Protokoll der Sitzung vom 19.02.2014

Das gilt aber längst nicht nur für Kinder mit Rechenschwäche, sondern auch für andere Teilleistungsschwächen. Es gibt zahlreiche Problemlagen, die bei Kindern und Jugendlichen mit unverminderter kognitiver Leistungsfähigkeit zu Lernproblemen führen. Das können zum Beispiel Nebenwirkungen von wichtigen Medikamenten sein, die Folgen einer epileptischen Erkrankung, aber auch andere Beeinträchtigungen, die zu Erschwernissen und Nachteilen im Lernprozess führen.

Wie wird im Moment in NRW ein Nachteilsausgleich gewährt? – Aktuell gibt es nur für LeseRecht-schreib-Schwäche und Legasthenie einen Erlass. Für andere Teilleistungsschwächen gibt es keine eigene Regelung, auf die sich die Betroffenen berufen können, nur die allgemeine Formel – ich zitiere –:

„Soweit es die Behinderung oder der sonderpädagogische Förderbedarf einer Schülerin oder eines Schülers erfordert, kann die Schulleiterin oder der Schulleiter Vorbereitungszeiten und

Prüfungszeiten angemessen verlängern und sonstige Ausnahmen von Prüfungsverfahren zulassen.“

Aber nicht alle Teilleistungsschwächen resultieren aus einer Behinderung oder begründen einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Hier sind neben der Rechenschwäche auch ADHS oder Beeinträchtigungen durch Nebenwirkungen von Medikamenten zu nennen.

Es geht längst nicht nur um Prüfungssituationen und Prüfungsverfahren. Ein Nachteilsausgleich muss auch für andere Lernsituationen auf den Prüfstand.

Diese Problematik wird sich mittelfristig verschärfen, wenn das AO-SF, die offizielle Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs, zunehmend an Bedeutung verliert. Im Moment ist festgestellter sonderpädagogischer Förderbedarf mit der Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs verbunden. Wenn dieses Instrument immer weniger eingesetzt wird, entwickelt sich eine Schülergruppe, für die es hier Rechtssicherheit geben muss.

In der Praxis kommt es bei der Gewährung von Nachteilsausgleichen häufig zu Konflikten. Eltern fühlen sich nicht verstanden und sind orientierungslos. Aber auch Lehrer sind oft nicht in der Situation, gezielt Hilfe zu leisten, weil ihnen häufig die Kenntnis fehlt. Betroffene berichten uns, dass an Schulen nicht immer ausreichende Kenntnis zu Teilleistungsschwächen und den Möglichkeiten der Ausgleichsgewährung besteht. Dann müssen Eltern gegenüber Lehrern und Schulleitungen um Anerkennung der Teilleistungsschwäche ihrer Kinder werben, in Einzelfällen dann sogar betteln.

Wir wollen, dass sich der Landtag und die Landesregierung mit der Problematik auseinandersetzen. Wir möchten Betroffene und Fachleute dazu anhören und Maßnahmen finden, die die Situation der Betroffenen verbessern.

Wir brauchen eine Regelung für die Gewährung von Nachteilsausgleich, die den Betroffenen mehr Rechtssicherheit gibt. Wir brauchen neben den Bemühungen um individuelle Förderung auch wirksame Nachteilsausgleiche, um Kinder und Jugendliche mit besonderen Problemen mit Blick auf ihren schulischen Erfolg zu unterstützen.

Wir möchten gerne mit allen Fraktionen gemeinsam darüber diskutieren und zusammen eine Lösung finden. Wir hoffen auf eine konstruktive Debatte im Ausschuss. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Danke schön, Frau Pieper. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Frau Kollegin Spanier-Oppermann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Kein Kind zurücklassen und einem jeden die besten Bildungschancen ermöglichen – das ist ein Grundsatz unserer Politik in Nordrhein-Westfalen.

In der vergangenen Woche war ich zu Gast bei einer Familie in meinem Betreuungswahlkreis, die diesen Grundsatz zum Anlass nahm, mit mir über ihre neunjährige Tochter zu sprechen, bei der sowohl ADS als auch Dyskalkulie diagnostiziert wurden. Vor Ort konnte ich mir einen Einblick verschaffen und auch von Betroffenen erklären lassen, welche verschiedenen Formen von Teilleistungsschwächen und deren Folgen es gibt.

ADS oder ADHS, LRS sowie Dyskalkulie sind keine Nischenerscheinungen, sondern mittlerweile in fast allen Schulen Thema. Das liegt jedoch nicht daran, dass plötzlich immer mehr Menschen an diesen Symptomen erkranken, sondern ist auch darauf zurückzuführen, dass sich in den letzten Jahren die Diagnosemöglichkeiten deutlich verbessert haben. Die typischen Anzeichen werden nicht mehr wie früher als einfaches Zappelphilipp-Syndrom abgetan, sondern professionell als Erkrankungsbild erkannt und behandelt.

Viele Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, vor allem die Kinder sind aber nach wie vor mit den Auswirkungen überfordert und konnten und können die Erkrankung oft weder einordnen noch damit umgehen. Mit zunehmender förderpädagogischer Kompetenz an allen Schulen des Landes dürften sich die Fördermöglichkeiten für Kinder jedoch zukünftig noch verbessern.

Die Erkenntnisse der letzten Jahre zeigen, wie unterschiedlich die Formen der Erkrankungen auf die Kinder wirken. Das ist mir auch bei meinem Besuch der betroffenen Familie deutlich geworden. Die Geschichte ihrer kleinen Tochter zeigte mir, wie sehr die ganze Familie unter den Folgeerscheinungen leidet und dabei versucht, ihrem Kind das Beste zu ermöglichen.

Die psychischen Folgen, die oftmals entstehen, weil die Kinder den Leistungsanforderungen nicht gerecht werden können, belasten die Entwicklung der Betroffenen schwer. Ob einzeln oder in Kombination auftretend, sind ADS, ADHS, LRS oder Dyskalkulie sehr verschieden in ihrer Auswirkung auf das Verhalten und die Lernfähigkeit der Kinder.

Leider wird der Begriff der Teilleistungsstörung in Ihrem Antrag etwas unscharf gefasst, liebe Kollegen von den Piraten. Für Sie zählen dazu sowohl die eben genannten Erkrankungen als auch die chronischen Krankheiten plus solche, die aufgrund von Nebenwirkungen durch die Einnahme von Medikamenten entstehen. Allerdings macht gerade diese undifferenzierte Betrachtung besonders deutlich,

dass jeder Fall einzigartig ist und auch so behandelt werden muss.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Möglichkeit von Nachteilsausgleichen für Schülerinnen und Schüler mit Teilleistungsschwächen ist ein wichtiger Bestandteil einer individuell fördernden Schule, um gleiche Bildungschancen zu gewähren und eben kein Kind zurückzulassen.

Anders als in Ihrem Antrag formuliert, fehlt es in Nordrhein-Westfalen meines Erachtens nicht an Rechtsklarheit. In den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen der Schulformen, in denen Abschlüsse vergeben werden, sind Regelungen zum Nachteilsausgleich beschrieben. Diese gelten schulform- und schulstufenübergreifend für die gesamte Bildungslaufbahn.

So entscheidet während der Schullaufbahn die jeweilige Schule über die Gewährung und Form eines Nachteilsausgleichs, und zwar in enger Abstimmung mit den Eltern. Dieses Vorgehen ist auch unerlässlich, da nur über einen intensiven Austausch zwischen Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und Schülerinnen und Schülern eine optimale individuelle Förderung stattfinden kann.

Das Lehrerausbildungsgesetz und die Lehramtszugangsverordnung von 2009 sehen für alle Lehramtsstudiengänge entsprechende Lernmodule vor. Ebenfalls werden die Lehramtsanwärterinnen

und -anwärter in ihrem Vorbereitungsdienst seit 2011 auf der Grundlage eines neuen Kerncurriculums vorbereitet.

Daher ist das hier bemängelte Fehlen solcher Inhalte in der Ausbildung des Lehrpersonals nicht nachvollziehbar. Das Fachpersonal in den Schulen und den zuständigen Behörden kann aufgrund der vorhandenen Rechtslage, Ausbildung und Information eine individuelle Förderung der Kinder herstellen.

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Pieper?

Danke schön. – Bitte schön, Frau Pieper.

Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie sagen, es sei alles prima, und die Schulen gewährten ausreichend Nachteilsausgleiche. Wie erklären Sie sich dann, dass Eltern zum Teil vor Gericht gehen müssen, um das an der Schule durchsetzen zu können? Fakt ist doch, dass die Schulen das unterschiedlich handhaben. Es gibt Schulen, die da sehr großzügig sind, und Schulen, die das überhaupt nicht gewähren. Da kann man ja nicht von Chancengleichheit sprechen.

Frau Pieper, ich habe das gerade versucht deutlich zu machen. In dem konkreten Fall, den ich angesprochen habe, habe ich selber festgestellt, dass es tatsächlich unterschiedlich gehandhabt wird. Schulleitungen sind über manche Dinge oftmals auch nicht so informiert, wie wir beide uns das wünschen.

Leider haben Sie Ihre Zwischenfrage vor meinem letzten Satz gestellt. Der lautet nämlich, dass wir uns im Ausschuss weiter darüber unterhalten sollten, gerade was die Bereitstellung von Informationen über alle diese Dinge angeht. Schließlich haben wir das alles vorliegen. Die Schulen können das alles machen. Insofern sollten wir noch einmal zusammenkommen und gegebenenfalls auch über Änderungen bei der Informationsbereitstellung sprechen.

Das wäre also ohnehin mein letzter Satz gewesen. Ich freue mich also auf die Diskussionen im Ausschuss, die sicher sehr wichtig sind. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Spanier-Oppermann. – Nun spricht für die CDU-Fraktion Frau Birkhahn.

Herr Präsident! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Liebe Gäste auf der Zuschauertribüne! Wenn wir uns darüber unterhalten würden, was die Aufgaben von Schule sind, würden Sie mir eine Fülle von Möglichkeiten nennen: Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten, Sprachkompetenz, Fremdsprachenkenntnisse, kulturelle Bildung, Sozialkompetenz, Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten usw.

Ich möchte fast wetten, eine Aufgabe ist uns gar nicht so vertraut: Schule hat in einer demokratischen Leistungsgesellschaft die Aufgabe, Berechtigungen zu vergeben – Berechtigungen für weitere Wege, Ausbildungswege, Zulassungen zu Hochschulen usw. Das ist eine Aufgabe, die der Schule im gesellschaftlichen Auftrag auch gestellt wird.

Diese Berechtigungen müssen mit einem Höchstmaß an Gerechtigkeit auf den Weg gebracht werden. Deswegen gibt es ganz klar umrissene Aufgabenprofile. Deswegen gibt es Notendefinitionen. Deswegen gibt es Durchführungsbestimmungen und Verordnungen. Man versucht, durch einen Rechtsrahmen eine gerechte Aufgabenbewältigung zu ermöglichen.

Gerechtigkeit durch Klarheit: Das haben wir im Schulalltag so weit durchaus im Griff.

Aber bei der Chancengerechtigkeit sind wir noch nicht so weit. Da fehlt uns in manchem noch die Klarheit, um wirklich eine Chancengerechtigkeit herbeizuführen.

Wir haben im Bereich der Legasthenie über Jahre diagnostische Verfahren sowie Möglichkeiten der Förderung und der Erleichterung entwickelt, aber auch fest umrissene Möglichkeiten, diesem Nachteilsausgleich in Prüfungsverfahren gerecht zu werden. In diesem Bereich hat man also über Jahre einen Rahmen geschaffen. Es wurde versucht, bis hin zur Prüfungssituation Klarheit durch feste Vorgaben zu erreichen.

Aber es gibt noch weitere Teilleistungsschwächen, es gibt noch weitere Schwächen, die ausgeglichen werden müssen. Und da sind wir noch nicht so weit. Schauen Sie nur mal auf die Prüfungen, auf den Ausgleich während des Unterrichts bei Dyskalkulie, auf die Konzentrationsmöglichkeiten beim ADHSyndrom. Da gibt es ganz unterschiedliche Definitionen, Testverfahren. Man muss wirklich überlegen: Muss es der sonderpädagogische Förderbedarf sein? Gibt es auch dazwischen Möglichkeiten? Oft ist die Entscheidung für den Nachteilsausgleich auch davon abhängig, inwieweit sich Eltern letztlich durchsetzen können, wie entgegenkommend Schulleitungen sind. Wir gehen davon aus, dass eine verlässliche Rechtssicherheit noch nicht überall gegeben ist.

Der große Vorzug des Antrags ist, dass er den Fokus auf diesen Problembereich legt. Wir haben durch die Diskussion im Ausschuss wirklich die Chance, eine Bestandsaufnahme zu machen, um deutlich zu sehen: Wie können die einzelnen Bereiche abgegrenzt werden, definiert werden? Wie können während des Unterrichts Nachteilsausgleiche verlässlich herbeigeführt werden? Welche Möglichkeiten haben wir für den Prüfungszusammenhang?

Ich glaube, die Auseinandersetzung ist außerordentlich lohnend. Denn wir werden hier auch Chancengerechtigkeit in erhöhtem Maße herstellen können. Deswegen freue ich mich auf die fachliche Auseinandersetzung im Ausschuss, denn da gibt es die Möglichkeit, über politisches Geplänkel hinaus etwas für Menschen zu bewirken. Und das ist etwas, was die Arbeit wieder erfreulich macht. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und den PIRATEN)

Danke schön, Frau Birkhahn. – Nun spricht für die grüne Fraktion Frau Kollegin Beer.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Birkhahn, genau da will ich anschließen. Ich erachte den Antrag in der Tat für wichtig, gerade auch im Hinblick auf den Prozess der Inklusion, in dem wir uns befinden. Denn das müssen wir jetzt miteinander verweben. Das ist genau die Ausgangslage.

Ich habe viele Petitionen dazu begleitet: dass die Einzelfälle betrachtet werden, dass die Eltern mit

den Schulleitungen, der Schulaufsicht gemeinsam darüber diskutieren und darum ringen, ob ein Nachteilsausgleich gewährt werden muss oder nicht oder in welcher Form.

Diese Einzelfälle müssen wir zurückführen, damit das Ganze für alle Beteiligten verlässlich wird, damit für die Schulen Sicherheit da ist, aber natürlich auch für die Eltern, die das dann nicht mehr in jedem Einzelfall für ihre Kinder erkämpfen müssen.