Protokoll der Sitzung vom 12.05.2020

(Zwei Mitarbeiter der Landtagsverwal- tung desinfizieren das Redepult)

- Vielen Dank.

Das Wort hat nun für die Fraktion der FDP der Fraktionsvorsitzende, Herr Dr. Birkner. Bitte!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir begrüßen, dass die Landesregierung - anders, als noch vor drei Wochen angekündigt - in der Zwischenzeit einen Stufenplan vorgelegt und damit vielen Menschen in Niedersachsen eine Perspektive aufgezeigt hat. Auch dass dabei die Bewertungsgrundlagen erstmals offengelegt worden sind, ist ein Fortschritt. Aber, Herr Ministerpräsident und Frau Modder, das ist kein Anlass für Dank; denn es ist schlicht eine Selbstverständlichkeit.

(Beifall bei der FDP und bei der AfD)

Die Menschen in Niedersachsen haben einen Anspruch darauf, dass nachvollziehbar dargelegt wird, auf welcher Grundlage und entlang welcher

Maßstäbe eine Landesregierung in ihr privates, wirtschaftliches und soziales Leben in nicht gekannter Weise eingreift. Es ist die Landesregierung, die sich jeden Tag erneut für jede einzelne eingreifende Maßnahme rechtfertigen muss. Wenn sie das nicht mehr kann, dann ist es zwingend, dass die Maßnahmen unverzüglich aufgehoben werden. Derjenige, der in die Grundrechte eingreift, muss sich rechtfertigen, Herr Ministerpräsident und Frau Modder, und nicht derjenige, der sie wahrnehmen will.

(Beifall bei der FDP, bei den GRÜ- NEN und bei der AfD)

Insofern ist es eine Selbstverständlichkeit, dass diese Maßnahmen dann aufgehoben werden, wenn sie nicht mehr nötig sind. Eine gönnerhafte Attitüde im Sinne von: „Wir gönnen etwas. Wir geben etwas. Wir geben den Menschen die Freiheit zurück“, wofür man danken muss, ist vor diesem Hintergrund völlig unangebracht.

(Beifall bei der FDP, bei den GRÜ- NEN und bei der AfD)

Auch wenn die Beweggründe für den überraschenden Strategiewechsel von Ministerpräsident Weil im Dunkeln bleiben, begrüßen wir ihn, bildet er doch unsere zentralen Forderungen nach Offenlegung von Maßstäben, Kriterien und Bewertungsgrundlagen grundsätzlich ab.

Im Detail weisen der Plan und auch die Umsetzung durch die aktuelle Verordnung aber dann immer wieder Probleme und Schwächen auf. Um nur einige Beispiele zu nennen - sie mögen kleinteilig wirken, aber sie zeigen, wie die Betroffenheit bei den Menschen am Ende tatsächlich ist -: Dem Hotelgewerbe wird vorgeschrieben, dass die Zimmer nur alle sieben Tage vermietet werden dürfen, was vielfach am Ende einer Schließungsanordnung gleichkommt. Spielhallen bleiben ohne erkennbaren Grund geschlossen. Was bewegt Sie eigentlich dabei, das zu tun? Und Landgartenmärkte werden, obwohl sie eigentlich genauso sind wie ein Wochenmarkt, als Großveranstaltungen betrachtet und am Ende verboten.

Für die betroffenen Menschen ist das alles von existenzieller Bedeutung, und für die betroffenen Menschen ist, wenn denn das Infektionsgeschehen der Maßstab der Dinge ist, nicht nachvollziehbar, wie Sie eigentlich zu solchen Ergebnissen kommen. Das heißt, Ihr Versprechen, dass sich das, was Sie an Maßnahmen ergreifen, am Infekti

onsgeschehen und Infektionsrisiko orientiert, wird längst nicht eingehalten.

(Beifall bei der FDP)

Solche nicht nachvollziehbaren Ergebnisse sind wohl, wie zuvor auch die willkürliche 800-m²-Grenze im Einzelhandel - so scheint es zumindest für die Beobachter -, eher das Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses zwischen dem Wirtschaftsministerium auf der einen Seite und dem Gesundheitsministerium auf der anderen Seite. Es ist ein völlig intransparentes Verfahren, bei dem kein Mensch nachvollziehen kann, wie eigentlich die Ergebnisse zustande kommen.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb, Herr Ministerpräsident, fordern wir Sie auf, dass Sie Ihre einmal mehr eingenommene abwartende und beobachtende Haltung ablegen und sicherstellen, dass die Kriterien und Maßstäbe, von denen Sie ja selbst sagen, das ist es, worum es jetzt geht, auch im Detail tatsächlich umgesetzt werden. Das sind Sie den Menschen schuldig; denn es sind am Ende - wenn auch erst einmal aus guten Gründen - Sie, die das komplette Leben lahmlegen und Dinge verbieten. Insofern sind auch Sie in der Pflicht, es im Detail zu rechtfertigen.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung von Klaus Wichmann [AfD])

Meine Damen und Herren, die Landesregierung muss also noch zahlreiche Hausaufgaben machen. Anhand der nun anerkannten Kriterien und Maßstäbe muss sie für jeden einzelnen Bereich konkrete Strategien entwickeln, um möglichst schnell zu einem möglichst normalen Leben zurückkehren zu können.

Dazu gehört für uns insbesondere, auch sicherzustellen, dass die Kinderbetreuung und der Besuch von Menschen in Alten- und Pflegeheimen möglichst schnell wieder ermöglicht wird. Gemeinsam mit den Trägern müssen schnellstmöglich entsprechende Konzepte erarbeitet und umgesetzt werden. Hier hätten wir, Herr Ministerpräsident, weil dieses Thema nun schon seit Wochen auf der Agenda ist und auch schon seit Wochen in den Verordnungen angelegt ist, dass solche Konzepte entwickelt werden sollen, mehr als wieder nur erneut Ankündigungen erwartet.

(Beifall bei der FDP)

Vor dem Hintergrund kann ich sehr gut nachvollziehen, dass der Unmut und die Ungeduld der

betroffenen Menschen zunehmen. Es ist sicherlich, auch wenn Sie, Herr Ministerpräsident, es wahrscheinlich gar nicht so meinen, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht hilfreich, wenn Sie, während Menschen in den Alten- und Pflegeheimen einsam werden und junge Familien auf dem Zahnfleisch gehen, weil die Kinderbetreuung nicht sichergestellt ist, gleichzeitig öffentlich per Tweets und per Facebook-Auftritt zur Schau stellen, dass Sie sich darauf freuen, endlich wieder Pasta essen gehen zu können. Das ist für einen Ministerpräsidenten, der für den gesellschaftlichen Zusammenhalt plädiert, kein positives und gutes Signal. Auch hier haben Sie eine Vorbildwirkung und müssen Sie sich auch in Ihrem Auftritt Ihrer Wirkung bewusst sein.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Wir erwarten von der Landesregierung auch, dass sie den öffentlichen Gesundheitsdienst - darüber haben wir heute auch schon gesprochen; das sind insbesondere die Gesundheitsämter auf der Kreisebene - in enger Zusammenarbeit mit den Kommunen stärkt. Dazu gehört natürlich neben der notwendigen personellen Stärkung, um die Nachverfolgung sicherzustellen, auch die Nutzung digitaler Lösungen.

Auch hier, Herr Ministerpräsident, ist es irritierend, wenn Sie offenkundig erstmals bei Ihrem Besuch des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung in Braunschweig von der Software SORMAS erfahren und sich eine Anwendung auch in Niedersachsen wünschen, während Ihre Gesundheitsministerin zeitgleich per Pressemitteilung verkündet, dass sie sich freut, dass niedersächsische Kommunen sie bereits verwenden. Ihre heutige Ankündigung, dass Sie nun auch den Kommunen die Nutzung ermöglichen wollen, erweckt schlicht den Eindruck, dass Sie nicht auf der Höhe der Zeit sind. Auch das ist ein schlechtes Signal, wenn es darum geht, eine solche Krise mit innovativen, fortschrittlichen Methoden zu beheben.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, es ist auch kein Erfolg, was wir im Moment in der Bildungspolitik erleben. Es ist kein Erfolg, dass die Bildungscloud aufgrund der Schulschließungen ein Jahr früher ausgerollt worden ist. Vielmehr ist dies der Beleg dafür, dass die Digitalisierung im Bildungsbereich unter der SPD in den letzten Jahren stiefmütterlich behandelt worden ist.

Wir erleben vielerorts, dass sich die Lehrerinnen und Lehrer selbst sehr zügig auf den Weg gemacht haben, digitale Angebote für die Schülerinnen und Schüler zu entwickeln und anzubieten. Allein, es fehlt vielfach an den technischen Voraussetzungen in den Schulen, an einer guten Plattform für den digitalen Austausch der niedersächsischen Lehrkräfte und an geprüften LernApps und digitalen Angeboten von Dritten.

Aber die Lehrerinnen und Lehrer sind nur die eine Seite der Digitalisierung in der Bildung. Was hilft die Digitalisierung, wenn auf der anderen Seite Kinder keinen Laptop oder kein Tablet haben, um am virtuellen Unterricht teilnehmen und sich mit den Mitschülern und den Lehrkräften austauschen zu können? Was hilft ein Arbeitsblatt per E-Mail, wenn es in der Familie keinen Drucker gibt? Was hilft ein von der Schule geliehener Rechner, wenn die Familie kein Geld für den Breitbandanschluss hat?

Seit acht Wochen sind die Schulen geschlossen, meine Damen und Herren. Antworten der Landesregierung auf diese Fragen gibt es noch nicht.

Wann das in Aussicht gestellte zusätzliche Geld des Bundes in Höhe von 47 Millionen Euro für digitale Endgeräte zur Verfügung steht und wie es ausgegeben werden soll, darauf hatte der Kultusminister auch am Freitag noch keine Antwort. Lässt man diese Mittel des Bundes außen vor, stellt man fest, dass der Landesregierung und den Fraktionen der SPD und der CDU die Verminderung der Bildungsungerechtigkeit bisher nichts wert gewesen ist.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Deshalb, meine Damen und Herren, fordern wir Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass digitale Endgeräte als Lernmittel anerkannt werden! Sorgen Sie schnellstmöglich für die Beschaffung von Geräten für Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen! Sorgen Sie für Lernorte außerhalb der Wohnung der Schüler, mit Schreibtisch und Rechner, mit Netzanschluss und mit Ruhe! Genehmigen Sie pauschal Dienstreisen für Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter, um auch aufsuchend Hilfe anbieten zu können!

Es wird viel über Abiturienten und Abschlussschüler gesprochen, denen wir bei dieser Gelegenheit natürlich viel Erfolg für ihre Prüfungen wünschen. Aber wenn es bei dem Zeitplan bleibt, dass Fünft- und Sechstklässler erst im Juni wieder die Schulen

tageweise besuchen dürfen, dann verlieren wir viele auf dem dahin, wenn wir nicht für Bildungsgerechtigkeit in der Krise sorgen.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in der größten Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stehen Millionen Arbeitnehmer und ihre Familien vor existenziellen Fragen. Über 10 Millionen Menschen in Deutschland sind für Kurzarbeit angemeldet. Jedes fünfte Unternehmen plant bereits Stellenabbau. Allein zwischen März und April sind bereits über 300 000 Menschen arbeitslos geworden; viele mehr fürchten um ihren Arbeitsplatz. Der Norden und Niedersachsen voran werden hier leider einen besonders hohen Anteil haben.

Wir dürfen daher eben nicht nur die Pandemie bekämpfen und den Gesundheitsschutz stärken, sondern müssen gleichzeitig alles dafür tun, um Arbeitsplätze, Wohlstand und soziale Sicherheit und damit auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land zu erhalten. Die beste Politik ist in dieser Stunde dann eine Politik für sichere Arbeitsplätze.

(Beifall bei der FDP)

Leider, Herr Ministerpräsident - das ist beim Lesen Ihrer Regierungserklärung wirklich bemerkenswert, und auch beim Zuhören wird es nicht besser -, gehen Sie darauf kaum ein. Allein, dass er sehr dafür sei, Kaufanreize und Klimaschutz von Anfang an in einem Konzept gemeinsam zu denken, und strikt dagegen sei, die Automobilindustrie als niedersächsische Leitindustrie in dieser schwierigen Situation alleine zu lassen, lässt sich bei gutem Willen als konkrete Aussage interpretieren.

War es das denn wirklich schon? Ist es der wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Anspruch des Niedersächsischen Ministerpräsidenten, mit einer Abwrackprämie, die Sie ja vermutlich - - - Dieses Wort wollten Sie ja offensichtlich vermeiden. Ist damit Ihr wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Anspruch tatsächlich abschließend beschrieben?

Wir sind der Meinung, dass das eindeutig zu wenig ist. Es muss mehr getan werden, um Niedersachsen wieder zum Laufen zu bringen, um Arbeitslosigkeit abzuwenden und um die Finanzierung der öffentlichen Haushalte sowie auch der Sozialkassen künftig sicherzustellen.

Der Mittelstand benötigt eine sofortige Liquiditätshilfe. Wir haben einen Vorschlag dazu gemacht, nämlich mittels einer negativen Gewinnsteuer. Soloselbstständige, Schauspieler und Künstler benötigen ein auf sie zugeschnittenes Sofortprogramm, das unbürokratisch und schnell ihre Kosten deckt. Die Bürgerinnen und Bürger müssen spürbar entlastet werden. Die von Schließungen betroffenen Unternehmen - wir haben dazu einen Gesetzesvorschlag gemacht - müssen entschädigt werden.

Beim Landeshaushalt, meine Damen und Herren - wir werden das dann ja offenkundig im nächsten Plenum und ansatzweise auch schon heute diskutieren -, muss man sich auf die Krisenbewältigung konzentrieren und umfassende Vorsorge treffen, statt so zu tun, als hätte es die Krise nicht gegeben, und an den lieb gewonnenen Projekten, die man vor der Krise in Angriff genommen hat, einfach weiter festzuhalten.

Zu alledem haben wir von Ihnen, Herr Ministerpräsident, heute nichts Konkretes gehört. Unsere Vorschläge liegen hingegen auf dem Tisch.

Meine Damen und Herren, diese Krise macht erstaunliche Risse in der Gesellschaft sichtbar. Die Proteste und Demonstrationen gegen die ergriffenen Maßnahmen und die Spaltung der Gesellschaft nehmen zu. Darauf ist zu Recht hingewiesen worden. Neben nachvollziehbarem und legitimem Protest werden dabei auch immer offener und häufiger krude Verschwörungstheorien vertreten.

Aber diese gedeihen immer dort gut, meine Damen und Herren, wo gravierende Entscheidungen wie die gegenwärtigen massiven Grundrechtsbeeinträchtigungen und -eingriffe intransparent zustande kommen. Es ist eben nicht nachvollziehbar, warum die Ge- und Verbote in den Regierungsverordnungen sind, wie sie sind. Genau dieses nicht Nachvollziehbare, dieses Agieren im Verborgenen, Herr Ministerpräsident, irgendwie im Zwischenspiel zwischen Gesundheitsministerin, Wirtschaftsminister und Staatskanzlei - man weiß ja nicht so genau, was da wo wie passiert -, ist am Ende genau der Raum, der dann für Spekulationen und Phantasien entsteht und der genau denjenigen die Möglichkeiten zur Interpretation gibt, die auch diese Sorgen, Ängste und Nichtnachvollziehbarkeit des Handelns benutzen wollen, um möglicherweise andere politische Ziele zu verfolgen.

Deshalb ist es ein gemeinsames Anliegen - es ist auch ein gemeinsames Anliegen der Landesregie

rung -, für Transparenz zu sorgen. Man kommt sich ja als Parlamentarier schon irgendwie als Störenfried vor, wenn man einfordert, dass grundrechtsrelevante Einschränkungen tatsächlich auch im Parlament beraten und beschlossen werden müssen. Das ist aber eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Wir sind nicht Bittsteller, sondern das Parlament ist selbstbewusst das Organ, der Ort, wo solche Dinge entschieden werden müssen, und es ist der Ort, wo Transparenz hergestellt werden kann, die im Moment fehlt.