Bevor ich das Wort weitergebe, nutze ich die Gelegenheit, eine Delegation aus den Vereinigten Staaten auf der Zuschauertribüne hier im Hohen Haus zu begrüßen. Es handelt sich um die Vize-Governor der Bundesstaaten Alaska, Louisiana, Michigan. Ihnen ein herzliches Willkommen hier im Landesparlament von Nordrhein-Westfalen!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach den erschütternden Meldungen zu den Missbrauchsfällen in Lügde stellten wir uns alle die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Haben Jungendämter und Ermittlungsbehörden mitsamt ihrer
Die Einzelheiten hierzu sind noch lange nicht in befriedigender Weise aufgeklärt. Die Aufklärungsarbeit ist Aufgabe des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV, den das Hohe Haus bereits im Sommer dieses Jahres eingerichtet hat. Das kann aber nur ein Teil sein.
Der PUA untersucht und arbeitet auf, wie der Name schon sagt. Die Frage geht weit darüber hinaus. Wir müssen sicherlich über staatliche Stellen reden, aber dann auch über alle, die Schulen und alle anderen, die mit Familien und Kindern in Berührung kommen. Dabei müssen sie gar nicht einen besonderen sozialen oder pädagogischen Auftrag haben. Wir müssen alle staatlichen und quasi-staatlichen Stellen einbeziehen und dabei hinterfragen, ob die gesamtstaatliche Verantwortung für den Schutz der Kinder ernst genommen wird.
Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass entscheidende Hinweise, die den Fall Lügde schon eher ins Rollen hätten bringen können, von einer Mitarbeiterin eines Jobcenters kamen. Das ist eine Form von Verantwortungsübernahme, die wir uns von allen wünschen, und wir müssen uns fragen, ob dazu wirklich alle willens, bereit und in der Lage sind.
Aber auch das reicht noch nicht aus. Der Auftrag zum Schutz von Kindern richtet sich auch an die Gesellschaft in all ihren Facetten. Ganz naheliegend ist hier der Verweis auf Kirchen, auf Vereine und andere Organisationen, insbesondere auf diejenigen, die als Träger Kitas betreiben, Familienhilfen anbieten, an Sportvereine und andere Einrichtungen, denen man seine Kinder anvertraut.
Aber auch hier muss der Kreis noch weiter gezogen werden. Auch die Betreiberin eines Kiosks, die Camper auf den Plätzen des Landes, ganz normale Menschen, denen man zufällig begegnet, müssen sich fragen: Hätte ich etwas gesagt, hätte ich etwas unternommen, wäre mir überhaupt etwas aufgefallen?
Diese Fragen gehen weit über das hinaus, was ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss leisten kann und soll. Deshalb kam in unserer Fraktion recht früh die Idee auf, dem Parlament eine Art dauerhafte institutionelle Selbstverpflichtung zum Kinderschutz, zur Wahrung der Interessen der Kinder vorzuschlagen, ein Gremium nämlich, das ganz genau hinschaut, das bewusst die Frage stellt, ob Staat und Gesellschaft in der Frage des Kinderschutzes wirklich genug tun und vor allem mit den richtigen Rahmenbedingungen, mit den richtigen Werkzeugen und finanziellen Mitteln ausgestattet sind.
Unser Fraktionsvorsitzender Thomas Kutschaty hat schon beim Aufkommen der ersten öffentlichen Debatte um Lügde und die Konsequenzen eine Kinder- oder eine Kinderschutzkommission vorgeschlagen
und auch bereits begonnen, dafür vorsichtig zu werben. Herausgekommen ist zunächst der PUA, was zweifellos richtig und wichtig war. Aber damit war für uns der weiter gehende Ansatz bei Weitem nicht vom Tisch. Es wurde hin und her überlegt, eine Enquetekommission einzurichten. Das wurde wieder verworfen. Schließlich nahm dann diese Kommission Konturen und Gestalt an und mündet in den heutigen Antrag.
Nur wenige Bundesländer räumen den Kindern und ihrem Wohl entsprechenden Raum ein. Es ist aber ein richtiger, ein wichtiger und ein ganz konsequenter Schritt, denjenigen einen Raum zu geben, die noch keine Möglichkeit haben, sich selbst für ihre Belange einzusetzen. Diese Kommission ist nun, wie wir finden, dafür der geeignete Rahmen.
Wir sind den anderen Fraktionen ausdrücklich und aus vollem Herzen dankbar für die konstruktive Zusammenarbeit, die gemeinsamen Anstrengungen, die nun den Weg freimachen werden. Denn eines ist klar: Bei der Frage des Kinderschutzes sollten wir bei allem Dissens in Detail immer versuchen, einen partei- und fraktionsübergreifenden Konsens zu erzielen, der dann auch wirklich das Zeug dazu hat, gesellschaftlich breit getragen zu werden.
Wie breit wir den Kinderschutz definieren und wie weit meine Fraktion die Kinderrechte definiert, wird gleich die Kollegin Altenkamp sicherlich noch ausführen. Eine ganz wichtige Facette ist hier jetzt schon mal angesprochen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Vater von drei noch kleinen Kindern denke ich oft an deren Zukunft. Wie eigentlich alle Eltern möchte ich, dass sie die bestmöglichen Chancen im Leben haben, behütet, selbstbestimmt und frei von Ängsten.
Leider gibt es auch Kinder, für die sich diese Wünsche nicht erfüllen. Es gibt Menschen, die nahezu Unaussprechliches an und mit Kindern tun und geschehen lassen. Zu diesen Menschen zählen in manchen Fällen sogar die leiblichen Eltern. Oftmals sind es gerade Personen, die diesen Kindern sehr nahestehen, bei denen sich die Kinder eigentlich geborgen und beschützt fühlen sollten – eine perfide Täterstrategie, die sprachlos macht.
Kinder brauchen in unserer Gesellschaft besonderen Schutz. Das Wohl der Kinder muss in unserem alltäglichen und politischen Handeln an erster Stelle stehen. Als Erwachsene, als Eltern, als Vorbilder, als Politikerin und Politiker – egal welche Rolle wir in dieser Gesellschaft einnehmen, zum Schutz unserer Kinder sollten wir zusammenstehen.
Ich bin deshalb äußerst froh, dass wir die Kinderschutzkommission ohne parteipolitisches Geplänkel heute einrichten. Das setzt die gute fraktionsübergreifende Zusammenarbeit in dieser Frage fort, die wir hier im Hause seit dem Bekanntwerden der schrecklichen Missbrauchsfälle in Lügde Anfang dieses Jahres haben. Auch die Landesregierung und der Landtag NRW ziehen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes an einem Strang. Wir senden heute ein wichtiges Signal in unser Land. Alle demokratischen Fraktionen des nordrhein-westfälischen Landtags sind im Ziel vereint, die Rechte und das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu wahren und zu verteidigen.
Die Einrichtung einer Kinderschutzkommission ist hierbei eine bedeutende und notwendige Entscheidung. Sie ist Teil eines konzertierten Vorgehens zum besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Verwahrlosung, Missbrauch, physischer und psychischer wie aber auch sexualisierter Gewalt. Da begrüßen wir es als NRW-Koalition, dass die künftige Kinderschutzkommission mit den notwendigen Werkzeugen ausgestatten wird, die es hierfür bedarf. Wir müssen alle bisherigen Ansätze hinterfragen, Prozesse auf den Kopf stellen und neu ausrichten.
Alle bestehenden staatlichen und kommunalen Strukturen im Kinderschutz müssen einer permanenten, eingehenden Prüfung unterzogen werden. Ebenso muss untersucht werden, wie die polizeiliche Ermittlungsarbeit die Kommunikation der zuständigen Stellen sowie die Strafverfolgung weiterentwickelt und optimiert werden können, damit solch abscheuliche Taten des Kindesmissbrauchs wie in Lügde oder in Bergisch Gladbach und Wesel, aber eben auch Fälle von Verwahrlosung und Vernachlässigung verhindert oder zumindest frühzeitig aufgedeckt werden können.
Das Mindeste, was wir tun müssen, ist, Kinder, die zu Opfern werden, schnellstmöglich aus ihrer Lage zu befreien und effektiv vor den Tätern zu schützen. Kurz: Wir brauchen unverzüglich Maßnahmen, die den Kinder- und Jugendschutz in unserem Land wirksam verbessern.
Dazu zählt auch die dringende Verbesserung des Opferschutzes. Leider dauert es bisher viel zu häufig viel zu lange, bis die Vernehmung der Opfer durch die Justiz abgeschlossen ist. Für alle Opfer, aber ganz besonders für Kinder ist es eine Qual, wenn sie sich mit ihren Ängsten alleine gelassen fühlen. Teilweise werden Opfer sogar mehrfach verhört und müssen dadurch ihr Martyrium erneut durchleben.
In manchen Fällen wird mit einer umfassenden therapeutischen Betreuung der Betroffenen erst nach Abschluss der Vernehmung begonnen. Wenn sich der Vernehmungsprozess zeitlich hinzieht oder aus welchen Gründen auch immer wiederholt werden muss, versagen wir den Opfern die dringend benötigte Hilfe zur Aufarbeitung des Geschehens.
Hierbei würde ich gerne mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, die Leiterin der Beratungsstelle Zartbitter, Ursula Enders, zitieren. Sie verglich ein Herauszögern der therapeutischen Betreuung mit der Situation, ein Kind mit inneren Blutungen nach einem Unfall auf der Autobahn liegen zu lassen. Eine ungeheure Vorstellung.
Nur wenn schnellstmöglich Hilfe sichergestellt werden kann, besteht eine realistische Chance, die Auswirkungen von Vernachlässigung und Gewalt auf das Leben der betroffenen Kinder zu reduzieren und ihnen später ein weitgehend normales Leben zu ermöglichen. Auch das ist unser gemeinsames Ziel.
Die Kinderschutzkommission hat zur Aufgabe, Perspektiven für die Weiterentwicklung des Kinderschutzes aufzuzeigen und die Kinderrechte in NordrheinWestfalen durchzusetzen. Darüber hinaus wird sie konkrete Vorschläge für den Schutz und für die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen erarbeiten. Damit ist die Kinderschutzkommission ein wichtiger Baustein, um den Kinder- und Jugendschutz in Nordrhein-Westfalen zu verbessern.
Neben der Arbeit des PUA zum Kindesmissbrauch und der Interministeriellen Arbeitsgruppe auf Regierungsebene sorgen wir künftig für eine dringend notwendige verstärkte Aufmerksamkeit für die wichtigen Belange des Kinder- und Jugendschutzes in Politik und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen. Wir müssen und werden aus den aktuellen Vorfällen die richtigen Lehren ziehen.
Ich wiederhole es gerne: Ich bin dankbar, dass wir dies heute fraktionsübergreifend beschließen werden. Es gilt, keine Zeit mehr zu verlieren. Das sind wir unseren Kindern schuldig. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der Grünen hat nun die Abgeordnete Frau Schäffer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der massenhafte sexuelle Missbrauch an Kindern auf einem Campingplatz in Lügde und auch der aktuelle Fall mit Tatverdächtigen unter anderem in Bergisch Gladbach und in Wesel sind nur die Spitze eines Eisbergs. Das physische, aber auch das psychische Leid dieser Kinder, die von ihren engsten Vertrauenspersonen missbraucht wurden, ist für uns unvorstellbar und macht einfach nur fassungslos.
Angesichts von Lügde und Bergisch Gladbach sollten wir uns eins immer vor Augen führen: Nur die allerwenigsten Fälle erreichen eine solche öffentliche Aufmerksamkeit. Es darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder leider ein alltägliches Phänomen ist und auch alle gesellschaftlichen Schichten durchzieht.
Laut Zahlen des Bundeskriminalamtes waren im Jahr 2018 bundesweit über 14.000 Kinder Opfer von sexueller Gewalt. Das sind im Schnitt 40 Kinder pro Tag. Wir alle wissen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Aus ganz verschiedenen Gründen werden diese Fälle nicht bekannt. Manche Kinder – wie auch in diesem aktuellen Fall – sind noch so klein, dass sie kaum oder gar nicht in der Lage sind zu verstehen, was für eine Gewalt es ist, die ihnen angetan wurde, und die auch gar nicht in der Lage sind, das zu verbalisieren.
Sexueller Missbrauch findet häufig im sozialen Umfeld statt. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Anzeigeverhalten.
Ich denke, uns muss klar und wichtig sein, dass wir in Verbindung mit dem Themenfeld „sexueller Missbrauch“ auch die Kinderrechte stärken. Kinder müssen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte zu kennen und auch Grenzverletzungen zu erkennen. Das heißt aber nicht, dass Kinder dafür verantwortlich sind, wenn sie sich keine Hilfe holen oder keine Hilfe holen können. Verantwortlich sind immer die Erwachsenen, nie die Kinder.
Vor diesem Hintergrund – die Erwachsenen sind verantwortlich – macht es mich fassungslos und es treibt mich um, dass Kinder in der Regel in Institutionen eingebunden sind und es trotzdem nicht auffällt.
Kinder sind in der Kita. Sie sind in der Schule. Sie sind im Sportverein. Sie sind in der Gemeinde. Trotzdem wird sexueller Missbrauch oft nicht erkannt. Vielleicht will man ihn auch nicht erkennen oder schaut vielleicht bewusst nicht ganz so genau hin.
Kitas, Schulen und alle anderen Räume in unserer Gesellschaft müssen Schutzzonen für Kinder sein, in denen kein Missbrauch stattfindet. Diese Institutio
nen müssen aber auch Räume sein, in denen Missbrauch auffällt und den betroffenen Kindern Hilfe zukommt.
Das setzt natürlich eine entsprechende Aus- und Fortbildung der Fachkräfte und eine Entwicklung von Schutzkonzepten in allen Einrichtungen, in denen sich Kinder aufhalten, voraus.