Protokoll der Sitzung vom 12.09.2019

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor fast 30 Jahren haben die Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention verabschiedet, um die Situation von Kindern weltweit zu verbessern. Sie enthält fundamentale Rechte, die wirklich jedem Kind zustehen, damit seine Menschenrechte gewahrt werden können. Auch die Bundesregierung hat sich dazu verpflichtet. Aber in Deutschland besteht noch immer ein Defizit in der Umsetzung. Das sehen wir in der Verwaltung und in der Gesetzgebung; die Kollegen haben das angesprochen.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Unrecht, das Kindern zustößt, und dem Umstand, dass Kinderrechte einfach noch nicht gesellschaftlich etabliert sind. Der direkte Weg für die Umsetzung der Kinderrechte ist die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Bis heute ist nichts passiert, und auch auf der Landesebene haben wir noch einige Arbeit vor uns.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Aktuelle Stunde der CDU sollten wir zum Anlass nehmen, in eine Diskussion einzusteigen - denn die ist längst überfällig -, wie wir den Kinderschutz konsequent umsetzen. Und zwar nicht mit Einzelmaßnahmen wie eine Kinderschutzkommission einzurichten ohne ihr Geld zur Verfügung zu stellen oder, was Rumänien angeht, einen Ab- - - Beinahe hätte ich „Abschiebestopp machen“ gesagt.

(Zustimmung bei der AfD)

- - - die Verbringung von Kindern nach Rumänien erst einmal zu unterbinden. Nein! Wir brauchen eine umfassende Diskussion!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir sind immer wieder unterrichtet worden. Wir haben die Anhörung zum Fall Lügde hinter uns. Zwischenzeitlich sind einzelne Straftäter zu hohen Haftstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Aber unabhängig davon, dass Kinder weiterhin Opfer von Gewalt und Unrecht werden, sind die Kinder, die Opfer solcher Gewalt wurden, traumatisiert und schwer belastet. Diese Menschen, denen als Kinder und Jugendlichen so schweres Unrecht widerfahren ist, sind diejenigen, die jetzt umfassende Hilfe und Unterstützung brauchen.

Auch wenn einzelne Straftäter verurteilt wurden, ist es damit nicht getan. Seien wir doch mal ehrlich: Ganz viele Fragen sind offen!

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der AfD)

Jahrelanges Versagen im Bereich des Kinderschutzes! Nicht geklärt ist, warum man Kinder auf einen Campingplatz in Pflege gegeben hat und warum die Gewalt, die ihnen angetan wurde, über Jahre unentdeckt blieb. Was für Strukturen sind das, die dahinterstehen?

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der AfD)

Wir müssen nach diesen schlimmen Vorfällen klären, wie eine kindgerechte Justiz aussieht und wie wir zukünftig mit den Opfern sexueller Gewalt umgehen wollen. Ich fand, die Richterin in NRW hat das auf den Punkt gebracht, als sie sagte: Das ist kein Einzelfall - vielleicht doch in dieser Dimension -, aber unsere Strukturen gehören auf den Prüfstand!

Klar ist, dass wir uns enger vernetzen und wir uns wirklich mit den unterschiedlichen Formen der Kindeswohlgefährdung auseinandersetzen müssen. Dazu gehört eine umfassende Analyse der Schnittstellen zwischen Land und Kommunen und der Schwächen dieser Schnittstellen. Kindeswohl muss zukünftig stärker im Mittelpunkt aller Entscheidungen über Pflege und Sorgerecht stehen.

Der nächste Fall beschäftigte uns in den letzten zehn Tagen; auch er wurde hier schon angesprochen: Maramures, Rumänien. Den Fall kannten wir seit 2010; einige hatten ein Déjà vu. Auch die Fragen, die damals im Raum standen, wurden in den letzten zehn Jahren nicht ausreichend abgearbeitet und bearbeitet. Bis heute fehlt immer noch der Kontakt. Ich frage mich, wie das passieren kann - mitten in Europa!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wissen bis heute auch nicht, wie viele Jugendliche aus Niedersachsen im Rahmen der Erziehungshilfe im europäischen Ausland und in sonstigen Ländern untergebracht sind. Es gibt keinen klaren Rechtsrahmen, es gibt keine Meldepflicht! Das alles kann nicht wahr sein! Jetzt telefoniert man mühselig Jugendamt für Jugendamt ab, um irgendwie Daten zusammenzukriegen. Es müsste aber Standard sein, dass ein Landesjugendamt und wir als Land Bescheid wissen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das sind unhaltbare Zustände, die der Aufklärung im Wege stehen und den Kinderschutz verhindern.

Ein Satz noch zu dem Verein Wildfang, bei dem seit Jahren offenbar Rechtsradikale als Pädagogen eingesetzt werden, die beispielsweise mit 40 km langen nächtlichen Gewaltmärschen und anderen fragwürdigen Methoden versuchen, schwierige Jugendliche zu demütigen - ich nenne es: zu brechen.

Wir müssen den Verfassungsauftrag mit Leben füllen!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich erinnere an den Sonderausschuss zu den Patientenmorden in Delmenhorst und Oldenburg. Wir müssen die strukturellen Ursachen des Versagens anpacken. Das müssen wir gründlich aufarbeiten.

Es reicht nicht, sich für eine Kinderschutzbeauftragte auf Landesebene auszusprechen. Wir müssen deshalb über einen Sonderausschuss „Kinder

schutz“ diskutieren. Wir müssen ihn einsetzen, anstatt viele kleine Einzelmaßnahmen auf den Weg zu bringen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Sylvia Bruns [FDP])

Lassen Sie uns gemeinsam für den Sonderausschuss „Kinderschutz“ streiten, damit wir wirklich aufarbeiten und neue Strukturen zum Schutze unserer Kinder auf den Weg bringen!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Für die Landesregierung hat nun Frau Justizministerin Havliza das Wort. Bitte, Frau Ministerin!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Toepffer hat recht: Am vergangenen Donnerstag ist die juristische Aufarbeitung der Missbrauchsfälle von Lügde vorläufig zum Abschluss gekommen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Das Landgericht Detmold hat die Angeklagten zu 13 bzw. 12 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Was die Männer den 24 Mädchen und 8 Jungen körperlich und psychisch angetan haben, ist nicht in Worte zu fassen. Das maße ich mir auch gar nicht an. Es ist für uns alle unvorstellbar. Die Betroffenen werden ihr Leben lang mit den Folgen zu kämpfen haben; das ist uns allen klar.

Wir schulden den Betroffenen nun jede Hilfe, die sie benötigen, und wir schulden ihnen, dass aus den Fehlern Lehren gezogen werden und dass es ein solch katastrophales Versagen staatlicher Institutionen möglichst nicht mehr geben kann.

Es ist daher zu begrüßen, dass das niedersächsische Sozialministerium bereits eine Untersuchung im Jugendamt Hameln-Pyrmont eingeleitet hat und dem Amt eine Beratungsstruktur zur Verfügung stellt. Das ist ein erster Schritt - ein guter, aber wirklich nur ein erster. Weitere müssen folgen. Um zu verhindern, dass Derartiges in irgendeinem Jugendamt in Niedersachsen noch einmal vorkommt, brauchen wir über den Einzelfall hinausgehende Erkenntnisse.

(Unruhe)

Einen Moment, bitte, Frau Ministerin! - Herr Bode, es wäre wirklich gut, wenn Sie die Beratungen an der Regierungsbank einstellen. - Vielen Dank.

Bitte, Frau Ministerin!

Ich bin daher dankbar für den Vorstoß der Regierungsfraktionen, die Bildung einer Kommission beim Landespräventionsrat anzuregen, die genau dies tun soll: eine Analyse der staatlichen Jugendhilfe im Hinblick darauf, wo systemimmanente, systemische Mängel bestehen. Danach sollen möglichst schnell praxisnahe Empfehlungen formuliert werden, auf deren Umsetzung wir dann gemeinsam drängend hinwirken müssen.

Meine Damen und Herren, diese Kommission ist bereits auf dem Weg. Der Vorstandsbeschluss des LPR ist gefasst, eine Lenkungsgruppe eingesetzt, und der designierte Leiter steht in den Startlöchern. Es handelt sich um einen ehemaligen Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und renommierten Familienrechtsexperten, der bereits bei der sogenannten Staufen-Kommission mitwirkt.

Anders als von der AfD-Fraktion soeben dargestellt, ist es nicht richtig, dass die Finanzierung nicht feststehe, also nicht von uns auf den Weg gebracht worden sei. Für das Jahr 2019 - ab Oktober - werden die Ressorts MS und MJ die Finanzierung sicherstellen, und mit dem Finanzministerium besteht Einigkeit, dass der entsprechende Betrag in den Haushalt 2020 eingestellt wird, über den das Plenum am Ende zu entscheiden hat.

Die Kommission soll im Oktober dieses Jahres starten und bis Ende kommenden Jahres ihre Resultate vorlegen. Selbstverständlich bleibt die Landesregierung bis dahin nicht untätig. Das Sozialministerium hat zusätzliche Fortbildungsangebote für die Jugendämter initiiert und eine Fachtagung speziell zum Thema Lügde anberaumt. Zudem hat das Haus von Frau Kollegin Reimann die Ressorts zur Mitwirkung an der Kinderschutzstrategie des Landes eingeladen und arbeitet parallel an der Entwicklung eines Gesamtkonzepts der Kinder- und Jugendhilfe.

Die mögliche Einsetzung eines Kinderschutzbeauftragten im Sozialministerium wird derzeit dahin gehend geprüft, ob und unter welchen Bedingungen eine solche Funktion echten Mehrwert hätte. Um Kinderrechten in unserer Gesellschaft zur Geltung zu verhelfen, braucht es ohnehin mehr als

einen Beauftragten, braucht es uns alle, und zwar an vorderster Stelle. Ich hoffe, dass es uns mit der Informationsoffensive des Landes „Kinderschutz geht alle an!“ gelingt, viele Menschen gezielt für das Thema zu sensibilisieren. Außerdem muss jedes Kind und jeder Jugendliche wissen, wer in Notsituationen als Ansprechpartner für sie da ist.

Niedersachsen wird alle gesetzgeberischen Initiativen engagiert unterstützen, mit denen der Schutz der Kinder verbessert werden kann. Aktuell findet dazu ein Dialog zur Reform des Sozialgesetzbuchs VIII statt, der voraussichtlich zum Ende des Jahres in ein Gesetzgebungsverfahren münden wird.

Meine Damen und Herren, ein weiteres Thema aufseiten des Gesetzgebers ist die Frage einer möglichen Ausweitung oder Abschaffung von Verjährungsfristen für Missbrauchstaten zum Nachteil von Kindern. Das ist gerade sowohl von der CDU- als auch von der SPD-Fraktion angesprochen worden.

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung stellen einen massiven Eingriff in die Intimsphäre des Opfers dar. Das Opfer hat daher auch nach langer, sehr langer Leidenszeit ein besonderes und berechtigtes Interesse daran, dass der Täter noch zur Verantwortung gezogen werden kann. Hinzu kommt, dass die Betroffenen häufig erst nach der Aufarbeitung oder am Ende familiärer oder altersbedingter Abhängigkeiten die Kraft und die Möglichkeit finden, diese Taten anzuzeigen.

Der Gesetzgeber muss aufgrund dieser Besonderheiten gewährleisten, dass eine Ahndung auch nach langer Zeit noch möglich ist. Die Verjährungsvorschriften bei Missbrauchstaten sind deshalb im Januar 2015 ausgeweitet worden. § 78 b des Strafgesetzbuchs sieht seither vor, dass die Verjährung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers ruht; Kollegin Osigus hat das gerade ausgeführt. Ob über diese Regelung hinaus ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht, sollte wohlüberlegt werden, zumal die Unverjährbarkeit eine absolute Ausnahme im deutschen Strafrecht darstellt, die bislang allein dem Mord als schwerstem aller Delikte vorbehalten ist. Auch das hat Kollegin Osigus bereits erwähnt.

Es gibt insgesamt gute Gründe für Verjährungsfristen, auch über den Rechtsfrieden hinaus. So schwindet beispielsweise - das gebe ich immer zu bedenken - mit den Jahren die Qualität der Beweismittel. Zeugen erinnern sich etwa nicht mehr so gut, sodass die Gefahr unrichtiger oder nur

noch schwammiger Aussagen und damit die Gefahr von Fehlurteilen - eben auch unberechtigter Freisprüche - wächst. Auch das wäre eine Wiederholung von Leiden.

Wir werden uns die Zeit nehmen, alle Argumente sehr gründlich - sehr gründlich! - abzuwägen. Für eine Gesetzesänderung wäre ohnehin der Bundesgesetzgeber zuständig. Eine entsprechende Initiative aus den Ländern soll möglicherweise nach diesen gründlichen Überlegungen gestartet werden; aus den Ländern können ohnehin lediglich Initiativen dazu kommen.

Ein weiteres Thema ist die seit Langem im Bundesministerium liegende Reform des Sexualstrafrechts. Auch die gilt es erst einmal abzuwarten. Seit geraumer Zeit bitten die Justizminister der Länder den Bund, eine entsprechende Reform zu erwägen. Der Kommissionsbericht umfasst mehr als 1 500 Seiten, sodass auch da alles gründlich auf dem Prüfstand steht. Dazu gehören auch die angesprochenen Verjährungsfristen.