Schließlich wird in dem Schreiben nochmals die grundsätzliche Konzeption erläutert, die für das Ministerium der Justiz und für das Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit für die Einrichtung des Jugendheims „Mühlkopf“ maßgebend war. In der Vergangenheit hatten die Gerichte in Rheinland-Pfalz Unterbringungen nach §§ 71 und 72 des Jugendgerichtsgesetzes regelmäßig nicht angeordnet, weil die infrage kommenden Einrichtungen nicht entweichungssicher, aber die dort an sich unterzubringenden Jugendlichen fluchtgefährdet waren. Ziel war es also, ein baulich eintweichungssicheres Heim zu schaffen, damit die Gerichte Unterbringungen nach §§ 71 und 72 Jugendgerichtsgesetz in Erfüllung des Gesetzesauftrags vornehmen konnten.
Mit dieser Grundkonzeption war es deshalb naturgemäß nicht vereinbar, wenn das Jugendheim „Mühlkopf“ in Rodalben einen Jugendlichen im Hinblick auf dessen Fluchtabsichten nicht aufnehmen wollte. Sofern das Heim die im Schreiben seines Mitarbeiters vom 14. Oktober 2003 vertretene Auffassung zur Grundlage seiner Tätigkeit gemacht hätte, wäre es bei der bisherigen Situation verblieben, dass die Gerichte keine Unterbringung nach §§ 71 und 72 Jugendgerichtsgesetz angeordnet hätten. Insofern wäre das gesamte Projekt Jugendheim „Mühlkopf“ gefährdet gewesen.
Die Argumentation im Schreiben des Ministeriums der Justiz leuchtete dem Leiter des Jugendheims „Mühlkopf“ in Rodalben ein. Er bestätigte deshalb fernmündlich am 24. Oktober 2003 gegenüber der zuständigen Referentin im Ministerium der Justiz, dass er die im Schreiben des Justizministeriums niedergelegte Auffassung voll inhaltlich teile. Die in dem Schreiben des Heimmitarbeiters vom 14. Oktober 2003 für die Nichtaufnahme vorgebrachten Gründe beruhten auf einem Missverständnis. Die Referentin im Ministerium der Justiz möge die Staatsanwaltschaft Koblenz veranlassen, erneut an das Jugendheim „Mühlkopf“ wegen der Aufnahme von Ferid T. heranzutreten. Die zuständige Referentin hat daraufhin die Bitte des Leiters des Jugendheims „Mühlkopf“ an den Leitenden Oberstaatsanwalt in Koblenz weitergegeben. Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat sodann am
24. Oktober 2003 die Unterbringung im Jugendheim „Mühlkopf“ beantragt. Der entsprechende Beschluss des Amtsgerichts Koblenz erging antragsgemäß am 27. Oktober 2003.
Das dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit nachrichtlich zugesandte Schreiben des Ministeriums der Justiz vom 23. Oktober 2003 veranlasste die dort zuständige Referentin, sich mit der im Ministerium der Justiz zuständigen Referentin fernmündlich in Verbindung zu setzen und ihr mitzuteilen, dass sie die Auffassung des Ministeriums der Justiz teile, dass Fluchtgefahr nicht grundsätzlich eine Ablehnung der Aufnahme begründen könne.
Zu Frage 3: Eine wichtige Voraussetzung für die Aufnahme eines Jugendlichen ist seine Zustimmung zur Maßnahme. Eine Aufnahme ist unter anderem dann ausgeschlossen, wenn nach der Schwere des Tatvorwurfs eine Betreuung im Rahmen der Jugendhilfe nicht vertretbar ist, beispielsweise durch die Gefährdung anderer Jugendlicher in der Einrichtung. Somit sind Jugendliche von der Aufnahme ausgeschlossen, die durch ihr Gewaltpotenzial eine erkennbare Gefährdung für andere Jugendliche oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtung darstellen. Wenn „Heimerziehung statt Untersuchungshaft“ durch den Richter bzw. die Richterin angeordnet wird, dann handelt es sich dabei nicht um eine besondere Form des Vollzugs von Untersuchungshaft, sondern um ein Jugendhilfeangebot. „Heimerziehung statt Untersuchungshaft“ unterliegt damit dem rechtlichen Auftrag und fachlichen Rahmen des SGB VIII.
Für die Betreuung der bis zu sechs jungen Menschen sind 8,5 Personalstellen im Erziehungsdienst vorges ehen. Es wurde vereinbart, in der Gruppe selbst einen Nachtdienst, also volle Dienstzeit, einzurichten, der durch die zwei Bereitschaftsdienste in den beiden anderen geschlossenen Gruppen der Einrichtung unterstützt wird. Zusätzlich ist eine Rufbereitschaft mit Leitungskompetenz vorhanden.
Ein Großteil der Beschäftigten dieser Gruppe hat Anfang November 2003 an einem zweitägigen Deeskalationstraining des Trägers teilgenommen. Hierbei wurde als Regel im Konfliktfall dargelegt, lieber die Jugendlichen flüchten zu lassen, als sich selbst Gefahren auszusetzen.
Die Einrichtung hat für die Gruppe „Heimerziehung statt Untersuchungshaft“ bauliche Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Hierzu hat im Juli 2003 eine Begehung der Örtlichkeiten unter Beteiligung des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit, des Landesjugendamtes und des Ministeriums der Justiz stattgefunden. Bei dem Gespräch war ebenfalls ein Vertreter der Justizvollzugsanstalt in Zweibrücken zugegen.
Danach wurden folgende Sicherungsmaßnahmen ergriffen: Sicherung aller Fenster durch Gitter, Absicherung der Oberlichter der Zimmertüren, Bereichsabschlusstür mit Gitterfenster, Türschließanlagen mit der Möglichkeit für den einzelnen Untergebrachten, die Tür zu verschließen, um sich zurückziehen zu können. Gleichzeitig kann durch die Betreuer von außen die
Selbsteinschließung jederzeit aufgehoben und die Tür auch verschlossen gehalten werden. Ein Zimmer wird als sogenanntes Isolierzimmer mit Außenschließung und Klingelanlage zum Betreuerzimmer ausgestattet. Es besteht eine Rufbereitschaft, also Hintergrundbereitschaft, über Telefon. In dem Gebäude sind zwei weitere geschlossene Gruppen untergebracht. In jeder der beiden Gruppen hat ein Mitarbeiter Nachtbereitschaft. Es besteht die Möglichkeit, in Notfällen einen der beiden Mitarbeiter telefonisch um Unterstützung zu bitten. Die Konzeption des Heimes sah nicht vor, dass die Jugendlichen nachts in ihren Zimmern eingeschlossen sind. Das Landesjugendamt hat bei den Terminen vor Ort auf gefährliche Gegenstände aufmerksam gemacht. Dazu gehörten unter anderem der Messerblock. Er wurde daraufhin aus der Küche entfernt und in einem Schrank im Erzieherzimmer aufbewahrt.
Der rechtliche Auftrag und die fachlichen Zielsetzungen der Jugendhilfe erlauben und ermöglichen keine absolut sichere Einschließung. Freiheitsentziehende Maßnahmen wie „Heimerziehung statt Untersuchungshaft“ sind nur insoweit möglich, als dass sie nach den Regeln der Jugendhilfe sozialpädagogisch begründbar sind. Im Mittelpunkt steht daher ein pädagogisches Konzept mit einem eng strukturierten Alltag, der auch Möglichkeiten freiheitsentziehender Maßnahmen vorsieht.
Zu Frage 4: Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit hat unter Beteiligung des Ministeriums der Justiz eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Aufgabe der Arbeitsgruppe ist die Aufklärung des Geschehens. Daraus soll sie Schlussfolgerungen für das pädagogische Konzept, die Verfahrensabläufe und die Sicherungsvorkehrungen ziehen. Die Arbeitsgruppe wird voraussichtlich im Dezember 2003 ihre Arbeit beenden und Anfang Januar 2004 den beiden Ministerien einen schriftlichen Abschlussbericht vorlegen. Noch im Januar werden der Justizminister und ich die Ergebnisse im Kreis von Expertinnen und Experten mit Blick auf die notwendigen Konsequenzen erörtern. Bericht und Expertengespräch sind Grundlage für die weiteren politischen Entscheidungen. Bis dahin ruht der Betrieb der Gruppe „Heimerziehung statt Untersuchungshaft“.
Können Sie sagen, wegen welcher Straftaten, Vergehen oder Verbrechen die drei Jugendlichen verurteilt wurden? Welche Tenorierung wurde dabei vorgenommen?
Herr Abgeordneter Baldauf, ich habe die entsprechende Liste jetzt nicht vorliegen. Wir haben das – bzw. Herr Kollege Mertin – in der vergangenen Sitzung des
Rechtsausschusses aber ausführlich dargelegt. Ich meine, dass die Delikte umfänglich bekannt sind. Die Landesregierung reicht die Unterlage aber gern nach. Ich bin aber nicht davon ausgegangen, dass wir jetzt noch einmal alle Straftaten verlesen sollen.
Frau Ministerin, Sie haben ausgeführt, dass die erste Stellungnahme des Heimes wegen der Fluchtgefahr letztlich ein Missverständnis gewesen sei. Mir ist nicht ganz klar – wenn es ein Konzept gibt, das vom Justizm inisterium, vom Sozialministerium und vom Heim erarbeitet worden ist –, wie in einer solch zentralen Frage ein Missverständnis erfolgen kann. Wie ist zu erklären, dass es in dieser Frage ein Missverständnis geben kann, obwohl das doch ein Kernpunkt des Konzepts ist?
Ich hätte schon gern gewusst, wie das zu verstehen ist. Vor allen Dingen ist mir die Begründung zu den Buchstaben a und c des Schreibens immer noch nicht klar. Vielleicht können Sie da noch ein bisschen Licht ins Dunkel bringen.
Herr Abgeordneter Dr. Rosenbauer, das Missverständnis lag einfach bei dem Punkt, inwieweit das Thema „Fluchtgefahr“ ein Grund ist, jemanden aufzunehmen oder nicht aufzunehmen. Wir selbst sind bei den Gesprächen nicht dabei gewesen. Der Gruppenleiter hatte dieses Schreiben an die Justiz adressiert. Im Nachhinein ist klargestellt worden, dass das Thema „Fluchtgefahr“ allein kein grundsätzlicher Punkt sein kann, um die Aufnahme abzulehnen. Man muss das einfach auch ein Stück weit so erklären, dass diese Einrichtung neu war und sich das Miteinander der unterschiedlichen Beteiligten in einer Art Prozess befand. Das bedeutet natürlich, dass immer wieder Fragen aufgetaucht sind, die zwischen den Beteiligten abgesprochen und entwickelt worden sind.
Für den Einrichtungsleiter, Herrn Teufel, war es völlig klar, dass das Thema „Fluchtgefahr“ als Begründung keine Begründung sein kann, um die Aufnahme abzulehnen.
Ich habe das ausdrücklich dargestellt. Die §§ 71 und 72 des Jugendgerichtsgesetzes sind meiner Meinung nach von der Zielrichtung her unumstritten. Die Justiz in Rheinland-Pfalz hatte in den vergangenen Jahren immer wieder das Problem, dass sie Jugendliche, bei denen Fluchtgefahr besteht, nicht in einer Einrichtung der Jugendhilfe unterbringen konnte oder wollte, weil es keine entweichungssichere Einrichtung gab. Das war der
Grund, weshalb überhaupt Rodalben eingerichtet worden ist. Es ist aus meiner Sicht nicht so ungewöhnlich, dass man sich in einem neuen Verfahren unter den Beteiligten über bestimmte Dinge immer wieder verständigen muss.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, wenn die Arbeitsgruppe ihre Ergebnisse vorgelegt hat und die politischen Konsequenzen daraus, so wie Sie das vorgetragen haben, besprochen worden sind, das im Rechtsausschuss und im Sozialpolitischen Ausschuss dem Parlament zu erläutern?
Herr Abgeordneter Hartloff, das ist für mich selbstverständlich. Es ist wichtig, dass man insgesamt über die Konzeption auch dort noch einmal diskutiert. Wir müssen jetzt abwarten, was die Arbeitsgruppe erarbeitet und was uns die Expertinnen und Experten empfehlen. Ich würde mich sehr darüber freuen, im Anschluss daran im Rechtsausschuss und im Sozialpolitischen Ausschuss das Ganze noch einmal miteinander diskutieren zu können, bevor Konsequenzen daraus gezogen werden.
Frau Kollegin, ich weiß das. Ich darf Sie aber auf die Geschäftsordnung aufmerksam machen. Danach hat zunächst der Fragesteller das Recht, Zusatzfragen zu stellen. Sind wir uns darüber einig, dass das so ist?
Herr Baldauf hatte sich noch einmal gemeldet. – Das war offenbar ein Missverständnis. Dann ist jetzt Frau Kollegin Grützmacher an der Reihe.
Frau Dreyer, ich habe noch eine Frage, weil ich in Ihren Ausführungen einen Widerspruch sehe. Vielleicht habe ich aber auch einiges nicht genau mitbekommen. In dem Brief wurde von den Mitarbeitern über Ferid T. geschrieben, dass er seine Aufnahmebereitschaft relativiert – ich weiß nicht mehr genau, was Sie da gesagt haben –, während Sie auf der anderen Seite richtigerweise gesagt haben, dass Voraussetzung seine Zustimmung ist, wenn ein Jugendlicher in dieses Heim kommt. Hat Ferid T.
Die Relativierung bezog sich aus meiner Kenntnis heraus auf den einen Punkt der Fluchtgefahr. Ferid T. hat offenbar in den Vorgesprächen immer wieder betont, dass er Möglichkeiten nutzen wolle, um abzuhauen.
Insgesamt kann ich sagen, dass an dem Verfahren sowohl die Jugendgerichtshilfe als auch die Einrichtung und die Justiz beteiligt sind. Nach den ersten Missverständnissen kam es zu Kontakten unter allen Beteiligten. Alle Beteiligten haben sich dann dafür ausgesprochen – inklusive des Betroffenen –, dass eine Aufnahme in Rodalben eine richtige und sinnvolle Maßnahme sei.
Frau Ministerin, in Ihren Ausführungen im Sozialpolitischen Ausschuss haben Sie darauf hingewiesen, dass die Jugendlichen über Nacht nicht in ihren Zimmern eingeschlossen werden sollten. Wenn ich eben Ihre Darlegungen zum Sicherheitskonzept richtig notiert habe, haben Sie gesagt, dass dies wahlweise aufgrund der Schlossanlagen möglich sein sollte. Waren die tatsächlichen Voraussetzungen dafür gegeben oder nicht?
Frau Abgeordnete Thelen, die tatsächlichen Voraussetzungen dafür waren gegeben, weil auch die Jugendhilfe davon ausgeht, dass es im Rahmen eines solchen Konzepts Situationen geben kann, in denen es angemessen ist, einen Jugendlichen nachts einmal einzuschließen. Im Gegensatz zum Jugendstrafvollzug ist das aber keine Dauergeschichte, sondern das wird von der jeweiligen Situation abhängig gemacht. In Rodalben ist, soweit wir im Moment den Tathergang kennen, keiner der Betreuerinnen und Betreuer, irgendjemand aus dem Team, davon ausgegangen, dass es bei einem der Jugendlichen notwendig gewesen wäre, nachts das Zimmer zu verschließen. Deshalb ist das aus deren Sicht nicht erforderlich gewesen. Daher waren die Zimmer auch nicht abgeschlossen.
An dieser Stelle betone ich, dass man sich den Ablauf in einer solchen Einrichtung einmal vorstellen muss. Die Jugendlichen leben dort tagsüber ganz normal miteinander. Sie kochen miteinander, und dort werden auch die künftigen Perspektiven mit den Jugendlichen entwickelt. Bereits nach kurzer Zeit gibt es Lockerungsmaßnahmen in dem Sinne, dass mit den Jugendlichen nach draußen gegangen wird usw. Deshalb ist es nicht typisch für ein solches Konzept – das ist auch in anderen Einrichtungen
so –, dass man nachts die Jugendlichen wegschließt. Im Einzelfall, wenn bestimmte Gefährdungssituationen deutlich werden, hat aber die Einrichtung die Möglichkeit, nachts einen Jugendlichen einzuschließen.
Noch einmal zurück zum Merkmal Fluchtgefahr. Frau Ministerin, würden Sie mir Recht geben, dass die Ablehnung vonseiten des Jugendheims nicht allein auf die Fluchtgefahr begrenzt war, sondern dass man dort auch gesagt hat, es sei keine sinnvolle pädagogische Arbeit mit diesem jungen Menschen möglich, weil er durch seine Veranlagung und seine Potenz, auch andere zu motivieren, bestimmte Dinge mit ihm zu tun, für dieses Konzept nicht geeignet ist?
Ich habe vorhin meines Wissens ziemlich genau vorgetragen, was nach Mitteilung des Justizministeriums die Gründe waren, die angegeben worden sind. Ein Grund ist gewesen, dass zu diesem Zeitpunkt nicht erkennbar war, welche Einrichtung der Jugendgerichtshilfe für Ferid T. zuständig ist. Das ist natürlich ein Problem. Dieses Problem ist aber dann ausgeräumt worden.
Ein weiterer Grund ist – darauf hat Frau Grützmacher noch einmal hingewiesen –, dass Ferid T. seine Zustimmung zur Aufnahme in das Jugendheim relativiert hatte. Ein dritter Punkt ist, dass sich das Heim aufgrund seiner Rahmenbedingungen und seiner Konzeption nicht in der Lage sah, die erforderliche Sicherstellung der hauptverhandlungspädagogischen Arbeit zu leisten. Das bezog sich auf den Punkt, dass der Jugendliche akut fluchtgefährdet erschien.
Frau Dreyer, Sie haben von einem sehr umfangreichen Sicherheitskonzept berichtet, von Türen, die von außen verschlossen werden können usw. Aus Zeitungsmeldungen ist mir bekannt, dass es wohl eine Anweisung gab – ich bitte Sie, uns Näheres darüber mitzuteilen, wenn Sie dazu etwas wissen –, dass die zu Tode gekommene Betreuerin ihre Tür nicht verschließen sollte,