Da helfen auch alle künstlichen Konstruktionen, die Sie schönreden, nichts. Schulzeit, -fächer und -inhalte passen nicht mehr mit den anderen Schulformen zusammen und das verhindert den Wechsel. In der Hauptschule wird durch ihre Vorschläge die Konzentration zur Restschule vorangetrieben.
Die Vertreter der Hauptschullehrerinnen und -lehrer, der Verband Bildung und Erziehung sowie die GEW sind sich einig: Die Hauptschule ist die Schule derer, die im System abgehängt worden sind. Verlierer haben aber nichts mehr zu verlieren. Das war auch die Botschaft der Schülerinnen und Schüler, die ihre Situation in der Rütli-Schule schildern.
Wir haben eben in der ersten Debatte sehr deutlich dazu erklärt, dass dies nicht die Perspektive für Schüler und Schülerinnen sein darf. Diese Effekte werden aber durch Ihre Gesetzesvorlage verstärkt. Welche Weichenstellungen zusätzlich im neuen Schulgesetz vorbereitet werden, wird an dem Entwurf der Ausbildungsordnung Grundschule sehr deutlich: Die Übergangsempfehlung zur Gesamtschule wird gestrichen. Es macht Ihnen wohl Angst, dass zusätzlich zu den schon bestehenden Anmeldeüberhängen noch mehr Eltern
auf Integration setzen und ihre Kinder dem Selektionsdruck der neuen Landesregierung nicht aussetzen wollen.
Meine Damen und Herren, Sie werden auch durch eine restaurative Schulgesetznovelle den Abgesang auf das gegliederte Schulsystem nicht aufhalten können. Das schreiben Ihnen OECD, Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut oder Lothar Späth, Handwerkskammern und schließlich Ihre CDU-Kollegen aus anderen Bundesländern ins Stammbuch, die sich längst auf den Weg gemacht haben, die Mehrgliedrigkeit unideologisch zurückzuführen.
Herr Rüttgers, was sagen Sie eigentlich dazu, dass ausgerechnet die amtierende Bundeskanzlerin und der amtierende SPD-Parteichef Platzeck eine sogenannte Einheitsschulform, um Ihr Schimpfwort einmal aufzugreifen, offensichtlich so erfolgreich durchlaufen haben, dass sie jetzt an der Spitze der Bundesrepublik stehen.
(Beifall von Sylvia Löhrmann [GRÜNE] – La- chen von der CDU – Ralf Witzel [FDP]: Schade, dass es keinen Sozialismus mehr gibt!)
Es ist schon sehr interessant, dass sich ausgerechnet die Pisa-Sieger Finnland diese Struktur zum Vorbild zur Gestaltung ihres Schulsystems genommen haben. Sie können also vielleicht in einem intensiven Gespräch über Bildungsbiographien noch einiges dazulernen und Ihre ideologischen Scheuklappen endlich abbauen.
Meine Damen und Herren, wir setzen die Debatte fort mit einem Beitrag von Frau Pieper-von Heiden, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin! Dies ist ein historischer Tag für unser Land, ein bildungspolitischer Befreiungsschlag. Mit der heutigen Einbringung des Regierungsentwurfes für ein neues Schulgesetz in Nordrhein-Westfalen geht es nun endlich mit Siebenmeilenstiefeln in eine erfolgreiche Bildungszukunft für unsere Kinder und Jugendlichen.
FDP und CDU bringen mit diesem Gesetzentwurf ein konsequent durchdachtes Reformwerk aus einem Guss auf den Weg und setzen damit den Flickenteppich von Erlassen außer Kraft, mit dem Rot-Grün dieses Land über Jahre und Jahrzehnte
überzogen hat. Wir geben unseren Schulen Freiheit und Selbstverantwortung, aber dazu auch die für eine hervorragende Bildungsarbeit notwendigen qualitativen Rahmenvorgaben und Ressourcen.
Im Zentrum unserer Reformschritte steht das Wohl unserer Kinder und Jugendlichen. Deshalb schreiben wir erstmals in der Geschichte Nordrhein-Westfalens das Recht auf individuelle schulische Förderung fest. Nur so können alle Kinder ihr Potenzial optimal entfalten: der Schüler mit Lernschwierigkeiten ebenso wie der Hochbegabte, die Schülerin mit schwachen Leistungen ebenso wie die Leistungsstarke. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Chancengerechtigkeit endlich auch im Bildungsprozess eines jungen Menschen gelebt wird und nicht zu einem Lippenbekenntnis verkommt wie unter Rot-Grün.
Erfolgreiche Teilnahme am Unterricht und Teilhabe an Berufsleben und Gesellschaft setzen eines gleichermaßen voraus: gute Kenntnisse der deutschen Sprache. Deshalb prüfen wir bereits zwei Jahre vor der Einschulung eines Kindes, ob seine Sprachfähigkeiten altersgemäß entwickelt sind. Ist das nicht der Fall, sorgen wir für verpflichtende Sprachkurse. Wir wollen, dass jedes Kind hinreichend deutsch spricht, wenn es eingeschult wird. Zur Sicherheit überprüfen wir dies ein zweites Mal bei der Schuleingangsuntersuchung. Kein Kind wird künftig mehr verloren gegeben.
Die schwarz-gelbe Zukunftsreform findet sich ganz konkret in jeder einzelnen Etappe der Schullaufbahn eines Kindes wieder. Auch die Entwicklung und Wertschätzung der weichen Kompetenzen, der sogenannten Softskills, sowie eine Werte-Erziehung zur gegenseitigen Achtung im menschlichen Miteinander zieht sich wie ein roter Faden über die gesamte Schulzeit und findet ihren Ausdruck in Kopfnoten.
Die mit der Novellierung des Schulgesetzes auf den Weg gebrachten Verbesserungen sind so umfangreich, dass ich sie in der kurzen Zeit nicht einmal anreißen kann. Ein paar Hinweise möchte ich dennoch dazu geben:
Erstens. Zwergschulen bleiben erhalten. Die neue schwarz-gelbe Landesregierung ermöglicht unter Berücksichtigung rückläufiger Schülerzahlen Grundschulverbünde mit einer Stammschule und einer oder mehreren Dependancen.
en Schulgesetzes sein wird. Bereits in der Erprobungsstufe – im fünften und sechsten Schuljahr – überprüfen wir nach jedem Halbjahreszeugnis, ob einem Kind der Wechsel auf eine höhere Schulform empfohlen werden kann. Kein Schüler muss in der Erprobungsstufe zwei Jahre auf einen möglichen Schulaufstieg warten, wenn seine Leistungen gut sind. Diese Durchlässigkeit bleibt während der gesamten Schulzeit bewahrt.
Viertens. Eltern, die ihren Kindern weniger zutrauen, als diese in der Lage sind zu leisten, sollen ermutigt werden, ihr Kind in eine höhere Schulform zu schicken.
Fünftens. Mit der Beliebigkeit beim Abitur, das nach zwölf Jahren abgelegt wird, ist es nun vorbei. Mit der inhaltlichen Reform der gymnasialen Oberstufe stellen wir eine hohe Allgemeinbildung der angehenden Abiturienten in den Vordergrund und schaffen zur besseren Studierfähigkeit ein höheres Kompetenzniveau in den Fächern Deutsch, Mathematik und in Fremdsprachen, die auch schriftliche Abiturprüfungsfächer werden. Die bisherige Unterteilung in Grund- und Leistungskurse entfällt. Die zentrale Abiturprüfung findet in insgesamt vier Fächern schriftlich statt; ein mündliches Prüfungsfach kommt hinzu.
Sechstens. Mit der organisatorischen Reform – also dem Modell 9 + 3 – der gymnasialen Oberstufe, die bereits in der 10. Klasse mit der Einführungsphase beginnt und sich in der 11. und 12. Jahrgangsstufe mit der Qualifikationsphase fortsetzt, schaffen wir ein System, das einen individuell flexiblen Übergang aus anderen Schulformen ermöglicht.
Seiteneinsteiger aus Realschule und Hauptschule sowie Gesamtschüler treten nach der zehnten Klasse in die Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe ein. Bei durchgehend guten Leistungen in den Kernfächern und einer erlernten zweiten Fremdsprache können Realschüler und Gesamtschüler nach dem mittleren Bildungsabschluss der zehnten Klasse auch direkt in die Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe springen und auf diese Weise ihr Abitur auch bereits nach zwölf Jahren ablegen. Dieses Modell nimmt Rücksicht auf das individuelle Lerntempo und das Leistungsvermögen eines Jugendlichen.
Dies war nur ein kurzer Auszug aus dem Strauß der Neuerungen des neuen Schulgesetzes, dessen Umsetzung einen positiven Einfluss auf die Motivation unserer Schüler und die Qualität der Ergebnisse schulischer Arbeit insgesamt haben wird.
Außerhalb und vor Inkrafttreten des Schulgesetzes haben wir bereits eine qualitative Aufwertung des Ganztags an Grundschulen in Angriff genommen und die Ganztagsoffensive an Hauptschulen gestartet.
Dass wir darüber hinaus im Jahr 2006 zusätzlich zu den bereits im Jahr 2005 vorgenommenen Lehrerneueinstellungen 2.517 Lehrerstellen gegen Unterrichtsausfall, für Vertretungsaufgaben und für besondere Förderaufgaben ausweisen, zeigt klar, wo die Prioritäten dieser Landesregierung liegen.
Außerdem gibt es 900 Lehrerstellen für eine Vertretungsreserve für Grundschulen, die unbefristete Weiterbeschäftigung der 250 Sozialpädagogen an Hauptschulen sowie 250 zusätzliche Entlastungsstellen für Schulleiter für Fortbildungen.
So liest sich die lange Positivliste einer erst kurzen Regierungszeit. Dieses Jahr wird ein gutes Jahr für die Schulen in Nordrhein-Westfalen, der Start in eine erfolgreiche Zukunft. Die Weichen dafür sind gestellt. Ein großes Dankeschön an unsere Schulministerin, die sich bei dieser Wegbereitung für die Zukunft unserer Kinder nicht von einer verzagten Opposition hat irritieren lassen. Vielen Dank dafür, Frau Ministerin Sommer.
Für die Landesregierung hat sich Ministerpräsident Dr. Rüttgers zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Dieses Schulgesetz ist eine der großen Reformen dieser Legislaturperiode. Ich bin heute Morgen hierhergekommen, weil ich mich auf eine Diskussion über ein neues Schulsystem, eine neue Schule, ein Mehr an Förderung, ein Mehr an Leistung, ein Mehr an Durchlässigkeit gefreut habe und habe dann Reden von der Opposition gehört, die einer inhaltlichen Debatte ausgewichen sind und stattdessen versucht haben, den Eindruck zu erwecken, als ob mit diesem neuen Schulgesetz etwas Falsches passiert. Ich habe dann die ganze Zeit darüber nachgedacht, in welcher Situation unsere Schulen in Nordrhein-Westfalen zurzeit sind und wer eigentlich heute Morgen begründen muss, warum sich etwas ändert, oder ob man begründen muss, dass alles so bleiben kann, wie es ist.
Das ist überhaupt nicht schade; denn nach dem, was Sie, Frau Schäfer, als Rede abgeliefert haben, wüsste ich nicht, warum ich jetzt, nachdem ich gerade vier Sätze gesagt habe, anfangen soll, mit Ihnen zu diskutieren.
„Wir leisten uns im internationalen Vergleich das wohl teuerste (und bürokratischste!) Bildungssystem. Nur, das bestätigt uns Pisa immer wieder, sagt die Höhe der Bildungsausgaben nichts über die Qualität und die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems aus. Nicht nur, dass wir das Ziel, die besten Bildungschancen gerade für Kinder aus sozial schwächer gestellten Milieus zu erreichen, verfehlt haben: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die soziale Herkunft von so entscheidender Bedeutung für die Bildungs- und damit für die Berufs- und Aufstiegschancen wie heute. Maximaler Geldeinsatz für minimale Effekte – das ist ein denkbar schlechtes Geschäft, für den Staat, mehr noch aber für unsere Gesellschaft.“
Diese Sätze sind aus einem Aufsatz, der am vergangenen Sonntag im „Tagesspiegel“ erschienen ist, von Peer Steinbrück, meinem Vorgänger.
Es mag sein, dass man der Auffassung ist, was ich ausdrücklich nicht bin, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Aber wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, beginnt das Bewusstsein doch zuerst mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit.
Ich stelle fest, dass sich sowohl SPD als auch Grüne weigern, die Wirklichkeit des Schulsystems in diesem Land überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Wenn man selber die Chance hatte, 39 Jahre Schulpolitik zu machen, und liefert ein Ergebnis ab, wie es Peer Steinbrück in diesem Aufsatz be
schrieben hat, braucht man nicht zu begründen, warum sich etwas ändern muss. Es geht vielmehr darum, dass sich sehr schnell etwas ändern muss, weil jeder Tag, an dem sich nichts ändert, schlecht für die Kinder in unserem Land ist.