Protokoll der Sitzung vom 17.03.2004

(Abg. Frau Thomas hält einen Bierdeckel hoch)

und – das muss ich Ihnen jetzt zum Abschluss bringen – und damit aufhören.

(Abg. Frau Thomas hält ein weißes Plakat hoch – Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es spricht Herr Finanzminister Mittler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Böhr hat die Frage nach der Ausgangslage gestellt. Damit will ich beginnen. Von welcher Ausgangslage diskutieren wir über eine Steuerreform in der Bundesrepublik Deutschland?

Im Jahr 2000 wurde eine Steuerreform verabschiedet, die über drei Stufen in Kraft trat und noch tritt. Die letzte Stufe wird im Jahr 2005 in Kraft treten. Infolge dieser Maßnahme der Gesetzgebung ist der Einkommensteuersatz gegenüber dem Jahr 1998 von 25,9 % auf 15 % gesunken. Der Spitzensteuersatz ist von 53 % auf 42 % abgesenkt worden. Der Körperschaftssteuersatz ist von 45 % auf 25 % gesunken. Die Gewerbesteuer spielt für Einzel- und Personenunternehmen keine Rolle mehr, weil sie im Wesentlichen mit der Einkommenssteuer verrechnet werden kann. Zugleich wurde das steuerfreie Existenzminimum auf nahezu 7.700 Euro pro Steuerpflichtiger, bei Zusammenveranlagung also auch für den Ehegatten, angehoben. Zugleich wurde das Kindergeld erhöht.

Dies hat in der Summe der beschlossenen Maßnahmen – soweit sie bereits in Kraft getreten sind – dazu geführt, dass die volkswirtschaftliche Steuerquote, die noch im Jahr 2000 23 % betragen hat, im vergangenen Jahr auf 20,7 % abgesenkt wurde. Das ist die niedrigste volkswirtschaftliche Steuerquote, die es seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gibt. Im Übrigen ist dies die mit Abstand niedrigste volkswirtschaftliche Steuerquote in der Europäischen Union.

Diese Absenkung um 2,3 Prozentpunkte bezogen auf ein Bruttoinlandsprodukt von 2,1 Billionen Euro macht eine jährliche steuerliche Entlastung von rund 50 Milliarden Euro aus. Damit komme ich zu dem ersten Schluss. Wir haben bereits eine Steuerreform mit beträchtlichen Entlastungen für die Steuerzahler – seien es

die Unternehmen oder die Bürgerinnen und Bürger – in den vergangenen Jahren umgesetzt.

Herr Kollege Böhr, das ist eine einfache Rechnung: Niedrige direkte Steuern gleich hohes wirtschaftliches Wachstum. Diese Gleichung, wenn sie jemals richtig war, stimmt längst nicht mehr.

(Böhr, CDU: Das ist wahr!)

Im Jahr 2000 hatten wir die höchste volkswirtschaftliche Steuerquote und das höchste Wachstum der vergangenen 14 Jahre.

Im vergangenen Jahr hatten wir die niedrigste Steuerquote und ein schwaches Wachstum.

Wo stehen wir mit unseren Steuersätzen im europäischen Vergleich? Ich gehe jetzt von den Steuersätzen aus, wie sie im Jahr 2005 mit 42 % in Kraft sein werden. Es gibt nur vier Länder, die besser dastehen als wir, nämlich Luxemburg mit 39 % sowie Griechenland und Großbritannien mit 40 %. Diese Länder haben aber einen Tarif, bei dem die Spitzenbelastung wesentlich früher beginnt als bei uns. Deshalb können wir sagen, dass in Bezug auf die Spitzenbesteuerung nur Luxemburg und Portugal besser sind bzw. mit unserer Situation verglichen werden können.

Mit dem Eingangssteuersatz von 15 % können wir uns ebenfalls sehen lassen. Damit sind wir mit die Besten im europäischen Vergleich.

Ein Schönheitsfehler ist, dass wir heute in Bezug auf die Unternehmensbesteuerung mit 25 % Körperschaftsteuer zuzüglich der Gewerbesteuer bei 38,5 % liegen. Das ist im europäischen Vergleich relativ hoch. Im Vergleich zu den anderen Ländern gilt bei uns jedoch eine außerordentlich günstige Bemessungsgrundlage.

Nun will ich noch eine Anmerkung zu den Familien mit Kindern machen, die Herr Kollege Dr. Böhr bemüht hat. Wenn ich das richtig im Kopf habe, haben Sie in alter Währung von einem Betrag von 67.000 DM gesprochen, bis zu dem keine Steuern zu bezahlen wären. Wir sind heute doch schon weiter. Eine Familie mit zwei Kindern zahlt heute unter Einbeziehung des Kindergelds vergleichbar oder der Günstiger-Rechnung schon mit einem steuerpflichtigem Einkommen von 37.300 Euro keine Steuern mehr. Das ist erheblich besser als das, was Sie für die Zukunft anstreben, Herr Kollege Dr. Böhr. Der Steuerfreibetrag ist gegenüber 1998 um nahezu 10.000 Euro im Jahr für Familien mit Kindern angewachsen!

Nun zu den Millionären, die sich arm rechnen. Meine Damen und Herren, ich weiß, das wird auch in meiner Partei nicht selten in einer Schieflage diskutiert. Ich spreche das so an, wie es sich in meinem Kopf befindet. Ich sage Ihnen, wir dürfen die Relation nicht aus dem Auge verlieren. 5 % der Höchstverdiener, die zur Einkommensteuer veranlagt werden, erbringen 42 % des gesamten Einkommensteueraufkommens. 10 % der Höchstverdienenden erbringen 53 % des gesamten Einkommensteueraufkommens. Deshalb sage ich, man sollte genauer hinsehen und weniger auf Vorurteile

hören und auch keine eigenen bilden, sondern man sollte sich an den Fakten orientieren.

Meine Damen und Herren, jetzt soll eine große Steuerreform her. Sie wird übrigens von denen gefordert, die sich im Vermittlungsverfahren außerstande sahen, den von 16 % auf 15 % reduzierten Eingangssteuersatz bereits im Jahr 2004 gelten zu lassen.

(Beifall der SPD)

Das waren dieselben – ich weiß, wie schwer das ist und diffamiere diese Meinung auch nicht –, denen die Absenkung des Spitzensteuersatzes im Jahr 2004 von 45 % auf 42 % viel zu hoch war. Dieselben, denen der Steuerausfall viel zu weit ging, fordern die große Steuerreform, die ganz einfach werden müsse.

Herr Kollege Böhr, ein Wort zum Vorschlag von Herrn Professor Kirchhof. Wir unterstützen Kirchhof im Rahmen seiner Arbeiten bei einem sehr konkreten Projekt gemeinsam mit Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen.

Ich bin vor einigen Wochen mit Herrn Merz bei einem Redaktionsgespräch der „Wirtschaftswoche“ zusammengetroffen. Herr Merz hat dort formuliert – deshalb habe ich mich gewundert, dass Sie vorhin auf Kirchhof abgefahren sind, aber wir müssen nicht all das für richtig halten, was jeweils unsere Parteien für richtig halten –,

(Mertes, SPD: Richtig!)

„Kirchhof“ sei nicht bezahlbar. Das wisse mit Ausnahme von Kirchhof auch jeder.

Wenn Sie Kirchhof erwähnen, will ich Ihnen dazu nur zwei Dinge sagen. Kirchhof lässt beispielsweise hinsichtlich der Unternehmensbesteuerung nicht die Bildung von stillen Reserven zu. Er sagt, es dürfen keine stillen Reserven entstehen. Was heißt das? Stille Reserven, beispielsweise bei Grundstücken, die dadurch entstehen, dass sich das gemeindliche Planungsrecht und damit die Planungskonzeption verändert, indem aus Ackerland Bauland wird, oder die durch Wertsteigerungen usw. entstehen, werden von Kirchhof nicht akzeptiert. Wer stille Reserven in den Bilanzen vermeidet – sie können nur im Anlagevermögen entstehen –, muss permanent entsprechend der Wertentwicklung der Güter eine Zuschreibung vornehmen. Damit kommt es zur Besteuerung nicht realisierter Reserven. Was denken Sie wohl, was in Deutschland los ist, wenn wir an die Besteuerung nicht aufgedeckter stiller Reserven herangehen? Was meinen Sie, wie heute die Wirtschaftspresse über die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin hergefallen wäre, wenn sie das gestern verkündet hätte?

Ich nenne noch einen anderen Gesichtspunkt zu Kirchhof. Er lässt im Bereich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nicht mehr die steuerliche Geltendmachung von Erhaltungsaufwendungen zu. Wenn Heide Simonis das gestern verkündet hätte, wäre in Deutschland der Teufel los.

Ich sage das nicht, um den Vorschlag von Kirchhof herunterzureden. Ihm kommt ein hohes Verdienst zu, indem

er die Frage der Steuervereinfachung in den Fokus der politischen Auseinandersetzung gestellt hat. Das ist in der Tat dringend notwendig.

Meine Damen und Herren, Herr Kollege Itzek hat bereits einiges aus dem Bericht der Steuerabteilungsleiter zitiert. Das will ich nicht alles wiederholen. Im Zusammenhang beispielsweise mit der Pendlerpauschale wird aber so getan, als könne man die einfach auf null zusammenstreichen. Ich will nicht vorlesen, was im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit der beabsichtigten Kürzung der Pendlerpauschale von Unionsvertretern dazu gesagt wurde, wobei ich mir auch gar nicht die Mühe gemacht habe, das nachzulesen, was dann mit den armen Pendlern passiere. Der CDU-Vorschlag sieht vor, über 50 Kilometer hinausgehende Entfernungen steuerlich nicht mehr zu berücksichtigen.

(Dr. Böhr, CDU: In dem neuen?)

Ja, in dem neuen Vorschlag.

Herr Dr. Böhr, zu den Vorschlägen der Union hat vergangene Woche das „Handelsblatt“ einen schönen Bericht gebracht. Die Vorschläge zum Arbeitsmarkt und allen anderen möglichen Dingen der Union halten jedoch kaum von 11:00 Uhr bis zum Mittagsläuten. Sie haben eine Lebensdauer, die wirklich nur als marginal bezeichnet werden kann.

(Beifall der SPD – Wirz, CDU: An die eigene Nase packen!)

Ich empfehle den heutigen umfangreichen Artikel von Professor Tiedtke zur Lektüre, der vor dem Bundesverfassungsgericht das Urteil in Bezug auf die Spekulationssteuer erstritten hat, in dem er sagt, die steuerliche Geltendmachung der Pendlerpauschale kann nicht gestrichen werden, weil der dadurch entstehende Aufwand des Arbeitnehmers mit der Erzielung seiner Einkünfte im Zusammenhang steht. Kirchhof sagt, die Arbeit beginnt am Werkstor. So ist das auch in Amerika. Wir haben aber eine andere Rechtslage. Die Pendlerpauschale ist keine beliebige Verfügungsmasse.

Alle Vorschläge, die auf dem Tisch lagen und die Gegenstand der Untersuchung der Steuerabteilungsleiter waren, sehen den Wegfall der Gewerbesteuer vor. Meine Damen und Herren, die Grunddebatte dazu brauchen wir jetzt nicht zu eröffnen. Dazu hat jeder seine Meinung, an der er auch festhalten soll. Ich will aber nur auf Folgendes aufmerksam machen: Im Jahr 2003 haben die rheinland-pfälzischen Kommunen netto nach Abzug der Umlage einen Betrag von 661 Millionen Euro über die Gewerbesteuer eingenommen. Wissen Sie, was es bedeutet, wenn die Gewerbesteuer wegfallen würde und die dadurch entstehenden Mindereinnahmen der Kommunen über Zuschläge auf die Körperschaft- und Einkommensteuer erhoben werden müssten?

Ich will Ihnen nur zwei oder drei Größenordnungen aus dem Jahr 2002 vorlesen. Ludwigshafen hatte im Jahr 2002 89,9 Millionen Euro, Mainz 78,2 Millionen Euro und Koblenz 41,1 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen.

Meine Damen und Herren, was bedeutet das? Ich plädiere dafür, dass sich jeder über die Folgen seiner Forderung, wenn sie umgesetzt werden würde, im Klaren ist. Dies hätte nicht nur eine beträchtliche Verlagerung von den Unternehmen zu den privaten Steuerzahlern – zum Teil auch zu den Unternehmen selbst, sofern sie Einkommen- oder Körperschaftsteuer zahlen –, sondern auch im Wesentlichen zu der Masse der Einkommenund Lohnsteuerzahler zur Folge.

Nach wie vor ist die Frage unbeantwortet – deswegen wundere ich mich über den Vorschlag des von mir wegen seiner hohen Intelligenz geschätzten Herrn Duppré –, welche Verwerfungen es von den Standortgemeinden der Unternehmen zum Umland gibt, und zwar von Ludwigshafen nach St. Martin, Edenkoben und Maikammer? Diese Frage der Verteilung des Transfers von den Standortgemeinden zu den Wohngemeinden ist bislang nicht beantwortet. Deswegen ist das nicht befriedigend.

(Beifall der SPD – Itzek, SPD: So ist das!)

Diejenigen, die die Abschaffung der Gewerbesteuer fordern, müssen darauf eine Antwort geben.

Meine Damen und Herren, die Abteilungsleitungen und die Finanzminister haben sich die Meinungen nicht nur bis auf Seite 50, wie gesagt wurde, sondern bis auf Seite 92 zu Eigen gemacht. Ich lese einen Satz vor: „Die Untersuchung zeigt, dass die an eine große Steuerreform zu stellenden Anforderungen von keinem der untersuchten Modelle vollständig erfüllt werden.“ – Über die haushaltsmäßigen Auswirkungen ist bereits einiges gesagt worden. Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

Meine Damen und Herren, ich rede über 10 Milliarden Euro, 20 Milliarden Euro und 40 Milliarden Euro, wobei ich mich, was die vorgelegten Modelle anbelangt, durchaus mit dem Konzept des Sachverständigenrats, um dies als positive Aussage mit hinzuzufügen, anfreunden könnte, wenn die Frage der Verlagerung der Gewinne von den Arbeitseinkünften in die unternehmerische Sphäre klar geregelt und dort eine Brandmauer gezogen werden könnte. Das ist eine schwierige Frage, die offen ist. Ich hätte für einen solchen Ansatz sehr viel Sympathie. Die Modelle, die auf dem Tisch liegen, kosten allesamt erheblich mehr.

Deswegen war die Arbeit der Steuerabteilungsleiter, die lesenswert ist, so wertvoll. Sie hat nämlich die Einzelmodelle aus der Anonymität und der Behauptung der jeweiligen Verfasser zur Aufkommensneutralität ans Tageslicht gebracht und einmal gerechnet, sofern sie die Rechnung zuließen.

Meine Damen und Herren, wer den Menschen draußen erzählt, unsere öffentlichen Haushalte hätten Luft für weitere Steuersenkungen, muss bedenken, dass der Gesamtstaat im vergangenen Jahr etwas mehr als 80 Milliarden Euro Defizit hatte – nahezu 4 % bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt – und damit Maastricht klar verletzt. 20 Milliarden Euro Steuerentlastung sind ein Prozentpunkt. Deshalb dürfen wir nicht unsere Anstrengungen darauf richten, wie aus den 4 % möglicherweise

5 % gemacht werden, sondern das Defizit muss zurückgeführt werden.

Wer die Behauptung aufstellt, dass man die Steuer tief genug senken muss, damit mehr in die Kasse kommt, dem muss ich sagen, dass diese Rechnung noch in keinem Land auf der Welt aufgegangen ist, auch bei Herrn Reagan nicht; denn dieser hat ein desaströses Haushaltsloch hinterlassen, das erst wieder durch die Steuererhöhungen, die sein Nachfolger Bill Clinton eingeleitet und umgesetzt hat, beseitigt wurde. Das sind die tatsächlichen Verhältnisse.

Deswegen sage ich: Wer sagt, weniger Verschuldung und mehr Ausgaben auf Feldern, die für die Zukunft unseres Landes von Bedeutung sind, wie Forschung und Bildung, und zugleich Steuersenkung, der versucht einen Dreisprung, der nicht geht, bei dem er sich überschlägt und letztlich auf die Nase fällt. Politisch verantwortliche Finanzpolitik muss darauf achten, dass sie beide Seiten im Auge behält, und zwar die Budgetpolitik, wie Stoltenberg es einmal formuliert hat, die Haushaltspolitik, die Etatpolitik und die Steuerpolitik.

Meine Damen und Herren, was die Vereinfachung auf dem Bierdeckel angeht – es ist nicht bösartig gemeint –: Auf einem Bierdeckel, wahrscheinlich gar auf einer Briefmarke, bekommt Herr Merz seine ganze Verehrung für Frau Merkel unter. Das wird gewiss so sein.