Dann aber wendete sich das Blatt. Es entstand eine Art Gegenmacht. Traditionelle Printmedien schalteten sich ein, bezogen Stellung, teilweise auch sehr persönlich, sie
machten sichtbar, was viele tagtäglich oft ganz für sich alleine ertragen müssen. Das, was sie über Jahrhunderte eingeübt haben, griff plötzlich. Die künstliche Trennung zwischen realer Welt und eines dort eingeübten Wertekonsens und der virtuellen Welt wurde so porös. Die schweigende Mehrheit meldete sich. Sie haben dem Shitstorm einen gewaltigen Candystorm entgegengesetzt. Sie warfen sich mutig in die Diskussion mit denjenigen, die unsere Gemeinschaft virtuell infrage stellen. Sie stärkten mich ganz persönlich, schickten mir E-Mails, Messenger-Nachrichten, stellten mir Kontaktanfragen und verteidigten mich auf allen möglichen Seiten im Netz.
In allen Bereichen unseres Lebens müssen wir uns daran gewöhnen, dass unsere Erlebens- und Erfahrenswelt nicht bloß im Netz schlecht kopiert wird. Unsere Erlebens- und Erfahrenswelt ist mit dem Netz unendlich größer geworden. Unsere Stimme kann vom Sofa aus die ganze Welt erreichen. Es gibt keinen Unterschied des Erlebens mehr zwischen dort und hier. Alles ist eins.
Wir bekommen diese Zeit des „Wilden Westens im Netz“ erst in den Griff, wenn wir anerkennen, dass das kein Neuland mehr ist. Wir wohnen nun eben auf beiden Seiten des Flusses.
Eine bahnbrechende, alles infrage stellende Erfindung wie das Internet wirkt destruktiv. Sie unterbricht alte Denkmuster, fordert durch ihre Natur völlig andere Herangehensweisen heraus.
Das Netz – unendliche Weiten. Wenn wir aber als Konstante dort unseren Wertekurs beibehalten, wie zu Zeiten eines begrenzten Horizontes, dann beginnt nach dem Wilden Westen die neue Welt.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin der CDU-Fraktion dankbar, dass sie die heutige Debatte angestoßen hat; denn in der Tat, Orientierung tut not. In vielen Bereichen nicht nur des individuellen, sondern auch des gesellschaftlichen und politischen Lebens scheint uns der Kompass abhandengekommen zu sein.
Der belgische Althistoriker David Engels hat kürzlich die aktuelle Situation Europas mit der verfallenden Römischen Republik im ersten Jahrhundert vor Christus verglichen: Individualismus, Globalisierung, Migration, Kriminalität, vor allem aber Polarisierung zwischen einer oligarchischen
Elite auf der einen und unzufriedenen Bürgern auf der anderen Seite. Ich bin davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungen und unserem heutigen Thema gibt. Ja, es stimmt, wir erleben in den sozialen Netzwerken eine Verrohung der Sprache und einen Verfall der politischen Kultur, die auch mich mit Sorge erfüllen. Aber Lüge und Hass entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind nicht zuletzt die Folge einer wachsenden Entfremdung zwischen den Regierenden und den Regierten.
Menschen, die in der Anonymität des Netzes ihrem Ärger und ihrem Frust über die da oben Luft machen, tun dies nicht ohne Grund. Wenn es uns gelingen soll, auch diese Menschen wieder in eine respektvolle demokratische Debatte einzubinden, dann müssen wir uns fragen, wo die Ursachen für ihr Verhalten liegen. Dies jedoch führt uns wieder zurück in die Politik. Waren es nicht hochrangige politische Repräsentanten selbst, die ohne jede Scham mit „Fake News“ gearbeitet haben – der Wald stirbt, die Rente ist sicher, die Energiewende kostet nicht mehr als eine Kugel Eis im Monat, es gibt keine Verbindung zwischen dem Terrorismus und der Masseneinwanderung, alle Asylbewerber sind kriegstraumatisierte Flüchtlinge und vieles mehr?
Und haben nicht gewählte Volksvertreter ihre eigenen Bürger immer wieder mit „Hate Speech“ konfrontiert, anstatt sich vorgetragenen Argumenten zu stellen?
Pack, Mob, Dunkeldeutschland, Dumpfbacken, Brandstifter, Rassisten, Nazis – auch diese Liste ist lang, und sie hat das politische Klima vergiftet.
Nein, meine Damen und Herren, es greift zu kurz, einzelne Bereiche der öffentlichen Debatte oder des Meinungsspektrums für Lüge und Hass verantwortlich zu machen. Hier ist die Politik als Ganzes gefordert. Wem das Echo nicht gefällt, der muss sein Rufen ändern.
Lassen Sie uns daher gemeinsam dafür sorgen, dass die Bürger unseres Landes sich wieder ernst genommen fühlen mit ihren Sorgen und Nöten, dass sie nicht Angst vor sozialer Ausgrenzung haben müssen, wenn sie öffentlich eine Meinung äußern, die mit dem Mainstream nicht kompatibel ist.
Eine dem Wohl der Menschen dienende Politik und ein fairer, respektvoller Umgang mit Andersdenkenden ist der beste Schutz vor Hass und Lüge im Netz.
Meine Damen und Herren, ein offener und freier Diskurs ist für eine demokratische Gesellschaft elementar. Wo ein solcher Diskurs nicht mehr stattfindet oder wie auch immer eingeschränkt wird, gibt es keine Demokratie. Wenn eine Regierung versucht, soziale Netzwerke über die bestehenden strafrechtlichen Normen hinaus zu reglementieren,
dann ist höchste Wachsamkeit geboten. Zwischen sinnvollen Regeln und einer freiheitsfeindlichen Zensur liegt nur ein schmaler Grat.
Mathias Döpfner, der Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger, hat dies kürzlich so formuliert:
„Was Wahrheit ist, definiert keine Regierung, auch nicht Facebook. Ich habe den Eindruck, dass gerade ein paar Grundprinzipien freiheitlicher Gesellschaftsordnung mit Füßen getreten werden. George Orwell war harmlos.“ – So weit Mathias Döpfner.
Meine Damen und Herren, Demokratie stirbt nicht durch zu viel, sehr wohl aber durch zu wenig Freiheit. Dumme, falsche und beleidigende Posts im Internet können sie nicht wirklich beschädigen. Wenn wir jedoch anfangen, die freie Rede im Netz zu beschränken, dann gerät Demokratie tatsächlich in Gefahr. Sie mit Zensur und Gesinnungskontrolle verteidigen zu wollen, hieße, sie eben dadurch faktisch abzuschaffen.
Noch ein Letztes sei an dieser Stelle gesagt: Auch der, der den politischen Gegner dämonisiert, der in nahezu jedem kritischen Debattenbeitrag sofort Verfassungsfeindlichkeit und totalitäres Bestreben wittert, auch der beschädigt den offenen Diskurs. Ich sage das hier in aller Deutlichkeit: Es gibt in diesem Hause nicht den apokalyptischen Kampf der aufrechten Demokraten gegen die bösen Verfassungsfeinde. Es gibt nur unterschiedliche Überzeugungen davon, was die beste Politik für unser Land ist. Darüber sachlich, fair und respektvoll zu streiten, ist die Pflicht des Parlaments.
Wer jedoch die Position des anderen in das Reich des Unsagbaren verschiebt, verweigert sich dieser Pflicht und macht einen demokratischen Diskurs unmöglich. Vertrauen wir den mündigen Bürgern und ihrer Urteilsfähigkeit, werben wir für die Wahrheit oder für das, was wir dafür halten, und überlassen wir dann die letzte Entscheidung dem Volk als dem eigentlichen Souverän unseres Staates.
ganz kurz auf meinen Vorredner eingehen. Es gibt die Geschichte eines Schülers, der sich für eine Biologieprüfung vorbereitet hat, sich dabei allerdings nur auf die Gurke konzentriert hat. Egal, was der Prüfer, was der Lehrer ihn fragte, er kam immer wieder auf Umwegen auf die Gurke zurück. Phasenweise erinnern mich Ihre Ausführungen an diese Geschichte, und ich denke, alle im Saal wissen, was ich meine.
Meine Damen und Herren, was interessieren mich Fakten, wenn ich eine Meinung habe? Dieser Satz bringt in erschreckender Weise auf den Punkt, was heute ein breit diskutiertes Phänomen darstellt. Schlimmer noch als das Leugnen oder Nicht-wahrhaben-Wollen von Tatsachen ist das Erfinden von Falschmeldungen, die bewusste Irreführung und damit verbundene Manipulation all jener, die nur zu dankbar oft einfache Denkmuster übernehmen. Der mühsame Prozess, aus Schwarz und Weiß, Gut und Böse das vermeintlich Richtige zu erkennen, unterbleibt; denn sorgfältige Recherche macht schließlich Arbeit.
Man muss mit offenen Augen durch die Welt gehen, man muss mit Menschen sprechen und das Gesagte einordnen können, schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in ihrem Leitartikel am 4. Februar 2017. Wer jedoch Falschmeldungen produziert, geht zwar den einfachen, aber verantwortungslosen Weg. Alles, was man braucht, ist ein Internetanschluss und ein Gewissen, das dem vermeintlich höheren Zweck untergeordnet wird.
Neu ist das Phänomen nicht – das haben viele meiner Vorredner schon gesagt –; denn Lügen gab es schon immer. Um ein geschichtliches Beispiel zu nennen, so wurde der Kriegseintritt Nazi-Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg durch einen angeblichen Überfall auf den Sender Gleiwitz gerechtfertigt.
Neu ist jedoch an dieser Debatte, dass diese Form der Agitation in bestimmten Kreisen gesellschaftsfähig geworden ist, und darin liegt das eigentliche Problem. Alternative Fakten gibt es nicht. Es gibt unterschiedliche Sichtweisen auf die Dinge, aber Fakten sind Fakten und bleiben Fakten, und alles andere ist tabu.
Wenn gar die Gefahr besteht, dass durch bewusste Manipulation politische Meinungsbildung betrieben wird, geht das an die Grundpfeiler unserer demokratischen Ordnung. Der Bürger ist aufgerufen, sich aus einer Vielzahl an Informationen ein Bild zu machen, und vertraut in der Regel den traditionellen Quellen. Im Dschungel des Internets fallen die Hemmschwellen, und Rationalität weicht Emotionalität.
Wir alle sind aufgerufen, diesem unsäglichen Trend Werte entgegenzusetzen, Werte in der Erziehung, in der Familie und in der Schule und Werte im Umgang miteinander. Auch Presserecht und Persönlichkeitsrechte sowie die Grundlagen unserer staatlichen Ordnung, die Achtung von Bürgerund Menschenrechten sind unverzichtbare Elemente auf diesem Weg.
in der Hoffnung, dass dies ein leichter Weg sein wird. Ich erschrecke, wenn ich den aktuellen Bericht des Instituts für Lehrergesundheit lese. Darin heißt es, dass 70 % der befragten Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer sagen, dass – so wörtlich – die psychosoziale Verwahrlosung der Kinder die größte Herausforderung für sie darstellen soll.
Welche Werte werden denn in den Familien noch gelehrt? Die Schule allein ist nicht die Reparaturwerkstatt unserer Gesellschaft.
Frau Klöckner, Sie haben vorhin gesagt, wir brauchen Medienerziehung. Ich glaube, dass heute jede Schule sich dieser Verantwortung bewusst ist und – Sie haben es angedeutet – auch die Curricula darauf eingehen müssen. Ich glaube aber, was noch viel wichtiger ist, ist diese Form der Werteerziehung,