Protokoll der Sitzung vom 20.03.2002

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP])

Es liegen noch zwei Wortmeldungen für Kurzbeiträge vor.

Zunächst erteile ich Herrn Abgeordneten Thorsten Geißler gemäß § 56 Abs. 4 das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben seit Jahren das gleiche Ritual. Der Innenminister veröffentlicht die Kriminalitätsstatistik. Er warnt vor einem weiteren Anstieg der Jugendkriminalität. Die Opposition greift das Thema auf, unterbreitet Vorschläge. Sie werden von den Regierungsfraktionen nicht weiterverfolgt oder teilweise ins Lächerliche gezogen, wie es auch heute leider wieder passiert ist. Das spricht nicht für einen ernsthaften Umgang mit dieser Thematik vonseiten der Regierungskoalition und leider auch von Teilen der Opposition.

(Beifall bei der CDU - Dr. Heiner Garg [FDP]: Dann müssen Sie ernsthafte Vor- schläge machen!)

Es gibt ein ganzes Bündel von Maßnahmen, über das wir im Ausschuss sehr ernsthaft diskutieren können und sollten. Ich bin dankbar, dass ein entsprechender Vorschlag gemacht wurde.

Im Übrigen kann ich darauf hinweisen: Auch Sie tragen Verantwortung für Prävention. Sie sind nicht gehindert, alle möglichen Präventionsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Ihren Maßnahmen ist aber in den vergangenen Jahren offenbar der Erfolg versagt geblieben; sonst hätten wir solche Statistiken nicht. Klagen Sie uns also nicht an, wir hätten für diesen Bereich keine Vorschläge unterbreitet.

(Beifall bei der CDU)

Ich wehre mich auch gegen den oberflächlichen und undifferenzierten Vorwurf, wir wollten Freiheitsrechte beschneiden. Das Gegenteil ist der Fall. Es kann doch gar kein Zweifel daran bestehen: Unsere Gesellschaft befindet sich in einem Orientierungsdilemma.

Milieus sind aufgebrochen. Werte sind nicht mehr allgemein verbindlich. Darin kann man auch einen Freiheitsgewinn sehen. Wir wollen einer Gesellschaft kein Wertekonzept überstülpen, das alle Lebensbereiche umfasst. Das widerspräche einer pluralistischen Gesellschaft.

Dass es allerdings für ein friedvolles, geordnetes Miteinander in Respekt voreinander einen gewissen Orientierungsrahmen geben muss, dass Werte, die diesen Respekt sicherstellen, allgemein verbindlich sein müssen, muss doch jenen klar sein, die gerade Minderheiten und Schwache schützen wollen. Ohne solche Werte geraten diese als Erste ins Abseits.

(Beifall bei der CDU)

Von daher finde ich es unerträglich, wenn alle Versuche von uns, einen solchen Wertekanon zu beschreiben, in die Diskussion einzuführen und in Bildungseinrichtungen verbindlich zu machen, einfach ins Lächerliche gezogen werden und wenn völlig undifferenziert darüber hergefallen wird.

(Beifall bei der CDU)

Sie verwechseln ständig die Begriffe Sozialisation und Erziehung. Sozialisation ist die Einführung in erwünschte und unerwünschte Verhaltensweisen, Erziehung ist die konsequente Vermittlung von sozial erwünschten Verhaltensweisen. Wenn man da sorgfältig differenziert, erzielt man auch die gewünschten Ergebnisse.

(Beifall bei der CDU - Zuruf der Abgeord- neten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir sind hier im Haus, auch in unserem Bundesland offenbar meilenweit hinter den Debatten zurück, die von allen politischen Seiten in anderen Bundesländern längst geführt werden. Es ist doch ein Signal, das auch an Ihnen nicht vorbeigehen kann, wenn ein Herr Wille, der nicht Mitglied meiner Partei ist und ihr auch nicht besonders nahe steht, sagt: „Wir müssen erkennen, dass es Jugendliche mit schwersten Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen gibt, die nur unter den Bedingungen eines geschlossenen Vollzuges gesichert werden können“, wenn dieser sich für die Einführung des geschlossenen Jugendvollzuges einsetzt. Sehen Sie einmal ins Ausland. Frankreich war das erste Land, das sein Jugendrecht völlig geändert und den Erziehungsgedanken an die erste Stelle gesetzt hat. Verfolgen Sie einmal die Debatten, die unter dem Eindruck einer steigenden Jugendkriminalität in Frankreich im Moment auch von den Sozialisten geführt

(Thorsten Geißler)

werden. Sie befinden sich bundesweit und international leider nicht auf der Höhe der Diskussion.

(Widerspruch bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

- Es ist nun wirklich so. Sie müssten einmal über die Grenzen und Ihren Tellerrand hinaussehen.

Ich bin der Justizministerin in zumindest einem Punkt dankbar. Sie haben immerhin anerkannt, dass es auch Sanktionen geben muss, dass die Sozialromantik nicht so weit gehen kann, dass man glaubt, man komme nur mit Prävention aus, die wichtig ist und für die wir im Übrigen viele Vorschläge unterbreiten, wie Sie wissen, wenn Sie unseren Antrag gelesen haben. Dass es auch Sanktionen geben muss, haben Sie immerhin anerkannt und damit einigen undifferenzierten Vorwürfen widersprochen. Dass man immer wieder darüber nachdenken muss, ob das Sanktionensystem angemessen ist, werden Sie nicht bestreiten können, wenn Sie das lesen, was der Innenminister in seinen Presseerklärungen immer wieder auch Ihnen mit auf den Weg gibt. Sie sollten auch ernst nehmen, dass es so etwas wie eine Generalprävention gibt, und anerkennen, dass wir uns sachgerecht mit diesen Problemen auseinander setzen, und unsere Vorschläge nicht pauschal diffamieren und lächerlich machen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU)

Nach § 56 Abs. 4 erteile ich jetzt der Frau Abgeordneten Monika Heinold das Wort.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Jetzt kommt das Kontrastprogramm!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da ich auch für Sanktionen bin, halte ich jetzt einen Beitrag, der der CDU mit Sicherheit nicht gefällt. Ich mache das fest an den Worten „Orientierungsdilemma der Jugendlichen“ und der Frage der Moral und der Werte.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Oje! Das alles in drei Minuten?)

Erstens. Sind es nicht in der Diskussion um Werte, Moral und Familie gerade die Männer, die diese Worte immer scheinheilig im Munde führen, die erstens keine Zeit für ihre Familie haben und zweitens eine Freundin nebenbei, was meist auch noch alle wissen?

(Unruhe)

Ich kenne die Männer, die solche Diskussionen führen. - Sie amüsieren sich. Das scheint Sie alle sehr zu bewegen.

Zweitens. Die CDU fordert in ihrem Antrag, wir mögen das Bewusstsein dafür schärfen, was Recht und Unrecht ist. Ich frage Sie, ob wir nicht einmal mit dieser Diskussion anfangen wollen.

(Dr. Johann Wadephul [CDU]: Bitte, dann fangen Sie doch an!)

Sollten wir nicht tatsächlich mit unseren Kindern einmal darüber diskutieren, was in dieser Welt los ist, warum - da bin ich bei dem Thema Entwicklungspolitik, von dem Sie immer sagen, dass das hier gar nicht her gehöre - Hunderte von Kindern sterben müssen, während wir im Konsum ersticken? Das ist die Frage nach Recht und Unrecht. Ich bin da auch bei der Umweltpolitik.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Und das alles in drei Minuten!)

Wenn wir zulasten der Pflanzen und der Tiere Straßen bauen, die Natur zupflastern, wissen wir sehr wohl, dass auch hier die Frage nach Recht und Unrecht im Raum steht. Auch die Fragen unserer Wirtschaft, unserer Werbung, unseres Konsums, die Philosophie der Werbung, dass nur der gut ist und vernünftig durch das Leben kommt, der möglichst viel schachert und sich möglichst viel kaufen kann, das sind die realen Probleme. Diese Moraldebatte, diese Wertedebatte führe ich gern mit Ihnen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Dr. Christel Happach- Kasan [FDP])

Jetzt komme ich zum Thema Gewalt. Wer hat es denn durchgesetzt, dass Gewalt gegen Kinder verboten worden ist? War es die CDU im Bundestag? Nein, sie hat darauf gewartet, dass Rot-Grün kommt und diese Debatte initiiert. Nun ist es verboten, das ist richtig und gut so. Sie sollten sich dafür bei uns bedanken, Herr Wadephul.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und FDP)

Noch ein Weiteres, wenn wir schon bei der Aufarbeitung dessen sind, was ist. Vielleicht nimmt die CDU einmal Stellung dazu, was aus all den Kindern und Jugendlichen geworden ist, die unter Ihrer Regierungsverantwortung in geschlossenen Heimen auch in Schleswig-Holstein gelandet sind. Haben Sie einmal recherchiert, wo die inzwischen sind?

(Zuruf von der CDU: Grüne!)

Sind das Menschen geworden, die jetzt unsere Gesellschaft bereichern? Ist das so? Vielleicht arbeiten Sie dies einmal auf, damit wir eine ehrliche Debatte darüber führen, ob die geschlossene Heimunterbringung

(Monika Heinold)

dazu führt, dass wir insgesamt in dieser Gesellschaft vernünftig miteinander leben.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Jutta Schümann [SPD])

Wenn Sie in dieser Debatte als Argument auch noch anführen, das Wahlalter sei an dem Dilemma schuld, weil sich die Jugendlichen entweder überfordert fühlen oder weil Sie meinen, Sie müssten die demokratische Beteiligung der Jugendlichen mit dem Strafrecht gleichsetzen, dann geht mir das über die Hutschnur.

(Dr. Johann Wadephul [CDU]: Das kann ich mir vorstellen! Kalt erwischt!)

Ich will Ihnen nur sagen: Ich bin froh, wenn ich nach dieser Debatte in die Mittagspause gehen kann, denn Ihre Argumentation tue ich mir nicht gern an.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Martin Kayenburg [CDU]: Halten Sie ruhig Ihren Mittagsschlaf weiter!)

Bevor wir in die Mittagspause gehen, gibt es einen weiteren Kurzbeitrag. Ich erteile Frau Abgeordneter Anke Spoorendonk gemäß § 56 Abs. 4 das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das haben Sie sich selbst eingebrockt mit diesem Antrag. Wenn man den Antrag wirklich mit der Lupe liest, fällt einem einiges auf. Zum Beispiel fällt auf, wozu jetzt die Landesregierung aufgefordert wird. Die Landesregierung wird aufgefordert, Schritte zu einer besseren Werteerziehung zu gehen. Sie wird aufgefordert, durch Information und Aufklärung der Erziehungsberechtigten etwas gegen Gewalt zu unternehmen. Sie wird aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Beamtinnen und Beamte sich jetzt mit dem Internet beschäftigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, wenn man das genauer unter die Lupe nimmt, stellt sich doch auch die Frage: Was ist es eigentlich für ein Gesellschaftsbild, das dahinter steckt? Das ist ein Gesellschaftsbild, das recht autoritär ist, das wenig damit zu tun hat, dass Gesellschaft von Partizipation, von aktiver Mitwirkung lebt und dass ein demokratisches Miteinander, ein Aufeinanderzugehen auch die beste Prävention ist. Davon ist hier keine Rede. Es wird etwas anderes gesagt und das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.