Protokoll der Sitzung vom 29.11.2017

Die Zahl der Wohnungs- bzw. Obdachlosen steigt ständig an und ist heute so hoch wie nie zuvor. Erschreckend ist vor allen Dingen, dass immer mehr Frauen ohne Wohnung sind, die bekanntermaßen einen besonders schweren Stand auf der Straße haben. Die Frauenhäuser quellen über; auch hier ist die Zahl der schutzsuchenden Frauen so hoch wie nie zuvor.

Die Anzahl der Tafeln hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Trotzdem stehen diese Institutionen in den Großstädten immer wieder kurz vor dem Kollaps, weil sie den Andrang kaum noch bewältigen können.

Unsere Schulen befinden sich in einem Zustand, der laut Umfrage der „ZEIT“ so gut ist, dass ein Drittel der Schüler lieber auf das Trinken verzichtet, damit sie nicht mehr aufs Klo gehen müssen, weil sie sich dermaßen ekeln.

Ja, Deutschland ist ein reiches Land. Und die SPD beantragt eine Aktuelle Stunde, um die soziale Kälte der Landesregierung anzuprangern. Auch wenn sich

das Thema, über das wir heute sprechen, gegebenenfalls schon wieder erledigt hat – dachte ich der Presse nach zu urteilen zumindest, der Vorredner hat mich jetzt etwas verwirrt –, macht mich die Heuchelei der SPD besonders wütend. Plötzlich entdecken Sie Ihr soziales Gewissen: gestern noch naserümpfend über die Abgehängten schwadroniert und heute den Samariter spielen wollen.

(Zuruf von der SPD: Vorsicht mit solchen Aus- sagen! – Widerspruch von der SPD)

Die Abgehängten! Wer soll das denn eigentlich sein? Was ist denn das für ein Wort? Wir reden häufig über Sprache und über menschenverachtende Ausdrücke. Ich glaube, im öffentlichen Diskurs sind vor allem die sozial Schwachen – vermutlich insbesondere die deutschen sozial Schwachen – die Abgehängten. Wie despektierlich, wie hochmütig ist das denn?

In diesem Zusammenhang hören wir immer wieder, die AfD sei die Partei der Abgehängten. Das stimmt sogar zum Teil – aber nicht, weil wir für den Erhalt von zweifelhaften Sozialleistungen wie zum Beispiel dieses Ticket sind, sondern weil wir ihre letzte Hoffnung sind,

(Beifall von der AfD – Widerspruch von der SPD)

weil viele Menschen eben nicht über das nötige Geld verfügen, sich aus den Konsequenzen Ihrer ideologiebetriebenen, verantwortungslosen Politik freizukaufen.

(Beifall von der AfD – Widerspruch von der SPD und den GRÜNEN)

Die sitzen fest in den Stadtteilen, in die Sie schon lange keinen Fuß mehr gesetzt haben. Die Rentner, die Flaschensammler, sogar die Obdachlosen, Mütter, Kleinverdiener kommen zu uns an die Stände und erzählen uns von ihren Nöten, ihre Geschichte, weil sie sich sicher sind: Ihr Schicksal und ihre Ängste haben in den Parlamenten schon lange keinen Platz mehr.

(Beifall von der AfD)

Welchen Schluss sollen sie sonst auch ziehen, wenn sie das Fernsehen anmachen oder Zeitung lesen und feststellen: „Deutschland ist ein reiches Land, das Geld ist da; das Ideal muss nur hoch genug, die Idee groß genug sein, dann ist das Geld da; nur für die eigenen Leute, die, die schon länger hier sind, tut sich nichts“?

(Beifall von der AfD)

An die CDU gerichtet: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, diese Subvention zu streichen – in einem Land, das mit Kinderarmut, Altersarmut, Langzeitarbeitslosigkeit etc. zu kämpfen hat wie kaum ein anderes Bundesland –, um in den Straßenbau zu investieren? Den Medien nach zu urteilen bekommt

man dafür ca. 3,5 km. Da fragt man sich ehrlich: Sind Sie noch bei Trost?

(Beifall von der AfD)

Abschließend ist zu sagen: Wir halten das Sozialticket in der Tat für überarbeitungswürdig und sind davon überzeugt, dass Nutzerkreis, Geltungsbereich etc. auf den Prüfstand gehören. Sozialleistungen, die mit der Gießkanne verteilt werden und lediglich einen weiteren Benefit zum Leistungsbezug darstellen, sehen wir grundsätzlich kritisch.

Aber diese Debatte um eine einzelne kleine Leistung – ein Topf von 40 Millionen € – als Aufhänger zu nehmen, um sich hier als Robin Hood aufzuspielen, ist an Scheinheiligkeit kaum mehr zu überbieten. Ja, Deutschland ist ein reiches Land, aber eben nicht für jeden.

(Beifall von der AfD)

Für die Landesregierung erteile ich nun Herrn Minister Wüst das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kritik, die das Thema „Sozialticket“ in den letzten Tagen ausgelöst hat, kann ich gut verstehen; sie ist nachvollziehbar.

Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst. Ich sage Ihnen in aller Klarheit: Es ist unbestritten, dass Bedürftige auch in Zukunft zu fairen Preisen mobil sein müssen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zurufe von der SPD)

Der Kollege Deppe hat es gesagt – es ist in Ihrem Tumult untergegangen –: Das Sozialticket bleibt. Mobilität bedeutet Teilhabe, und deshalb brauchen wir auch in Zukunft ein entsprechendes Angebot.

Wir wollen das Ticketwesen in Gänze modernisieren. Wir wollen ein Azubiticket, damit Verbundgrenzen nicht die Ausbildung verhindern.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von Heike Gebhard [SPD])

Wir wollen ein landesweites E-Ticket, damit der ÖPNV attraktiver wird. Darüber, wie wir das organisieren, sind wir in Gesprächen mit denen, die die Angebote machen.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Seit wann?)

Wir wollen in Nordrhein-Westfalen dauerhaft vergünstigte Tickets für Bedürftige, wie Sie sie heute schon kennen. Das ist der entscheidende Punkt.

Entscheidend ist, was bei den Menschen ankommt. Auch aus Sicht der Betroffenen ist da noch Verbesserungsbedarf;

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Deswegen kür- zen!)

denn in der Praxis hängt es vom Wohnort ab, ob es überhaupt ein Sozialticket gibt und zu welchen Preisen es verfügbar ist. Die Zuwendungen erhalten die Kreise, die kreisfreien Städte oder die Verkehrsverbünde, die die Zuschüsse sehr unterschiedlich verwenden.

Wir werden das Jahr 2018 für die Neuordnung des Ticketwesens nutzen und mit den Verantwortlichen die genannten Fragen im Ticketwesen offen besprechen. Unser Ziel ist dabei eine dauerhafte und zukunftsfähige Lösung für die angesprochenen Themen.

Die Gespräche mit Verbünden und Kommunen zur Einführung eines fairen und effizienten Ticketsystems sollen durch die Debatten der letzten Tage nicht belastet werden. Deshalb haben wir mit den Koalitionsfraktionen im Rahmen der Haushaltsberatungen vereinbart, den Ansatz für das Sozialticket wieder auf 40 Millionen € anzuheben und den dauerhaften Bestand des Sozialtickets sicherzustellen – auch für die Folgejahre und weiterhin mit der Unterstützung des Landes.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Ich danke herzlich den beiden regierungstragenden Fraktionen, dass das möglich ist.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wenn wir das Ticketwesen in Summe anders aufstellen, ist das gut für die Nutzer insgesamt – auch für die Bedürftigen, aber nicht nur für sie. Ein einfaches Ticketsystem macht den ÖPNV attraktiver. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, diese Fragen zu klären. Alle Maßnahmen, die den ÖPNV attraktiver machen, bieten auch die Chance, Pendlerströme anders zu verteilen.

Meine Damen und Herren, es ist gut, dass wir heute noch einmal über dieses Thema gesprochen haben. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, die Position der Landesregierung zu erläutern und sicherlich auch Sorgen zu nehmen.

Politik muss auch mal einen Fehler korrigieren können. Unser Eindruck war, dass das in dieser Frage angezeigt war. Deswegen haben wir das gemacht. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Minister Wüst. – Für die SPD hat die Kollegin Lüders das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Wüst, man könnte ja fast Mitleid mit Ihnen haben, so wie Sie hier vorne stehen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Muss man aber nicht! – Gregor Golland [CDU]: Das ist das Letzte, was er braucht!)

Was in den letzten drei oder vier Tagen passiert ist, was Ihre Regierung hier treibt, zeugt aber nur von einer abstrusen Konzeptlosigkeit, die noch nicht mal des Mitleids bedarf.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zu- ruf von Horst Becker [GRÜNE])

Sie müssen sich ja schon fast vorkommen, als würde Ihnen die regierungstragende Mitte-rechts-Koalition etwas aufdrängen.

(Ralf Witzel [FDP]: Oh!)

Die 5 Millionen €, die Sie nach Ihrer Kürzung nunmehr bereitstellen wollen, müssen Sie ja als aufgedrängte Bereicherung empfinden.