Protokoll der Sitzung vom 13.11.2019

(Beifall bei der CDU)

Für die AfD-Fraktion hat der Abgeordnete Dr. Böhme das Wort.

Wertes Präsidium, meine Damen und Herren! Alle drei Jahre legt uns die Landesregierung einen mehr als umfangreichen Bericht über die sogenannten Hilfen zur Erziehung vor. Dieser stellt eine Situationseinschätzung und eine Entwicklungsbeschreibung dar und ist gleichzeitig ein Arbeitsnachweis des zuständigen Jugend- und Familienministeriums und der kommunalen Jugendämter.

Das Ergebnis von 304 Seiten Text ließe sich auch mit einem nüchternen Satz aus der Pressemitteilung der Ministerin vom 30. Oktober zusammenfassen: „Der Hilfebedarf von Kindern, Jugendlichen und Familien ist anhaltend hoch.“

Im Jahr 2017 gewährten die rheinland-pfälzischen Jugendämter insgesamt 27.000 Hilfen, was einem Anstieg von 75 % innerhalb von 15 Jahren entspricht. Auch die Zahl der Kindeswohlgefährdungen hat mit knapp 2.400 Fällen ein neues trauriges Rekordhoch erreicht.

(Unruhe im Hause – Glocke des Präsidenten)

Hinzu kommt, dass inzwischen bis zu 220.000 Kinder in unserem Land mit einem psychisch- oder suchtkranken Elternteil zusammenleben und unter Umständen einem besonderen Risiko ausgesetzt sind. Ministerin Spiegel hätte in ihrer eingangs zitierten Mitteilung also ebenso richtig konstatieren können: Die Gefährdung und der Hilfebedarf von Kindern haben in den letzten Jahren besorgniserregend zugenommen.

Bereits im Vorwort des Berichts schimmern die Ursachen durch, wenn die Ministerin davon spricht, dass sich die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern, Jugendlichen und Familien stark verändert haben. Das ist eine schöne euphemistische Umschreibung für die Probleme, welche eine zum Teil verfehlte Gesellschaftspolitik hervorgebracht hat und in der Armut und Bildungsarmut immer noch und trotz aller schöner Beteuerungen zum Teil erblich sind.

Die Folgen einer solchen Politik sind steigende Armut, täglicher Überlebenskampf und in dessen Folge oft auch Vernachlässigung sozialer Pflichten und Regeln. Das geht weit über die eigentliche Kernfamilie hinaus; denn auch Eltern und Großeltern, welche bisher junge Familien unterstützten, sind zunehmend durch eigene Altersarmut daran gehindert.

3 % der rheinland-pfälzischen Kinder erhalten Hilfen von

der Kinder- und Jugendhilfe. Um es im Klimakrisenjargon auszudrücken: 3.000 ppm, parts per million. Besonders alarmierend ist dabei aus unserer Sicht die Tatsache, dass immer mehr jüngere Kinder die Hilfe des Jugendamts benötigen. In den letzten drei Jahren war im Bereich der unter Dreijährigen ein Anstieg von 14 % zu verzeichnen. In ihrer Bewertung führt die Jugendministerin dies wie gewohnt zunächst einmal auf eine höhere Sensibilität bei der Früherkennung und auf den Ausbau des Jugendhilfeangebots zurück.

Meine Damen und Herren, doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Vielmehr sehen wir uns seit Jahren und Jahrzehnten mit einem kontinuierlich wachsenden Bedarf an staatlicher Unterstützung für gefährdete Kinder konfrontiert. Obschon Sie die öffentliche Kinderbetreuung, vor allem auch im U3-Bereich, sukzessive ausgebaut haben, viele Sozialarbeiter in Schulen eingestellt und die Beratungsangebote erweitert wurden, wächst der Hilfebedarf weiter und weiter, weil die Gefährdungslagen schlicht und ergreifend zunehmen.

Frau Ministerin Spiegel, wenn Sie nun sagen, dass Sie die Ursachen dieser besorgniserregenden Entwicklungen noch einmal intensiv mit den Jugendämtern besprechen wollen, dann ist uns das als AfD-Fraktion eindeutig zu wenig. Es kann doch keine Lösung sein, so etwas im stillen Kämmerlein zu diskutieren und sich danach gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. Die Gründe für problematisches Erziehungsverhalten und gefährdete Kinderbiografien sind komplex. Unserer Meinung nach müssen gesellschaftliche Fehlentwicklungen und deren Auswirkungen viel offener und ehrlicher auf den Tisch gebracht werden.

(Beifall der AfD)

Zudem verweist der Bericht dutzende Male auf das Projekt „Qualitätsentwicklung durch Berichtswesen“. Allerdings konnte Frau Spiegel meine vier Kleinen Anfragen zur Kinder- und Jugendhilfe aus dem Juni 2018 so gut wie nicht beantworten oder musste auf Bundesstatistiken zurückgreifen. Fragen zum Beispiel zum Umfang, zur Ausbildung und zur Fortbildung von Mitarbeitern der kommunalen Jugendämter konnten nicht beantwortet werden. Die Ministerin verweist auf Kommunen, Ämter und Arbeitsgemeinschaften.

Warum kommt zudem die Ombudsstelle für Fragen der Kinder- und Jugendhilfe im Bericht nicht zu Wort? Diese ist zwar bei der Bürgerbeauftragten und damit beim Landtag aufgehängt, wäre aber ein weiterer Ansprechpartner, um qualitative Mängel aufzudecken. Also lassen wir doch unsere gute Vernetzung beim nächsten Bericht einmal wirken und die Träger der Jugendhilfeeinrichtungen und die Ombudsstelle zu Wort kommen.

Resümierend möchte ich noch ein letztes Mal aus der eingangs erwähnten Pressemitteilung des Familienministeriums zitieren, in der es heißt: „Der Bericht gewährt einen aussagekräftigen Einblick in die soziale Wirklichkeit unseres Bundeslandes.“ Meine Damen und Herren, dass immer mehr rheinland-pfälzische Kinder keine wohlbehütete und sorglose Kindheit erleben dürfen, ist offensichtlich Teil dieser sozialen Wirklichkeit. Hiervor dürfen wir nicht die Augen verschließen. Wir stehen vor einer gesamtge

sellschaftlichen Aufgabe, Familien derart zu stärken und zu fördern, dass möglichst alle Kinder gesund und glücklich aufwachsen können. Dazu braucht es aber auch den familienpolitischen Willen, der dieser Landesregierung in Teilen fehlt.

Vielen Dank.

(Beifall der AfD)

Für die FDP-Fraktion spricht der Abgeordnete Roth.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum sechsten Mal erscheint der Landesbericht über die Hilfen zur Erziehung in Rheinland-Pfalz und bietet auf 304 Seiten eine umfassende und qualifizierte Wissensbasis über Jugendhilfeleistungen in unserem Bundesland. In ihm finden wir belastbare Erklärungsansätze zu Fallzahlen sowie Ausgabenentwicklungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Ebenso analysiert er die Folgen gesetzlicher Veränderungen oder gesellschaftlicher Entwicklungstrends für die Inanspruchnahme von Hilfen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die sich zu einem wichtigen Unterstützungsinstrument in unserer Gesellschaft entwickelt haben.

Die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern, Jugendlichen und Familien haben sich in den letzten Jahren stark verändert. So sind Familienformen und Lebensgestaltungen vielfältiger und individueller geworden und erfordern ein Mehr an Unterstützung, Orientierung und Begleitung. Zahlreiche Beratungs-, Betreuungs- und Unterstützungsangebote richten sich an alle Kinder, Jugendlichen und Familien und helfen damit, soziale Benachteiligungen abzubauen und die soziale Teilhabe zu verbessern.

Somit hat sich die Kinder- und Jugendhilfe zu einer unverzichtbaren Hilfe für Kinder, Jugendliche und Familien in den unterschiedlichen Lebenslagen entwickelt und ist ein zentrales und wichtiges Instrument für die Kommunalpolitik geworden. Hierbei geht es in erster Linie darum, soziale Benachteiligungen und Ungleichheiten abzubauen und möglichst allen Kindern und Jugendlichen chancengerechte Startmöglichkeiten ins Leben zu bieten.

Um jedoch Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen in den Kommunen besser und vor allen Dingen rechtzeitig planen zu können, bedarf es fortgesetzt einer bedarfsgerechten Entwicklung, und man benötigt verlässliche und kontinuierliche Daten, um die Tendenzen und Entwicklungen abbilden zu können. So wurde im Jahr 2002 das Projekt „Qualitätsentwicklung durch Berichtswesen“ durch die Landesregierung mit den Kommunen ins Leben gerufen, um die Planungs- und Steuerungsarbeit der rheinland-pfälzischen Jugendämter bei den Kinder- und Jugendhilfen zu unterstützen.

Im Jahr 2017 wurden in rheinland-pfälzischen Jugendämtern rund 27.000 Erziehungshilfen gewährt. Das sind rund 75 % mehr als zu Beginn im Erhebungsjahr 2002. Dane

ben führt die demografische Entwicklung zu regional sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Stark wachsende Kommunen stehen vor der Herausforderung, rechtzeitig genügend Betreuungsplätze, Angebote und Leistungen bereitzustellen, während andere Kommunen den Erhalt von Einrichtungen und Diensten aufgrund sinkender Geburtsraten gewährleisten müssen.

Die regionalen Unterschiede und damit auch die Anforderungen an eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe werden somit größer. Damit die Kinder- und Jugendhilfe während der Lebensphasen für Bewältigungsaufgaben allen Kindern, Jugendlichen und Familien eine bedarfsgerechte, einzelfallbezogene und einzelfallübergreifende Infrastruktur zur Verfügung stellen kann, ist eine gezielte Planung und Steuerung notwendig. Hierzu bedarf es einer grundlegender Datenbasis über die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe unter rechtlichen, fachlichen und ökonomischen Kriterien sowie des Blickes auf die Bedarfslage der jungen Menschen und ihrer Familien, um die Jugendhilfepraxis angemessen weiterentwickeln zu können.

Diese Herausforderungen nimmt die Ampelkoalition an und verbessert beispielsweise die Verkehrsinfrastruktur im ländlichen Raum. Das trägt auch zur sozialen Teilhabe von jungen Menschen bei. Meine Damen und Herren, der Landesbericht bietet uns einen umfangreichen und umfassenden Einblick in die Lebensbelange junger Menschen. Damit trägt der Bericht dazu bei, dass die Planung und Steuerung sowie die Qualitätsentwicklung weiter verbessert werden können.

Lassen Sie mich zum Schluss im Namen meiner Fraktion den Jugendämtern herzlichen Dank für die gute Arbeit vor Ort sagen. Ich bedanke mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums für die Erstellung des vorliegenden Berichts.

Vielen Dank.

(Beifall bei FDP, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht der Kollege Köbler.

Sehr geehrter Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Dem Dank an das Ministerium, an die Jugendämter und alle, die an dem Bericht mitgewirkt haben, möchte ich mich ausdrücklich anschließen. Ich glaube, die fünf Minuten sind zu kurz, sich mit über 300 Seiten zu beschäftigen. Lassen Sie mich einen Aspekt herausnehmen. Der Bericht hat die Zahlen von 2017.

Wir haben im Oktober 2019 eine Anfrage zum Thema der Entwicklung der Zahl der Kindeswohlgefährdungen gestellt. Der Trend aus dem Bericht hat sich leider fortgesetzt: Wir haben auch im Jahr 2018 mit 2.811 angezeigten Fällen steigende Zahlen. Das ist wieder ein Anstieg von 15 %.

Das zeigt, dass die Diskussion um die Hilfen zur Erziehung hochaktuell ist. Es zeigt aber auch, dass es immer noch eine höhere Sensibilität gibt, genau hinzuschauen, früher hereinzugehen und früher in Familien zu schauen, weil es sich in den allermeisten Fällen um Formen der Kindesvernachlässigung handelt. Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein zentrales Argument vor Ort und so nah wie möglich an den Familien und in den Sozialräumen dran. Die Leistungen, die dort erbracht werden, sind nicht nur für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien, sondern auch für unsere Gesellschaft insgesamt extrem wichtig.

Es sind viele Zahlen schon genannt worden. Ich möchte sie nicht alle wiederholen, vielleicht aber noch einmal die Trends. Wir sehen auch an dem Alter, in dem Hilfen zur Erziehung greifen, dass die Kinder, um die es geht, immer jünger werden. Das ist auch ein Stück weit gewollt, weil man erkannt hat, dass man sehr früh in die Familien einsteigen muss. Das erklärt zu einem Teil auch die Zunahme bei den unter Dreijährigen und teilweise bis zu den unter Neunjährigen.

Auf der anderen Seite sehen wir, dass die Zahlen bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen tendenziell sogar eher zurückgehen. Zumindest ein Teil der frühen Hilfen, des frühen Gehens in die Familien und der frühen Unterstützung führt dazu, dass später möglicherweise die Unterstützung nicht mehr so notwendig ist, weil man früher hingeschaut hat.

Es ist auch gesagt worden: Die absoluten Zahlen steigen bei den Hilfen zur Erziehung und sind vor allem auf den ambulanten Bereich zurückzuführen. Das heißt, es wird schon niedrigschwellig und vielleicht schneller als früher entsprechend eingegriffen. Das ist auch wesentlich zu unterstützen, weil eine schnelle ambulante Hilfe möglicherweise präventiv verhindern kann, dass es zu Herausnahmen aus Familien und zu stationären Aufenthalten oder zu Heimaufenthalten kommt.

Was in dem Bericht auffällt ist, dass wir große Disparitäten zwischen den Jugendamtsbezirken haben. Ich glaube, es lohnt sich, da noch einmal genauer hinzuschauen.

Herr Lerch hat die Ausstattung der Kommunen angesprochen. Wenn wir das Augenmerk darauf richten, dann müssen wir uns auch die Frage stellen, wie es sein kann, dass bei uns Jugendamtsbezirke mit die höchsten Ausgaben und höchsten stationären Quoten haben – nicht nur landes-, sondern auch bundesweit –, während wir im Landesschnitt eigentlich ziemlich genau im Bundesschnitt liegen, wenn man sich die Bundesanalysen anschaut.

Ich finde, Kommunen brauchen einerseits natürlich Unterstützung, andererseits müssen wir aber auch einen Anspruch an Benchmarks und Qualität hinsichtlich der Hilfen zur Erziehung haben. Da haben wir sehr gute und sehr hervorragende Jugendämter bei uns in Rheinland-Pfalz.

Wichtig wäre mir noch, die Arbeit der Erziehungs- und Lebensberatungsstellen hervorzuheben, weil die eine Beratungsleistung erbringen, die möglicherweise Hilfen zur Erziehung überflüssig macht, indem sie Familien stärken und niedrigschwellige Beratungsangebote bieten. Ich denke, darauf kommt es an. In der Kinder- und Jugendhilfepo

litik ist es auch wichtig, einen starken präventiven Fokus darauf zu setzen, damit andere Maßnahmen gar nicht erst greifen müssen. Ich denke, hier gibt der Bericht einen unheimlich großen und transparenten Überblick.

Es ist wichtig, noch einmal zu sagen, was wir daraus machen. Ein Punkt ist mir wichtig. Wir sehen es gerade in dem Bereich der Kinder mit Behinderung oder seelischer Beeinträchtigung, dass der Bericht zeigt, wie sich Eltern und Familien oft überfordert fühlen, weil sie für die ganzen Leistungen sprichwörtlich von Pontius zu Pilatus laufen müssen. Ich glaube, es wäre wichtig, daran zu arbeiten, dass es einheitliche Ansprechpartner gibt. Da könnte die Reform des SGB VIII eine Chance sein, damit Familien und Kinder zukünftig Hilfe aus einer Hand bekommen.

Herzlichen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Für die Landesregierung hat Staatsministerin Spiegel das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir ziehen mit dem 6. Landesbericht „Hilfen zur Erziehung“ gemeinsam mit den Kommunen alle drei Jahre Bilanz über die Arbeit in den Jugendämtern.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort haben tagtäglich einen wichtigen und herausfordernden Job zu meistern. Das zeigt der Bericht deutlich. Ich möchte mich daher an dieser Stelle im Namen der Landesregierung zunächst einmal sehr bei den rheinland-pfälzischen Jugendämtern bedanken. Sie leisten eine sehr gute und engagierte Arbeit.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und bei der SPD)