Protokoll der Sitzung vom 23.10.2019

Jede Form von Antisemitismus ist menschenverachtend. Ihm gegenüber darf es keine Toleranz geben. Der entschlossene Kampf gegen Antisemitismus ist nicht nur eine Lehre aus unserer Geschichte. Es ist ein Gebot der Verantwortung für unsere Demokratie.

(Lebhafter Beifall)

Verehrte Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie nun, sich zum Gedenken an die Opfer des Anschlages und als Zeichen der Verbundenheit mit jüdischen Bürgerinnen und Bürgern zu erheben.

Der Niedersächsische Landtag trauert um die Toten. Wir sind in Gedanken bei den Hinterbliebenen und bei den Verletzten - den körperlich und seelisch Verletzten. Unser Herz ist bei unseren jüdischen Bürgerinnen und Bürgern. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dafür stehen wir ein.

Ich danke Ihnen.

Jetzt rufe ich vereinbarungsgemäß zur gemeinsamen Beratung auf

Tagesordnungspunkt 2: Erste und abschließende Beratung: Solidarität mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern! - Resolution gegen Antisemitismus - Antrag der Fraktion der AfD -

Drs. 18/4820

Tagesordnungspunkt 3: Erste und abschließende Beratung: Terrorangriff in Halle - Antisemitismus und allen weiteren Formen von Menschenverachtung entschieden entgegentreten! - Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion der CDU, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 18/4845

Zur Einbringung des Antrags der Fraktion der AfD erteile ich Herrn Abgeordneten Wichmann das Wort. Bitte!

Hachajim hajehudim schahahim legermanja - lelo safeq! Jüdisches Leben gehört zu Deutschland - ohne Wenn und Aber!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei den Verbrechen von Halle sind zwei Menschen brutal ermordet worden; mehrere wurden zum Teil schwer verletzt. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei den Opfern und bei deren Angehörigen.

Es ist nur einer Tür, die zufällig dem Beschuss standhält, zu verdanken, dass an diesem Tag nicht ein Blutbad in einer Synagoge angerichtet wurde. Ja, man wird fragen dürfen und müssen, warum die Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, nicht besser geschützt war.

Aber die erste und wichtigste Reaktion muss eine andere sein. Die erste Reaktion muss eine deutliche, laute und klare Botschaft an unsere jüdischen Mitbürger sein. Sie muss lauten: Ihr seid nicht allein! Ihr seid uns nicht egal! Ein Angriff auf euch ist ein Angriff auf uns!

(Beifall bei der AfD)

In meiner Studienzeit warf jemand einen Molotowcocktail auf die Synagoge meines Studienortes. Der Brand wurde schnell gelöscht; niemand kam zu Schaden. Monate später aber las ich in der lokalen Zeitung, dass die Jüdische Gemeinde sich völlig alleingelassen gefühlt hat. Nicht ein einziger Bürger hatte sich an die Gemeinde gewandt und seine Solidarität ausgedrückt. Die Gemeinde musste den Eindruck bekommen, ein Brandanschlag auf eine Synagoge sei ihren nichtjüdischen Mitbürgern völlig egal. Als ich diese nachvollziehbaren und selbstverständlichen Gedanken las, habe ich mich dafür geschämt, nicht selbst darauf gekommen zu sein, und habe zumindest das in einem Brief an die Gemeinde geschrieben.

Heute ist unsere erste und wichtigste Aufgabe wieder, klar und eindeutig zu sagen: Ein Angriff auf unsere jüdischen Mitbürger ist ein Angriff auf uns alle - ohne Wenn und Aber; lelo safeq!

(Beifall bei der AfD)

Weil diese Botschaft das Wichtigste ist, haben wir diese Resolution als Antrag eingereicht. Deshalb ist sie so kurz, damit das wichtigste Ziel nicht in vielen, vielen Worten untergeht.

Die klare Botschaft ist: Gewalt darf bei uns keine Rolle spielen. Extremismus in jeglicher Form lehnen wir strikt ab. Antisemitismus ist ein Angriff auf

uns alle. - Für diese klare Botschaft bitte ich um Ihre Unterstützung.

Meine Damen und Herren, meine Rede könnte hier zu Ende sein. Das Wichtigste ist gesagt. Leider bleibt mir an dieser Stelle aber auch die unerfreuliche Pflicht, ebenso ein mahnendes Wort an Sie und an uns alle zu richten.

Wer meint, er müsse die Verbrechen von Halle zu parteipolitischer Munition machen, dem spreche ich jede Ernsthaftigkeit im Umgang mit Antisemitismus ab. Dem geht es offenbar nicht in erster Linie um das Wohl unserer jüdischen Mitbürger. Der verfolgt andere Ziele.

Halten Sie mich für altmodisch, aber das finde ich doch ziemlich schäbig. Und ich finde es politisch verantwortungslos. Die AfD - so konnte man aus den Kreisen von SPD und CDU als Reaktion auf Halle sofort hören - sei der parlamentarische Arm wahlweise des Rechtsterrorismus oder des

Rechtsradikalismus. Das ist nicht mehr politische Instrumentalisierung. Dafür muss man neue Begriffe finden. Das ist politische Perversion.

(Beifall bei der AfD)

Es wundert nicht, wenn die Jüdische Gemeinde in Halle selbst in ihrer Stellungnahme zu den Ereignissen von Halle schreibt: Der politische Missbrauch der Opfer von Halle macht uns noch trauriger. - Gemeint ist: noch trauriger, als die Ereignisse selbst es schon getan haben.

Ich weiß nicht, was noch passieren muss, bevor Sie merken, dass Sie hier einen Weg beschritten haben, der nicht ins Licht führt, sondern wirklich in einen Abgrund von Hass und Hetze.

Meine Damen und Herren, ich ärgere mich darüber, dass ich über diese Aspekte heute überhaupt reden muss. Ich ärgere mich sehr. Denn unsere Botschaft heute sollte wirklich eine andere sein. Unsere Botschaft heute sollte sein: Hachajim hajehudim schahahim legermanja - lelo safeq!

Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD)

Vielen Dank. - Ich erteile nun zu Punkt 3 der Tagesordnung Herrn Fraktionsvorsitzenden Dirk

Toepffer, CDU-Fraktion, das Wort. Bitte, Herr Kollege!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ - diesen Satz zu sagen, ist zu keiner Zeit einfach gewesen, und seit dem 9. Oktober 2019 ist es wieder etwas schwerer.

Ich selbst bin es noch immer. Stolz war ich niemals auf meine Herkunft; zu dieser Herkunft habe ich nicht beigetragen. Stolz war und bin ich auf das, was die Gemeinschaft der Deutschen ausmacht, was diese Gemeinschaft erreicht hat und immer wieder erreicht.

Aber dieser Stolz hat wieder einmal Schaden genommen - schweren Schaden, um es ganz genau zu sagen. Es war der dunkelste Zeitabschnitt der deutschen Geschichte, die Zeit in den Jahren von 1933, vielleicht etwas früher, bis Mai 1945, der es vielen Deutschen zu Recht schwer, vielen nachvollziehbar unmöglich gemacht hat, Stolz für das eigene Land zu empfinden.

Mir ging und geht es ähnlich. Aber ich war tatsächlich auch ein wenig stolz darauf, dass es, so dachte ich, gelungen ist, aus dieser Zeit dieser deutschen Katastrophe die richtigen Lehren zu ziehen. Ich war und bin stolz darauf, dass wir uns als Deutsche zu unserer Schuld kollektiv bekennen, und ich war und bin stolz darauf, dass wir uns kollektiv verpflichtet haben, eine Wiederholung der Schoah zu verhindern, und uns stattdessen verpflichtet haben, jüdisches Leben in allen Winkeln dieser immer komplizierter werdenden Welt zu schützen - eine Verpflichtung, der wir als deutsche Christdemokraten auch künftig uneingeschränkt nachkommen werden.

Für diese Verpflichtung tragen wir weiter Verantwortung - eine Verantwortung, der wir uns täglich stellen müssen und niemals entziehen dürfen. Zu den Tiefpunkten dieses Parlaments gehören für mich folgerichtig diejenigen Debatten, in denen sich Teile des Parlaments der Verantwortung entziehen wollen. Ich denke - das sei hier trotz Ihrer Rede offen angesprochen - insbesondere an die immer wiederkehrenden Szenen, in denen sich Vertreter einer bestimmten Partei nicht verantwortlich für das fühlen, was andere Vertreter dieser Gruppierung an anderer Stelle gesagt haben.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Statt Übernahme von Verantwortung folgt dann stets der Hinweis auf die eigene, ganz persönliche Integrität - eine Integrität, die ich den Betroffenen

im Einzelfall gar nicht immer absprechen will. Aber dieser Hinweis auf die eigene Integrität ist eben nicht ausreichend. Wer einer bestimmten Partei beitritt, der trägt Verantwortung für die Summe dessen, was im Namen dieser Partei verbreitet wird. Und wenn Grenzen überschritten werden, heißt es, die eigene Grenze zu definieren und gegebenenfalls persönliche Konsequenzen zu ziehen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Verantwortung ist auch das Resultat eines besonderen Pflichtgefühls. Es ist auffällig, dass es gerade denen, die so gerne den Wert der Pflichterfüllung als besonders deutsche Tugend betonen, erkennbar schwerfällt, ihrer Verantwortung nachzukommen.

Die Ereignisse in Halle machen uns betroffen. Sie machen auch wütend - in erster Linie natürlich deshalb, weil gänzlich unbeteiligte und unschuldige Menschen Opfer eines verblendeten Rassisten werden sollten bzw. Opfer geworden sind. Sie machen wütend, weil man nicht weiß, wie man auf diese Form der Perversion reagieren soll. Sie machen aber auch wütend, weil wir für diese Ereignisse Verantwortung tragen müssen.

Dieser Angriff auf eine jüdische Synagoge und auf zwei zufällig den Weg des Attentäters kreuzende Passanten war auch ein Angriff auf unsere deutsche Gemeinschaft, auf die Gemeinschaft der in Deutschland lebenden Menschen. Er war ein Angriff gegen unsere Form des Zusammenlebens, unsere Art, politische Auseinandersetzungen auszutragen, unseren Weg, Verantwortung für unsere teils schwierige deutsche Geschichte zu tragen.

Zu dieser Verantwortung gehört auch die Erkenntnis, dass wir ihr offensichtlich nicht gerecht geworden sind - eine schmerzhafte, unbequeme Erkenntnis. Ja, gewisse politische Bewegungen haben zu den Ereignissen beigetragen. Es wäre aber falsch und allzu einfach, den Vorgang allein mit diesem Hinweis zu erklären.

Wir müssen uns fragen, ob das bisherige Bemühen ausreicht, der Verantwortung gerecht zu werden. Manch eine Reaktion erfolgte vielleicht zu reflexartig, zu automatisch, um diejenigen, die wir erreichen wollen, tatsächlich zu beeindrucken.

Die Häme mancher über Lichterketten vor Moscheen und Synagogen kam nicht von ungefähr. Sie ist wohl auch Ausdruck einer als hilflos wahrgenommenen Politik, einer Politik, die möglicher

weise - von der Last der Verantwortung erdrückt - nicht mehr in der Lage ist, Dinge zu erklären, oder glaubt, dass die Verantwortung so schwer wiegt, dass man manches gar nicht mehr als selbstverständlich erklären muss.

Es ist erst wenige Wochen her, dass ich Ende September mit Michael Fürst, dem Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, und Katarina Seidler, der Vorsitzenden des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen, zusammengesessen habe. Das war genau zwei Wochen vor den Ereignissen von Halle. Wir sprachen über Antisemitismus in unserer Gesellschaft mit ganz unterschiedlichen Ansätzen.

Es war Frau Seidler, die mir über Vorfälle berichtet hat, die unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erleben, wenn sie ihre Synagogen für die Besichtigung nichtjüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, insbesondere Schulklassen, öffnen. Sie berichtete über Bemerkungen junger Menschen, die deutlich machen, dass das, was viele von uns bereits als überwunden glaubten, noch allgegenwärtig ist oder - schlimmer noch - dass all dies zurückzukehren droht.