Protokoll der Sitzung vom 15.05.2002

ein. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ihr Antrag macht klar – Herrn Böhr nehme ich als Unterstützer dieses Antrags mit ins Boot –, in welch tragische argumentative Position Sie sich gebracht haben.

Ich zitiere aus Ihrem Antrag: Forschungen an embryonalen Keimzellen von Föten nach induziertem Abort sind Forschungen an humanen embryonalen Stammzellen vorzuziehen. – Stimmen Sie dem auch zu, Herr Böhr? Müssen wir einen Embryo erst im Mutterleib heranwachsen lassen, bis er durch eine individuelle Entscheidung der Mutter zu einem toten Fetus wird, dem wir dann schutzfrei eine Keimzelle entnehmen dürfen?

(Frau Thomas, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was für ein Unfug!)

Frau Thomas, ich frage mich in der Tat, ob man so argumentieren darf.

Ich darf diesen Antragsteil noch einmal verlesen: Forschungen an embryonalen Keimzellen von Feten nach induziertem Abort sind Forschungen an humanen embryonalen Stammzellen vorzuziehen. – Das habe nicht ich geschrieben. Das ist Teil Ihres Antrags.

(Zuruf des Abg. Böhr, CDU)

Ich möchte weitere krasse Bewertungen dieses Themas in diesem Zusammenhang vermeiden, sondern einfach nur zum Ausdruck bringen, dass ich diese Haltung als mehr als problematisch ansehe.

(Beifall bei FDP und SPD)

Ich bitte um Verständnis, dass ich angesichts dieser Widersprüche nicht weiter auf den Antrag eingehen kann.

Die Haltung der CDU-Fraktion in ihrem Antrag – nicht in dem, was Sie erläuternd hinzugefügt haben, Herr Böhr – empfinde ich als sehr viel konsequenter. Sie ziehen sich in der Tat auf die katholische Position des Bischofsbrief zurück: Absoluter Lebensschutz! Schluss, Ende, Basta!

Das ist konsequent. Das ist auch der Diskussion des Status quo angemessen und konsequent. Es ist aber auch eine verengende Sicht der Dinge, weil Sie sich nur auf den absoluten Lebensschutz beziehen. Ich habe zu Beginn meiner Rede darauf hingewiesen, dass es um ein Bündel konkurrierender Güter geht. Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie das Gut „absoluter Lebensschutz“ herauspicken und die anderen drei vernachlässigen. Ich will gar nicht auf die deontologischen und utilitaristischen Unterschiede bzw. auf die Pflichtenethik und Nutzenethik eingehen, obwohl es sehr spannend wäre, das zu erläutern. Das Problem bei der oft sehr theoretisch geführten Diskussion ist, dass die konkreten Punkte auf der Strecke bleiben.

Ich frage die beiden Fraktionen, wo der absolute Lebensschutz in einem biotechnischen Bereich bleibt, den auch die katholische Kirche stützt und billigt, im Bereich der In-vitro-Fertilisation. Im Bereich der In-vitroFertilisation ist es selbstverständliche Praxis, dass drei

Embryonen herangezogen werden, um einen Embryo zu implantieren. Das wissen wir alle. Wo bleibt der absolute Lebensschutz in diesem Bereich? Das dient natürlich einem anderen Zweck, Herr Böhr. Das geht in die Richtung „Leben schaffen“. Dann soll Leben verwerfen plötzlich erlaubt sein? Wenn es im Bereich der Heilung Leben rettet, soll es nicht erlaubt sein? Diesen Unterschied müssen Sie mir erläutern.

(Böhr, CDU: Sie müssen doch den Unterschied sehen!)

Es gibt weitere Bereiche, in denen der absolute Lebensschutz infrage gestellt wird, der sonst ganz selbstverständlich in unserer Gesellschaft ist. Niemand fragt bei uns nach dem absoluten Lebensschutz bei dem juristischen Grundsatz von Notwehr und Nothilfe. Niemand fragt bei militärischen Einsätzen danach. Selbst in banalen Bereichen wie bei tausenden von Verkehrstoten wird die Frage des absoluten Lebensschutzes nicht gestellt. Das sind ganz wichtige Punkte. Herr Böhr, wenn Sie auf die Basis der Diskussion eingehen wollen, dann können Sie nicht beliebig Dinge herauspicken, so wie es Ihnen passt.

Meine Damen und Herren, wenn wir über diese Bereiche der Medizin sprechen, dann darf ich darauf verweisen, dass es in der Geschichte der Medizin immer heroische Figuren gab, die bis hin zu Selbstversuchen an die Grenzen des Lebens gegangen sind und über Selbs tversuche hinaus gerade zu Beginn medizinischer Erprobungen das Lebensschutzprinzip relativiert haben.

Anders könnte man den Umgang mit Patienten und Probanden bei manchen neuen Techniken nicht gutheißen. Wenn wir an die ersten Herztransplantationen denken, wusste jeder, dass nicht davon auszugehen ist, dass diesen Menschen tatsächlich auf Dauer geholfen werden kann.

Ein weiterer Punkt: Sehen Sie den absoluten Lebensschutz. Herr Böhr, Sie erwähnten schon den Hirntod. Unter biotechnischen Aspekten hat der Hirntote mehr Leben und genetische Codierung in sich als das Embryo. Selbstverständlich muss man beiden gerecht werden. Sie können heute einen Hirntoten über eine Zellentkernung und eine Rückführung über eine Klontechnik zu einer neuen Totipotenz führen. Das ist medizinische Realität und nicht Fiktion. Die Dammbrüche, die Sie mit einem rigorosen Riegelvorschieben verhindern wollen, sind längst geschehen. Das unter Gutheißung von uns allen. Das ist ein wesentlicher Punkt.

Meine Damen und Herren, auch der Schrei der gequälten Not leidenden Kreatur begründet einen starken moralischen Auftrag. Ich habe bei der vorhergehenden Diskussion ein Beispiel gebracht, das ich heute erneut bringen möchte, um Ihnen über diesen gemeinsamen Antrag hinaus auch die weiter gehende Position der FDP, auf die ich nachher noch eingehen darf, zu erläutern: Wer oder was berechtigt uns dazu, einem durch in vitro gezeugten fünfjährigen Kind, das todkrank ist, eine Therapie zu verweigern, die auf der Nutzung seiner tiefgefrorenen eineiigen Zwillinge fußt, die ihrerseits keine Chance auf Implantation und Leben haben, die

verworfen werden? Eine solche Therapie unter Rückgriff auf so genannte überzählige Embryonen sollte in Zukunft irgendwann möglich sein. Wir Liberalen gehen in der Tat so weit zu glauben, dass der Mensch, so er das könnte, dies sogar müsste.

Ich danke Ihnen.

(Beifall der FDP und der SPD)

Zu einer Kurzintervention erteile ich zunächst der Frau Abgeordneten Thomas und dann Herrn Abgeordneten Böhr das Wort.

Meine Damen und Herren! Herr Dr. Schmitz, so ganz verstehe ich das nicht, was Sie praktizieren. Sie sagen zu Beginn Ihrer Rede: Ja, die FDP-Fraktion plädierte im Bundestag für verbrauchende Embryonenforschung. – Also für die Erzeugung von embryonalen Stammzellen aus Embryonen bzw. auch für die Produktion von Embryonen, um solche Stammzellen herzustellen, weil Sie mir nicht weismachen können, dass man diese Embryonen nicht in irgendeiner Form herstellen muss.

Gleichzeitig versuchen Sie sich in der Bewertung uns erer Aussage moralisch zu überheben, es sei ethisch weniger problematisch – so steht es im Antrag, wenn Sie ihn komplett lesen, wobei ich weiß, dass dieser Antrag umfangreich ist –, in der Forschung auf adulte Stammzellen zurückzugreifen, die vorhanden sind. Sie sind vorhanden im Gewebe von erwachsenen Menschen oder auch in Embryonen bzw. in Feten, die abgetrieben wurden. Es steht mit keinem Ton darin, dass Feten oder wachsende Embryonen abgetrieben werden müssen, damit wir sie beforschen können. Das haben Sie doch auf den Kopf gestellt.

(Kuhn, FDP: Das hat er nicht gesagt!)

Natürlich hat er das so formuliert! Deshalb reagiere ich auch so heftig darauf.

(Kuhn, FDP: Das hat er mit keinem Wort gesagt!)

Es geht nicht, auf der einen Seite pro Embryonenverbrauch zu argumentieren und auf der anderen Seite das aufzumachen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hartloff, SPD: Das war die Zuspitzung eines Gedankengangs! Mehr nicht!)

Ja, aber mit welcher Zuspitzung? Wir haben uns in der Argumentation meiner Meinung nach mit Zuspitzungen sehr enthalten. Ich habe ein Beispiel für einen sehr weit gehenden Antrag der FDP-Fraktion im Bundestag gebracht. Bisher haben wir in der Diskussion solche Zuspitzungen und solche Umdrehungen noch nicht erlebt.

Ich will zu einem weiteren Punkt etwas sagen, nämlich zu dem, was Sie zur In-vitro-Fertilisation gesagt haben. Wenn Sie beim Symposium anwesend waren, wissen Sie – das hat meiner Meinung nach Frau Professor Beck-Gernsheim sehr deutlich gemacht –, was aus Entscheidungen resultiert, die wir vor 20 Jahren getroffen haben. Damals wurde die In-vitro-Fertilisation mit einer sehr engen Indikation formuliert, nämlich künstliche Befruchtung in der Petrischale für Frauen, die keine Kinder auf natürlichem Weg bekommen können, weil ihre Eileiter verklebt sind. Das war die einzige Indikation für eine künstliche Befruchtung außerhalb des Körpers.

Mittlerweile haben wir eine Vielzahl von zusätzlichen Indikationen. Es ist kaum eine Eingrenzung möglich. Sie geht so weit, dass Paare, die scheinbar nicht in der Lage sind – noch nicht einmal medizinisch nachgewiesen –, ein Kind zu bekommen, auf die künstliche Befruchtung außerhalb des Körpers zurückgreifen können.

Eine ebenso große Ausweitung haben wir bei der Pränataldiagnostik. Frau Beck-Gernsheim hat mit Recht darauf hingewiesen, dass dann, wenn wir es bei diesen einzelnen Behandlungsmöglichkeiten nicht schaffen, enge Indikationen beizubehalten, werden wir das auch nicht bei der PID schaffen, die nämlich eine Kombination von beiden ist. Das ist eine Diagnostik in der Petrischale, um schon vorher zu selektieren.

Herr Dr. Schmitz, ich komme auf das Beispiel zurück, das Sie mit der Frage gebracht haben, ob es möglich ist, dass ein in vitro gezeugtes Kind über kryokonservierte Zwillingsembryonen behandelt werden kann, die noch vorhanden sind. Genau in diese Fragestellung treiben Sie uns immer weiter und tiefer hinein, wenn Sie nicht zu einem frühen Zeitpunkt Grenzen setzen.

(Glocke des Präsidenten)

Dafür haben wir plädiert. Das kann man nicht am Einzelfall entscheiden, sondern es muss eine grundsätzliche Entscheidung getroffen werden. Vorhin in meinem Beitrag habe ich versucht, deutlich zu machen, dass wir uns vielleicht in vielen Details einig sind, wir uns aber über die grundsätzlichen Fragen auseinander setzen müssen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu einer Kurzintervention erteile ich Herrn Abgeordneten Böhr das Wort.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Dr. Schmitz, bevor wir über ein so schwieriges Thema wie die Bioethik reden, müssen wir uns gemeinsam auf Regeln der Kommunikation verständigen. Da war zuvor auch schon einmal die Rede davon. Zu den Regeln der Kommunikation gehört es unter anderem, dass man nicht einem Dritten das Wort

im Mund herumdrehen darf. Das haben Sie auf klassische Weise mit dem Antrag der GRÜNEN gemacht.

(Beifall bei der CDU)

Das war nicht fair und führt übrigens auch zu nichts außer zu dem, dass man seine eigene Argumentation selbst gänzlich entwertet.

Die zweite Regel der Kommunikation ist die – man tut sich selbst keinen Gefallen, wenn man das macht –, dass man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen darf. Das haben Sie mit Blick auf unsere und meine Argumentation geradezu unausgesetzt getan.

Ich rede von Leben und Würde des menschlichen Lebens. Ich behaupte, dass der Schutz des Lebens und der Würde und die Unantastbarkeit dieser Würde nicht in ein Konkurrenzverhältnis zu anderen Rechtsgütern gesetzt werden darf. Das habe ich eben noch einmal relativ ausführlich begründet. Sie darf beispielsweise nicht in Konkurrenz zu dem Rechtsgut der Freiheit von Forschung und Wissenschaft gesetzt werden. Sie tun das. So weit so gut. Man kann das probieren. Wenn die FDP diese Diskussion sozusagen als ein Labor betrachtet, in dem man Argumente probiert, ist es Ihr gutes Recht, das zu tun, zumal wir nicht zu entscheiden haben. Sie können das noch besser als die Freien Demokraten im Deutschen Bundestag.

Wenn Sie das tun, würden Sie aber ein neues Kapitel Verfassungsgeschichte schreiben. Ich komme auf Ihr Beispiel mit der Abtreibung und den § 218 zu sprechen. Wenn ich das Bundesverfassungsgericht richtig verstehe, ist eine Abtreibung zwar weiter rechtswidrig, aber straffrei in den Fällen, in denen genau dieses Rechtsgut Schutz und Würde des Menschen ausschließlich in einen Widerstreit zu ein und demselben Rechtsgut, nämlich zum Schutz der Würde und des Lebens der Frau gerät. Nur dann ist eine Abtreibung straffrei.

Bei der Notwehr verhält es sich übrigens genauso, weil sonst wäre es jedesmal Notwehr, wenn ich jemanden auf die Rübe schlage. Nur wenn mein eigenes Leben existenziell gefährdet ist, habe ich das Recht, die Integrität einer anderen Person anzugreifen. Nur dann.

Wenn Sie jetzt sagen, das interessiert mich alles nicht, ich mache jetzt etwas ganz anderes, sage ich noch einmal: Das ist Ihr gutes Recht. – Herr Dr. Schmitz, dann sagen Sie aber bitte, nach welchem Kriterium das geschieht.

Wenn Sie sagen, es gibt zwischen der Wissenschaftsfreiheit auf der einen Seite und der Unantastbarkeit der Würde des Menschen auf der anderen Seite eine Spannung, dann sagen Sie aber bitte, nach welchem Kriterium Sie dieses Spannungsverhältnis auflösen, sprich die Grenze definieren; – –

(Glocke des Präsidenten)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss.