Protokoll der Sitzung vom 01.12.2005

Das schlechte Abschneiden von Rheinland-Pfalz bei der PISA-II-Länderstudie beweist aber auch, dass andere Länder viel schneller die richtigen Schlussfolgerungen gezogen haben. Vor allem in folgenden drei Bereichen besteht nach Meinung der Ersteller der PISA-Studie großer Handlungsbedarf: Fast 22 % der getesteten Schüler haben erhebliche Probleme, Texte beim Lesen zu verstehen. Ähnlich hoch ist der Prozentsatz in Bezug auf Mathematik. Diese über 20 % Schülerinnen und Schüler verfügen nicht über die Voraussetzungen für einen Schulabschluss, geschweige denn für eine berufliche Ausbildung. Sie werden deshalb als Risikogruppe bezeichnet.

Jugendliche mit Migrationshintergrund schneiden in allen Bereichen erheblich schlechter ab als deutsche Schüler. Über 50 % der getesteten türkischen Schüler gehören der so genannten Risikogruppe an. Bei den Aussiedlerkindern sind es 30 %.

Wenn man diese Ergebnisse vor sich liegen hat – Sie hatten sie vor sich liegen –, ist klar, dass eine der zentralen Schlussfolgerungen aus der PISA-Studie sein muss, den Migranten, vor allem der größten Gruppe der Migranten, den Türken, gezielt zu helfen, da das Bildungsniveau dieser Migrantengruppe erschreckend niedrig geblieben ist. Diese türkischen Jugendlichen befinden sich vor allem in der Hauptschule, im Berufsvorbereitungsjahr und jetzt in der neuen Berufsfachschule I.

Die CDU-Fraktion hat in den vergangenen Jahren wiederholt entsprechende Anträge gestellt, um die Hauptschule und die berufsbildende Schule zu stärken. Wir wollten kleinere Klassen,

(Schweitzer, SPD: Und größere Kindergartengruppen!)

mehr Praxisanteil, mehr Förderunterricht und mehr Schulsozialarbeit. Diese Landesregierung hat aber nicht reagiert. (Glocke der Präsidentin)

Wir haben in den berufsbildenden Schulen nach wie vor den höchsten strukturellen Unterrichtsausfall mit über 7 %. Über 330 Vollzeitlehrerstellen fehlen. In der Berufsfachschule I – das ist oft die letzte Chance für Jugendliche, sich zu qualifizieren – lag der strukturelle Unterrichtsausfall im vergangenen Jahr bei über 11 %. So fördert diese Landesregierung die Schwächsten der Schwachen und ist noch stolz darauf. Da fehlen mir eigentlich die Worte. Nachher rede ich aber weiter.

(Beifall der CDU)

Ich erteile der Frau Abgeordneten Morsblech das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man sich die Reden der Kollegen anhört, fragt man sich manchmal, ob nicht auch das Leseverständnis von Abgeordneten einmal getestet werden sollte.

(Beifall bei FDP und SPD)

Wenn man Qualität verbessern will, muss man meiner Meinung nach zu ein bisschen mehr Seriosität in der Debatte zurückkehren. Wir hatten heute offensichtlich schon einen Vorgeschmack auf den Programmparteitag der GRÜNEN und die Bildungspolitik, die dort stattfinden wird. Interessant, da muss man sich gleich ein wenig mehr vorkämpfen.

Wir haben tatsächlich viele neue und interessante Daten in der PISA-Studie 2003 gefunden. Es gab zu den Gymnasien einen Ländervergleich, bei dem wir gute bis mittlere Platzierungen erreicht haben. Es gab Daten zur Computernutzung im Elternhaus und in der Schule sowie zur sozialen Herkunft und zum Migrationshintergrund von Schülerinnen und Schülern. Ferner ist eine Auswertung der Daten im Hinblick auf die Verteilung von Bildungschancen erfolgt.

Es freut uns, dass, wie wir zuvor schon von Frau Kollegin Brede-Hoffmann gehört haben, durch den zusätzlichen Datenvergleich, der ermöglicht wurde, auch eine positive Entwicklung in der sozialen Gerechtigkeit zu verzeichnen ist. Natürlich dürfen wir uns mit mittleren Platzierungen nicht zufrieden geben. Das tut nach meinem Eindruck auch niemand. Wir in Rheinland-Pfalz wollen an die Spitze.

Wir sind uns bewusst, dass die Frage der Bildung und der Verteilung von Bildungschancen mit Sicherheit die soziale Frage der kommenden Jahre sein wird. Als Liberale sehen wir Chancengerechtigkeit ganz klar als Grundvoraussetzung dafür an, dass Menschen überhaupt ihre Fähigkeiten optimal entwickeln können, sodass Leistung und Leistungsfähigkeit sowie die Verantwortungsübernahme für sich und andere überhaupt möglich ist. Dabei darf Bildung auf keinen Fall zu einer Frage des Einkommens verkommen.

Herr Kollege Wiechmann, wenn man sich aber besondere Angebote nicht nur für Schwächere, sondern auch für Hochbegabte ansieht, ist das nicht eine Frage des Geldbeutels. Sie können vielleicht einmal eine solche Schule besuchen und sich einmal ansehen, wie sich da die Einkommensgruppen verteilen.

(Wiechmann, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die PISA-Studie stimmt nicht in dem Bereich, oder was? Lesen Sie, was da steht!)

Das ist wahrscheinlich für Sie dann aufschlussreich. Die Realität wollen Sie da nicht sehen.

Wir wissen alle auch aus zahlreichen anderen Studien, dass der Bildungserfolg natürlich sehr eng mit der Beherrschung der deutschen Sprache zusammenhängt. Wir wissen, dass sich Lesekompetenz vor allem bei Kindern gut entwickelt, die in ihrem Elternhaus möglichst viele Anreize zum Lesen vorfinden. Wir bekommen über PISA 2003 aber auch sehr deutlich vor Augen geführt, dass eine gezielte Förderung in unseren Bildungseinrichtungen, auch die, die schon stattfindet, diese Effekte erheblich verringern kann.

Wir haben sehr interessante Hinweise darauf, dass auch, wenn der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in Rheinland-Pfalz vergleichsweise groß ist, eine gezielte Sprach- und Leseförderung die Bildungspartizipation für diejenigen ermöglicht, deren Alltagssprache zu Hause nicht Deutsch ist. Wir haben gesehen, dass bei den Schülerinnen und Schülern – gerade für diejenigen, die im häuslichen Umfeld kaum einen Zugang zu neuen Medien bekommen – ein gezielter schulischer Computereinsatz dazu führt, dass sie genauso gut davon profitieren können wie diejenigen, die zu Hause bessere Bedingungen haben.

Wir müssen diese Erkenntnisse natürlich weiter aufgreifen und in unseren Bildungseinrichtungen gezielt umsetzen. Deshalb begrüßt auch die FDP-Fraktion noch einmal ausdrücklich, dass wir in dieser Legislaturperiode darin schon ganz, ganz wichtige Schritte vorangekommen sind. Wir werden nachher das Programm „Zukunftschance Kinder – Bildung von Anfang an“ verabschieden. Dieses Programm wird in Ergänzung zu der bisherigen Sprachförderung in unseren Kindertagesstätten und zu den Bildungs- und Erziehungsempfehlungen sowie der Reform der Erzieherinnenausbildung künftig faire Startchancen für alle Kinder garantieren. Wir dürfen in der Zukunft natürlich auch nicht mehr zulassen, dass unsere Kinder mit erheblichen Sprachdefiziten eingeschult werden.

Wir müssen auch dafür sorgen, dass Begabungen und auch mögliche Auffälligkeiten und Defizite früher als bisher diagnostiziert werden und in eine individuelle Förderung für jedes Kind münden, die sich durchgängig durch die Bildungslaufbahn zieht. Auch hier gibt es positive Beispiele, beispielsweise im Bereich der Begabungen den Entdeckertag im Raum Zweibrücken, der eine frühe Diagnose und eine frühe umfassende Förderung möglich macht. Wir müssen die Förderdefizite in bildungsfernen Familien auch weiter durch Angebote von Ganztagsschulen ausgleichen. Mit der breit angelegten Leseförderung sind wir auch auf dem richtigen Weg.

Nach wie vor ist mir die automatische Kopplung von individueller Förderung an die Idee der Einheitsschule für alle, wie sie von den GRÜNEN gern propagiert wird, nicht verständlich. Wir Liberale wollen, dass jedes Kind nach seinen eigenen Fähigkeiten und Begabungen in einem differenzierten und passgenauen Bildungssystem gefördert wird.

(Glocke der Präsidentin)

Dazu kann ich in der zweiten Runde noch etwas sagen.

(Beifall bei der FDP)

Das Wort hat Frau Staatsministerin Ahnen.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Abgeordnete! Wir hatten in diesem Plenum bereits einmal Gelegenheit, über die Ergebnisse der PISA-Studie zu diskutieren. Ich will einen Punkt aus dieser Debatte aufgreifen, der mir damals besonders wichtig war und mir heute genauso wichtig ist.

Ziel all unserer Bemühungen in der Bildungspolitik ist es, ein System zu schaffen, das Schülerinnen und Schüler individuell und gezielt fördert und gleichzeitig das größte Problem löst, das uns die beiden PISA-Studien in der Bundesrepublik Deutschland vorhalten, nämlich dass wir Bildungserfolg und Bildungsbeteiligung stärker von der sozialen Herkunft entkoppeln. Für mich stehen gleichberechtigt zwei Ziele nebeneinander, und zwar Leistungsverbesserungen und mehr Chancengleichheit. Daran richten wir unsere Maßnahmen aus.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich gehe so weit – das habe ich damals auch deutlich gemacht – und sage: Ein vorderer Rankingplatz – Herr Keller, zur Lesekompetenz gehört auch, ein bisschen auf die Signifikanzen zu achten, vor allen Dingen, wenn auf 30 Seiten von Wissenschaftlern erklärt wird, dass sie die Rankingplätze überhaupt nicht benutzen können –

(Zuruf des Abg. Keller, CDU)

wäre für mich noch kein Erfolg, wenn wir nicht gleichzeitig die Frage der sozialen Chancengleichheit gelöst hätten.

(Beifall der SPD und der FDP)

Ich habe das alles gesagt, bevor die Daten veröffentlicht waren und der Gymnasialvergleich vorlag. Mit den Ergebnissen brauchen wir uns wahrlich nicht zu verstecken. Wir brauchen uns auch insgesamt nicht zu verstecken. Ich will noch einmal die Kernbotschaft wiederholen, die auch Herr Prenzel in seinem Text geschrieben hat. Rheinland-Pfalz ist eines von den sieben Bundesländern, die in allen Bereichen der PISA-Studie mindestens den OECD-Durchschnitt erreicht haben. Das haben nur sieben Länder in der Bundesrepublik Deutschland geschafft. Dazu gehört Rheinland-Pfalz.

(Beifall der SPD – Hartloff, SPD: Das hat Herr Keller nicht gelesen!)

Herr Abgeordneter Wiechmann, Sie werfen uns vor, in Rheinland-Pfalz würden wir nur auf Elitenbildung setzen, und kein Kind hätte bisher von unseren Maßnahmen

profitiert. Ich habe einen viel besseren Ansatz. Wir fördern die Leistungsschwächeren genauso wie die Leistungsstärkeren, weil beides wichtig ist. Wir spielen das nicht ideologisch gegeneinander aus.

(Creutzmann, FDP: Sehr gut!)

Sie dürften bestimmt schon mit ein paar von den tausenden Schülerinnen und Schülern und deren Eltern gesprochen haben, die die 304 Ganztagsschulen besuchen. Dann haben Sie schon welche getroffen, die von dem Bildungsausbau in Rheinland-Pfalz profitieren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Frage der sozialen Chancengleichheit ist und bleibt eine riesige Herausforderung, die ich annehme. Wenn man diese annimmt, muss man sich vergewissern, wo man steht. Frau Abgeordnete Brede-Hoffmann hat bereits auf die Vorlage von Herrn Prenzel am 3. November 2005 hingewiesen, die die Zahlen zwischen 2000 und 2003 wirklich einmal vergleichbar macht.

Siehe da, wenn man sie vergleichbar macht, ist das Land Rheinland-Pfalz das Land, in dem in dieser Frage die Fortschritte am größten sind. Ich sage dazu: Da ich mit den Zahlen vorsichtig umgehe, stelle ich auch diese nicht so dar, als hätten wir kein Problem. – Wir haben nach wie vor ein Problem. Man muss den Ausgangspunkt realistisch sehen. Dann kann man feststellen, dass es Schritte in die richtige Richtung gibt. Diese Schritte in die richtige Richtung müssen fortgeführt werden.

Wenn wir im Anschluss an diese Debatte über das Gesetz zum Ausbau der frühen Förderung diskutieren, ist das eine unserer zentralen Antworten, die wir auf die Frage der frühen Förderung und Chancengleichheit geben. Diese ist meines Erachtens auch überzeugend. Ich weiß, dass das bei der nächsten PISA-Studie noch keine Ergebnisse beeinflussen wird, weil die Kinder erst in zehn oder 15 Jahren an der PISA-Studie teilnehmen. Trotzdem tun wir es, weil es richtig ist.

(Beifall der SPD und der FDP)

Herr Abgeordneter Wiechmann, wenn es um die Gymnasialquote geht, wäre es schön, wenn Sie, was Ihren Intentionen sehr entgegenkommen muss, mit berücksichtigen würden, dass bei uns zum Beispiel in der Jahrgangsstufe 11 10 % der Schülerinnen und Schüler überhaupt nicht aus dem Gymnasium kommen. Diese haben es geschafft, über die Realschule über den mittleren Abschluss, das 10. Hauptschuljahr oder die Regionale Schule in die gymnasiale Oberstufe zu kommen. Das ist ein Beleg für die Durchlässigkeit. Wir werden an dieser Stelle nicht nachlassen, damit diese Durchlässigkeit erhalten bleibt.

(Beifall der SPD und der FDP)

Übrigens habe ich die Schülerinnen und Schüler, die die neuen Optionen im berufsbildenden Bereich über das berufliche Gymnasium oder die Berufsoberschule nutzen, noch nicht eingerechnet. Das waren für uns Motivationen, diese Reformen auf den Weg zu bringen, und

zwar mehr Durchlässigkeit, mehr soziale Gleichheit und noch bessere Leistungen in diesem Bildungssystem.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, damit wir das mit dem Lesen und Interpretieren gut miteinander auf die Reihe bringen, darf ich auf den Herausgeber PISAKonsortium Deutschland und dessen Buch „PISA 2003 – Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland – Was wissen und können Jugendliche?“ verweisen. Auf der Seite 133 geht es um die Frage der Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund.

Dort steht, im Bereich Lesen und Naturwissenschaften ist der Unterschied zwischen den Kindern mit und ohne Migrationshintergrund in Rheinland-Pfalz am geringsten. Im Bereich der Mathematik erreichen wir den zweitbesten Wert. Bei der Problemlösekompetenz sind wir ebenfalls eines von zwei Ländern, denen laut PISAKonsortium – ich zitiere – „die Förderung der Migranten offenbar am besten gelingt“. Auch darauf ruhe ich mich nicht aus. Man sollte aber schon zur Kenntnis nehmen, dass man uns bescheinigt, dass wir offensichtlich erste Erfolge zu verzeichnen haben, was die Kinder mit Migrationshintergrund angeht.

(Beifall der SPD und der FDP)

Auch das in anderen Ländern viel zitierte Problem, dass die Schülerinnen und Schüler der so genannten ersten Generation noch schlechter als diejenigen abschneiden, die später nach Deutschland zugezogen sind, haben wir in Rheinland-Pfalz nicht. Das ist alles kein Grund, sich auszuruhen, aber eine gute Grundlage, auf der wir weiterarbeiten können.