsische Landesverfassung hat einen umfangreichen Grundrechtskatalog, der über den des Grundgesetzes noch deutlich hinausgeht. Grundrechte entfalten aber erst dann ihre volle Normativität, wenn sich der Bürger auf sie berufen und sie vor einem eigenen Verfassungsgericht einklagen kann. Mir ist selbstverständlich bewusst, dass die Diskussion über die Einführung einer Verfassungsbeschwerde in Niedersachsen bislang kontrovers geführt worden ist, auch gerichtsintern; davon war schon die Rede.

Natürlich räume ich ein, dass es gute Gegenargumente gibt, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Das wohl gewichtigste ist, dass der Grundrechtsschutz beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bislang in guten Händen gewesen ist. Wohl wahr! Allerdings muss man sehen, dass das Bundesverfassungsgericht mit inzwischen über 6 000 Verfassungsbeschwerden pro Jahr immer mehr an seine Grenzen stößt. Deshalb ist in den letzten Jahren die Gefahr enorm gestiegen, dass unter der Masse der Verfahren auch solche Streitsachen im Vorfeld des Annahmeverfahrens beim Bundesverfassungsgericht hängenbleiben, die für die Weiterentwicklung des niedersächsischen Landesrechts wichtig sind und einer Klärung bedürfen.

Der Gesetzgeber sollte daher meines Erachtens noch einmal über das Pro und Kontra einer Landesverfassungsbeschwerde nachdenken. Schließlich wird erst durch die Eröffnung eines adäquaten Rechtsweges aus einem zunächst nur objektiv verbürgten Grundrecht ein voll wirksames subjektives öffentliches Recht.

Mit der Verfassungsbeschwerde für jedermann würde sich aber nicht nur eine Rechtsschutzlücke schließen, es würde gleichzeitig das öffentliche Bewusstsein von den Werten und Normen unserer

Landesverfassung gestärkt und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Funktionsfähigkeit der dritten Gewalt gefestigt. Aus dem Staatsgerichtshof könnte auf diese Weise noch viel stärker als bisher ein Bürgergericht werden.

Meine Damen und Herren, stellvertretend für alle Richterinnen und Richter des Staatsgerichtshofes in seiner künftigen Besetzung darf ich Ihnen wie den Bürgerinnen und Bürgern des Landes Niedersachsen versichern, dass der Staatsgerichtshof auch künftig seine Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen zum Wohle unseres Landes wahrnehmen wird.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Starker Beifall)

Herr Dr. van Nieuwland, auch Ihnen herzlichen Dank für Ihre Ausführungen. Wir wünschen Ihnen und allen Mitgliedern des Staatsgerichtshofs ein gerechtes und erfolgreiches Wirken zum Wohl des Landes Niedersachsen und seiner Bevölkerung. Wenn ich gehört habe, dass es über die Jahre hinweg im Durchschnitt 3,5 Verfahren pro Jahr gab, dann spricht das auch ein bisschen für die Qualität der Gesetzgebung durch diesen Landesgesetzgeber. Die 3,5 hatten es allerdings meistens richtig in sich; das geben wir auch zu.

Das Thema ist gestellt. Wir warten, wie die Diskussion verläuft. Noch einmal Ihnen allen ein ganz, ganz herzliches Dankeschön, Herr Professor Ipsen und Herr Dr. van Nieuwland! Besten Dank!

(Beifall)

Meine Damen und Herren, wir sind mit leichter Zeitüberschreitung am Ende der Vormittagssitzung angekommen. Wir sind mit den Parlamentarischen Geschäftsführern übereingekommen, dass wir die Nachmittagssitzung nicht um 15 Uhr, sondern um 15.15 Uhr beginnen. Das dürfte dann für alle passen. Ich danke schön und unterbreche die Sitzung.

(Unterbrechung der Sitzung von 13.37 Uhr bis 15.15 Uhr)

Meine Damen und Herren! Wir fahren mit der für die Mittagspause unterbrochenen Plenarsitzung fort. Ich rufe auf den

Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung: Änderung der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtages - Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/78

Im Wesentlichen geht es in diesem Antrag um § 18 b. Das wird aber gleich noch durch die Antragsteller erläutert.

Zur Einbringung des Antrages hat sich von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Polat zu Wort gemeldet, der ich das Wort erteile. Bitte schön, Kollegin Polat!

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen mit dem Ihnen vorliegenden Antrag die Kommission für Migration und Teilhabe neu ausrichten: mehr Mitbestimmung, klare Voten und Erweiterung der Zusammensetzung.

CDU und FDP haben vor zehn Jahren den ersten gemeinsamen Vorstoß der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für mehr Mitbestimmung der Vertreterinnen und Vertreter der damaligen Ausländerkommission abgelehnt. Heute laden wir Sie ein, das Einstimmigkeitsprinzip in der Kommission Geschichte werden zu lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Die Kommission kann zukünftig mit einfacher Mehrheit Entscheidungen treffen und Empfehlungen geben. Gehen Sie mit uns im Niedersächsischen Landtag einen wesentlichen Schritt zur aktiven Gestaltung der Migrationsgesellschaft!

Obwohl sich die externen Vertreterinnen und Vertreter in vielen Punkten zu Fragen der Migration einig waren, gab es oftmals ein ablehnendes Votum der Kommission. Das war demotivierend und frustrierend, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, so geht man nicht mit Bürgerinnen und Bürgern um, die sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich für unsere Migrationsgesellschaft einsetzen. Wir wollen das ändern. Wir wol

len echte Teilhabe auf Augenhöhe mit dem Parlament, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Die Kommission wird öffentlich tagen. Das ermöglicht unseren Bürgerinnen und Bürgern und insbesondere Schülerinnen und Schülern sowie Studentinnen und Studenten die Möglichkeit, parlamentarische Arbeit auf andere Weise kennenzulernen. Ich finde, das ist ein Beitrag zur gelebten Demokratie.

Die Kommission soll sich als Denk- und Ideenwerkstatt weiterentwickeln. Die Mitglieder der Fachausschüsse sind eingeladen, die Expertise der Vertreterinnen und Vertreter der Kommission einzuholen. Die Fraktionen haben die Möglichkeit, Anregungen und Kritik zu ihren Anträgen zu bekommen, genauso wie es Stellungnahmen zu Initiativen der Landesregierung geben wird.

Meine Damen und Herren, wer sitzt in der Kommission? - Neben den Fraktionsmitgliedern werden wieder Vertreterinnen und Vertreter von landesweit tätigen Verbänden der Migrantinnen und Migranten in der Kommission mitarbeiten. Wir wollen zukünftig aber auch die Expertise der Wohlfahrtsverbände und der Wissenschaft in der Kommission berücksichtigen. Und wir werden die unabhängige Beauftragte für Migration und Teilhabe mit ihrer Expertise zur Kommission dazuladen.

Erstmalig - das ist uns besonders wichtig - wollen wir eine Vertreterin oder einen Vertreter der Sinti und Roma berufen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Zuwanderung von Roma und Sinti aus Osteuropa und den Balkanländern ist ein wichtiges Thema auch der kommenden Jahre, genauso wie in diesem Zusammenhang der zunehmende Antiziganismus und der wachsende Rassismus und Rechtspopulismus in unserer Gesellschaft und in ganz Europa.

Meine Damen und Herren, ich zitiere:

„Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und verfolgt worden ist, heute, im 21. Jahrhundert, immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird.“

Dies sagte vor anderthalb Jahren Zoni Weisz, der zum ersten Mal anlässlich des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus als Sinto im Bundestag reden durfte. Zoni Weisz

sprach von einem vergessenen Holocaust an seinem Volk und klagte gleichzeitig über die anhaltende Diskriminierung seines Volkes, meine Damen und Herren. Wir wollen den Sinti und Roma eine Stimme in diesem Parlament geben - nicht nur einmal, sondern so oft sie wollen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Polat, für die Einbringung. - Im Rahmen der Beratung hat das Wort nun der Kollege Jens Nacke von der CDU-Fraktion. Bitte schön!

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht eine Vorbemerkung: Es ist in diesem Hause eine gute Tradition, dass wir Fragen der Geschäftsordnung und Fragen, die die Arbeit des Parlaments und auch die Rechtsstellung der Abgeordneten betreffen, in der Regel vorab im Austausch miteinander besprechen. Ich hätte es gut gefunden, wenn wir auch jetzt Gelegenheit gehabt hätten, den Inhalt des Antrags schon im Vorfeld miteinander zu erörtern. Dass Sie dieses Vorhaben planen, war ja - - -

(Zuruf von Ulrich Watermann [SPD])

- Herr Kollege Watermann, genau so ist es.

(Ulrich Watermann [SPD]: Ich kann mich noch daran erinnern, dass es genau so nicht war!)

Ich möchte an dieser Stelle gerne noch etwas ausführen. Ich hätte es gut gefunden, wenn das vorher geschehen wäre. Denn dann hätten wir die öffentliche Debatte, die wir jetzt hier beginnen - wir haben ja noch Gelegenheit, uns entsprechend auszutauschen -, möglicherweise zum Teil schon im Vorfeld abräumen können.

Natürlich verfolgt der Antrag ein lobenswertes Ziel, nämlich ein Forum für die Teilhabe und Beteiligung von Migranten zu schaffen. Das war schon immer Sinn und Zweck dieser Kommission mit ihren unterschiedlichen Bezeichnungen. Das ist eine gute Einrichtung dieses Parlaments.

Die Veränderungen, die Sie jetzt vorhaben, erinnern aber doch ein wenig daran: Gut gemeint, aber eben nicht gut gemacht. Ich werde Ihnen kurz aus

führen, warum ich zu dieser Auffassung gelangt bin.