Protokoll der Sitzung vom 19.11.2019

Ich eröffne die Besprechung zu dem Antrag der Fraktion der SPD

a) Keine Zeit verlieren - unbegleitete minderjährige Flüchtlinge schützen: Schnelle Hilfe für die betroffenen Kinder in Griechenland noch vor dem Winter!- Anfrage der Fraktion der SPD - Drs. 18/5132

(Unruhe)

- Wenn Ruhe eingekehrt ist und alle, die stehen, entweder den Saal verlassen oder sich hier wieder hingesetzt haben, weil sie sich auf die Beiträge konzentrieren wollen, rufe ich zur Einbringung die Kollegin Doris Schröder-Köpf, SPD-Fraktion, auf.

Bitte sehr! Ich erteile Ihnen das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Nordostägäis gibt es zahlreiche sehenswerte Inseln. Eine hat es leider zu trauriger Berühmtheit gebracht: die Insel Lesbos.

Die Insel - eigentlich ein Paradies mit Olivenbäumen, Pinienwäldern und Vulkanfelsen - ist für Tausende Geflüchtete, die dort campieren müssen, zu einem unerträglichen Ort des Wartens und Ausharrens geworden. Aus einer Trauminsel ist eine Trauma-Insel geworden. In einem Bericht der Deutschen Welle vom 17. November heißt es:

„Dicht gedrängt steht hier Zelt an Zelt. Überall stapeln sich Müllsäcke, und seit einigen Tagen schon gibt es an dem notdürftigen Waschplatz kein fließendes Wasser mehr. In der Nacht kommt es immer wieder zu Gewalt. Viele Bewohner erzählen, dass sie in Angst leben. Das Lager sei für sie die reinste Hölle.“

Unter den etwa 14 000 Flüchtlingen sind auch Hunderte unbegleiteter Minderjährige, die in dem Lager Moria ausharren, einem ehemaligen Militärgelände - unter Plastikplanen, in alten Schiffscontainern oder in Zelten. Aktuell kommen täglich etwa 250 Menschen dazu. Es ist ein Leben im ständigen Ausnahmezustand, für viele ein reiner Kampf ums Überleben, wie die New York Times am 31. Oktober titelte - wobei Lesbos nicht die einzige Insel ist, auf der Schutzsuchende gestrandet sind. Insgesamt befinden sich derzeit etwa 35 000 geflüchtete Personen auf allen griechischen Inseln - der bishe

rige Höchststand seit Abschluss des EU-TürkeiAbkommens. Es wird geschätzt, dass mehr als 4 000 Menschen davon minderjährig und unbegleitet sind.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Organisation Ärzte ohne Grenzen leitet eine Krankenstation auf Lesbos. Ein Viertel der Kinder, mit denen die Organisation Gespräche geführt hat, habe bereits darüber nachgedacht oder gar versucht, sich das Leben zu nehmen. Wie entsetzlich ist das! Diese jungen Menschen, deren Leben noch vor ihnen liegt, sind zermürbt von den Zuständen im Flüchtlingslager.

Die für Ärzte ohne Grenzen tätige Medizinerin Idoia Moreno kommt zu einem für uns Europäerinnen und Europäer bitteren Fazit, wenn sie sagt: „Die Europäer verraten auf Lesbos ihre Werte jeden Tag aufs Neue.“ Die engagierte Ärztin trifft hiermit einen wahren Kern: Wir können nicht auf der einen Seite stolz auf die europäischen humanitären Errungenschaften sein und auf der anderen Seite Hunderte von Kindern in Flüchtlingscamps ihrem Elend überlassen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Innenminister Boris Pistorius konnte sich vor Kurzem vor Ort selbst ein Bild machen. Anfang November kam er mit einer eindeutigen Botschaft von seiner Griechenlandreise zurück: Die Kinder von Lesbos brauchen unsere Hilfe! Ohne Hilfe von außen entstehe hier eine lost generation: Kinder und Jugendliche, die keine Perspektive hätten und deren Seelen zutiefst traumatisiert seien.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Zeit zum Handeln ist jetzt. Den Kindern wird es kein Stück helfen, wenn wir weiter alle Hoffnung auf die Umsetzung der seit Anfang an brüchigen Vereinbarung mit der Türkei setzen. Es reicht auch nicht aus, Griechenland zu drängen, sein gelähmtes Asylsystem auf Vordermann zu bringen und mehr Menschen in die Türkei zurückzuschicken. Es wird den jungen Menschen unmittelbar auch nichts nützen, wenn wir uns - wie all die Jahre - damit begnügen, mahnende Worte in Richtung Brüssel und an die EU-Mitglieder zu senden, man solle sich nun endlich auf ein einheitliches, effizientes und solidarisches Asyl- und Migrationssystem einigen.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Wir müssen nun schnell handeln. Niedersachsen kann hierbei vorangehen. Ich bin dem Innenminister sehr dankbar, dass er sich dafür bereits beim

Bundesinnenminister eingesetzt hat. Sein Vorschlag: Eine Koalition der Hilfsbereiten aus Deutschland und anderen europäischen Staaten könnte ein Sonderkontingent generieren, mithilfe dessen wir schnellstmöglich - noch vor dem Wintereinbruch - Kinder und Jugendliche aufnehmen können. Ich zitiere in dem Zusammenhang einmal Gustav Heinemann: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie könnte eine Aufnahme organisiert sein? - Neben den formalen Relocation-Programmen hat die Bundesrepublik bereits durchaus viele Erfahrungen mit der einzelfallbezogenen Aufnahmepraxis auf der Grundlage der Dublin-III-Verordnung und in Kooperation mit der EU und ihren Mitgliedstaaten gesammelt, so z. B. mit Italien bei der Aufnahme seenotgeretteter Menschen. An diese Erfahrungen kann man anknüpfen. Natürlich muss auch geklärt werden, wer die Kinder nach welchen Kriterien auswählt.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen in der CDU-Fraktion, ich bin sehr froh, dass Sie grundsätzlich bereit sind, den Vorschlag des Innenministers zu unterstützen. Das sollte eine gute Grundlage sein, die Fragen der Umsetzung im Innenausschuss zu besprechen. Besonders

schutzbedürftigen Kindern und Jugendlichen Obhut zu gewähren, erkläre sich aus Ihrer christlichen Tradition, haben Sie gesagt. Und ich füge an: auch aus einer Parteitradition. Am 24. November 1978 - vor nahezu genau 41 Jahren - machte nämlich der Niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht einen spektakulären Vorstoß. Er beschloss, sofort 1 000 vietnamesische Boatpeople nach Niedersachsen fliegen zu lassen. Abgeholt hat sie damals übrigens der niedersächsische Innenminister Hasselmann, CDU. Lassen Sie uns daran anknüpfen!

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der CDU)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Schröder-Köpf. - Es folgt jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Kollegin Anja Piel. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In was für einer Not muss sich ein junger Mensch befinden, dass er Freunde und Familie hinter sich zurücklässt und sich mutterseelenallein auf eine Reise mit ungewisser Aussicht macht? Was für Widrigkeiten nimmt er in Kauf, wie schwer muss ihm das Herz sein, wenn er feststellt, dass es jeden Tag kälter wird und er fern der Heimat ohne Aussicht auf ein sicheres Quartier, eine Beschäftigung oder eine Unterkunft in Griechenland festsitzt?

Es ist allerhöchste Zeit, sich mit dem Schicksal dieser jungen Menschen auseinanderzusetzen.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie Zu- stimmung bei der SPD und bei der CDU)

Und es wird schon schwierig, die nach Griechenland geflüchteten Kinder und Jugendliche noch vor dem bereits einsetzenden Winter zu retten. Wir begrüßen ausdrücklich die Initiative von Innenminister Boris Pistorius, die offenbar auch zu diesem Engagement der CDU geführt hat.

Die Entwicklung in Griechenland ist schon seit Langem sichtbar und absehbar, und die Problematik bekannt. Aber erst in letzter Zeit sind auch die minderjährigen Geflüchteten mit ihrer besonderen Notlage in den Blick gerückt.

Deutschland nimmt nach wie vor sehr wenige Geflüchtete auf. Um das einmal mit Zahlen deutlich zu machen: Von den geplanten 27 000 Menschen hat Deutschland 2018 gerade einmal ein gutes Drittel aufgenommen. Deswegen haben wir unseren Antrag „Sicherer Hafen Niedersachsen - Lokale Solidarität für in Seenot geratene Geflüchtete“ bereits im September eingebracht. Wir fordern, dass Kreise und kreisfreie Städte, die bereits erklärt haben, mehr Geflüchtete aufnehmen zu wollen, in ihrem Anliegen unterstützt werden. Angesichts des fortschreitenden Winters muss es eine zeitnahe Lösung geben, um die Verteilung der jungen Menschen hinzubekommen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Auch Niedersachsen insgesamt muss sich zum sicheren Hafen erklären und damit ein längst überfälliges Zeichen für mehr Humanität setzen. Außerdem brauchen wir endlich wieder ein Landesaufnahmeprogramm und auf Bundesebene eine Gesetzesänderung, damit die humanitäre Aufnahme für die Länder erleichtert wird. Wir setzen darauf, dass auch Sie nach dieser Debatte unserem

Antrag zustimmen. In Erinnerung an Ernst Albrechts Initiative für die Aufnahme der Boat People in den 80er-Jahren würde Niedersachsen einer sehr guten Tradition folgen, wenn es minderjährige Flüchtlinge aus den Hotspots aufnähme.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Insbesondere unbegleitete Flüchtlingskinder und die Familienangehörigen hier lebender Flüchtlinge müssen bei uns Sicherheit finden.

Meine Damen und Herren, in den Lagern wie Moria auf Lesbos - die Kollegin Schröder-Köpf hat es eben beschrieben - hausen Tausende Menschen, darunter schwangere Frauen, Familien mit Kindern und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen. Es fehlen nicht nur Betten, es fehlen trockene Unterkünfte, es fehlt auch - und das ist nach diesen vielen Kilometern der Flucht ein wichtiger Punkt - an medizinischer Versorgung.

Heute gestellte Asylanträge werden erst 2021 oder gar 2022 bearbeitet werden. Diese Lager müssen aber jetzt geschlossen und die Menschen umgehend verteilt werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Boris Pistorius hat angekündigt, prüfen zu lassen, wie wir den Kindern und Jugendlichen von Deutschland aus helfen können. Er wirbt dafür, dass sich eine Koalition der Willigen in Deutschland und Europa um diese Kinder kümmert, damit sie etwa über Sonderkontingente schneller in andere europäische Länder gebracht werden können.

Obwohl wir das richtig finden, glauben wir, dass diese GroKo mehr tun kann und muss. Vor uns auf dem Tisch liegen konkrete Vorschläge. Der Flüchtlingsrat weist darauf hin, dass auch Niedersachsen viele Einrichtungen der Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge schließen wird bzw. dass sie unterbelegt sind. Viele Träger haben Plätze frei und würden gern unbegleitet Minderjährige aufnehmen, um ihnen einen Ausweg aus der Not zu bieten. Bitte lassen Sie uns diese Projekte unterstützen!

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Piel. - Es folgt jetzt für die CDU-Fraktion der Kollege Sebastian Lechner. Bitte sehr!

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich teile die Analyse meiner Vorrednerinnen. Die Zustände auf Lesbos - aber nicht nur dort, sondern auf vielen der griechischen Inseln - sind zum Teil unerträglich. Und wenn es dann auch noch um Jugendliche oder gar Kinder geht, kann ein menschliches Herz davon nicht unberührt bleiben. Insofern sieht auch die CDU-Fraktion ihre humane und christliche Verantwortung und will dort zusammen mit ihrem Koalitionspartner helfen.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Allerdings begleitet uns dabei ein moralisches Dilemma. Wir müssen eine kluge Antwort geben und beachten, dass wir keine falschen Zeichen setzen. Denn wenn wir ein Zeichen setzen, das dazu führt, dass Eltern in türkischen Flüchtlingslagern ihre Jugendlichen und Kinder zu leichtfertig auf einen lebensgefährlichen Weg schicken, dann haben wir, was Kinderschutz und Humanität angeht, nichts gewonnen. Deswegen bedarf es einer klugen Antwort.

Diese kluge Antwort beginnt in Europa. Ich bin froh, dass sich unser Innenminister dort einsetzen will, und empfehle, den Eckpunkteplan unseres Bundesinnenministers Seehofer zu unterstützen, in dem es am Ende darum geht, das Asylsystem in Europa neu zu denken. Wir müssen zu einer Zuständigkeit kommen, zu einem Asylverfahren und zu einem europaweiten Verteilverfahren. Wenn es das gäbe und das Dublin-Verfahren ersetzen würde, gäbe es Situationen wie in Spanien, Italien oder auf den griechischen Inseln nicht.

(Beifall bei der CDU)

Wir müssen aber auch in die Flüchtlingsarbeit vor Ort investieren - und zwar in Griechenland. Deutschland hilft schon finanziell, aber ich finde, wir sollten gerade angesichts dessen, was heute schon geschildert wurde, überlegen, ob wir diese finanzielle Hilfe nicht noch ausweiten, d. h. dass wir das, was Frau Schröder-Köpf gesagt hat, um den Aspekt ergänzen, dass wir die Bundesregierung zusammen mit der Übermittlung der Ideen auch darum bitten, ein Programm zur kurzfristigen und schnellen finanziellen Hilfe aufzulegen, um die

humanitäre Situation in Griechenland - auf Lesbos und in den Regionen, über die wir hier sprechen - schnell und unbürokratisch zu entspannen.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)