Protokoll der Sitzung vom 22.03.2002

eines Kernkraftwerkes 60 Tage hinauszuzögern? Auch der Finanzminister hat abgewogen, was er denn wirklich anordnen soll, weil er die Möglichkeit von Schadenersatzforderungen gesehen hat.

Herr Minister Möller, ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie eine unverzügliche Inspektion des Kernkraftwerkes Brunsbüttel aus finanzpolitischen Überlegungen unterlassen oder verzögert haben. Diese Vorwürfe stehen im Raum. Ich zitiere aus der „Dithmarscher Landeszeitung“ vom 7. März 2002:

„Den Rücktritt von Energieminister Claus Möller hat der Aktionskreis ‘Stilllegen sofort’ gefordert nach dessen Bericht am Dienstag im Landtag zu den Vorkommnissen im Brunsbütteler Kernkraftwerk. Dieser Bericht habe, so der Aktionskreis, nur den Sinn gehabt, schönzureden, welche schweren Versäumnisse er sich hat zuschulden kommen lassen, indem er das havarierte Atomkraftwerk noch 67 Tage lang hat weiterlaufen lassen."

Der Energieminister ist gleichzeitig Finanzminister und er hat finanzielle Erwägungen getroffen, bevor er durchgesetzt hat, dass eine sofortige Inspektion gefordert ist. Das heißt, er hat finanzpolitische Erwägungen getroffen, genau das getan, was auch die Betreiber gemacht haben, die sich möglicherweise auch mit wirtschaftlichen Überlegungen beschäftigt haben. Beide Male das gleiche Verhalten. Das sollte uns allen zu denken geben.

Im Zusammenhang mit anderen Vorgängen ist das Vertrauen der Menschen in die Landesregierung und in Sie persönlich, Herr Minister Möller, stark unter Druck geraten. Sie sollten - auch im eigenen Interesse - endlich die Vermutung mit Sachargumenten entkräften, im schleswig-holsteinischen Energieministerium sei bei der Kernkraftaufsicht in diesem Fall möglicherweise doch Wirtschaftlichkeit vor Sicherheit gegangen. Sie sollten sich damit nicht mehr allzu viel Zeit lassen.

(Beifall bei FDP und CDU)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Hentschel das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Abriss einer Rohrleitung am Reaktordruckbehälter in einem Atomkraftwerk ist ein so ernsthafter Störfall, dass ich noch einmal grundsätzlich betonen möchte: Die Sicherheit der Bevölkerung

(Karl-Martin Hentschel)

muss absoluten Vorrang vor wirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Überlegungen haben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Der Zwischenfall im Atomkraftwerk Brunsbüttel muss deshalb vollständig aufgeklärt werden, bevor irgendetwas in Richtung Wiederanlaufen dieses Atomkraftwerks passiert, damit solche Pannen nicht noch einmal passieren können. Bei der Sicherheit von Atomkraftwerken darf es keinerlei Abstriche geben. Ein Atomkraftwerk ist keine Maschinenfabrik oder Autowerkstatt, bei der man Risiken in Kauf nimmt. Ein GAU, ein „größter anzunehmender Unfall“, darf niemals vorkommen. Der Vorfall vom Dezember letzten Jahres ist eine erschreckende Erinnerung daran, dass ein solcher Unfall nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann.

Das Mindeste ist jetzt, dass die Pannen so analysiert werden, dass diese Fehlerquelle nach menschlichem Ermessen nachhaltig beseitigt wird. Das gilt sowohl für den speziellen Reaktor in Brunsbüttel, das gilt aber auch für alle Reaktoren dieser Techniklinie, also alle Siedewasserreaktoren.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Denn der Unfall - das ist schon gesagt worden -, eine Wasserstoffexplosion direkt am Reaktordruckbehälter, ist in der Geschichte der Kernenergie einmalig. Das ist ein Unfall, den wir bisher nicht gehabt haben und der völlig neue Fragen aufwirft. Herr Kerssenbrock, wenn Sie das herunterspielen, haben Sie nicht begriffen, worum es hier überhaupt geht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Meine Damen und Herren, was mich sehr nachdenklich gemacht hat, ist die Tatsache, dass der Reaktor wieder hochgefahren werden konnte, ohne dass die Betriebsleitung wirklich wusste, was vorgefallen war.

Erinnern wir uns: Ein Störfall wird in der Schaltzentrale entdeckt, der Reaktor wird auf 55 % der Leistung heruntergefahren. Der Störfall wird dann von der Werksleitung als „spontane Dichtungsleckage“ interpretiert. Was heißt das? - Interpretieren heißt an dieser Stelle: Man weiß gar nicht, was wirklich passiert ist. Also ohne die tatsächliche Ursache zu kennen, wird entschieden, den Reaktor wieder hochzufahren.

Der Vorfall konnte erst am 18. Februar 2002 - zwei Monate später! - durch eine Inspektion vor Ort in seinem Ausmaß und seiner Dramatik erkannt werden. Erst dann ist der Sicherheitsbehälter betreten worden.

Frau Happach-Kasan, deswegen ist auch Ihre Interpretation absurd. Sie werfen einerseits dem Ministerium vor, dass es zu akribisch untersuche, andererseits sagen Sie, man hätte doch provisorisch stilllegen müssen, um zu gucken, was los ist. Das ist doch völlig widersprüchlich, was Sie hier erzählen!

Das Problem besteht doch darin, dass bis zum 18. Februar niemand wusste, dass dort eine Leitung gerissen ist und eine Explosion stattgefunden hat.

(Dr. Trutz Graf Kerssenbrock [CDU]: Das ist doch der Punkt!)

Das ist der Punkt. Das ist aber keine Entschuldigung, sondern das heißt: Wenn es passieren kann, dass in einem deutschen Atomkraftwerk bei unseren Sicherheitsstandards zwei Monate lang eine Leitung direkt am Atomreaktor gerissen ist und es keiner merkt, ist doch an dem gesamten System etwas verkehrt! Da müssen wir grundsätzliche Fragen aufwerfen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW - Glocke der Präsidentin)

Herr Abgeordneter Hentschel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Graf Kerssenbrock?

Nein. - Selbst der TÜV, also die unabhängige technische Überwachungsinstitution, hat Mitte Januar dem Reaktor trotz dieses Unfalls den Freibrief erteilt, ohne wirklich zu wissen, was geschehen ist.

Meine Damen und Herren, wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass der Reaktor schließlich stillgelegt wurde? Das ist deswegen gekommen, weil das Ministerium - nicht der Betreiber und nicht der TÜV - Widersprüche in den Messwerten festgestellt und in akribischer Detektivarbeit nachgewiesen hat, dass irgendetwas nicht stimmt. Er hat dann die Betreiberin zur Stilllegung gezwungen. Man muss sich einmal überlegen, was hier passiert ist. Weder die Betreiberin noch die technisch zuständige Überwachungsbehörde, der TÜV, merken, was los ist, und die Beamten im Ministerium müssen in Detektivarbeit nachweisen, dass etwas verkehrt läuft, und die Betreiberin schließlich zur Stilllegung zwingen. - Ich bedanke mich aufs Äußerste bei den Beamten im Ministerium, die eine so gute Arbeit gemacht haben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

(Karl-Martin Hentschel)

Meine Damen und Herren, es besteht ein Verdacht. Das Sprichwort lautet: Wo der Verdacht einkehrt, nimmt die Ruhe Abschied. Es besteht der Verdacht, dass ein Grund für das Verhalten der Betreiberin am 14. Dezember 2001 in der hohen Stromnachfrage zu diesem Zeitpunkt lag. An diesem Tag erreichten die Strompreise zur Abdeckung der Stromspitzen Spitzenwerte.

Sie müssen wissen, dass in solchen Situationen, bei kurzfristiger Bestellung von Strom von einem anderen Hersteller, weil dann zusätzliche Kraftwerke hochgefahren werden müssen, der Strompreis nicht mehr im Pfennigbereich, sondern im DM-Bereich, teilweise im zweistelligen DM-Bereich, liegt und eine Verhundertfachung der Kosten eintritt, wenn dann ein Kraftwerk abgeschaltet wird.

Es besteht der Verdacht, dass der durch die Liberalisierung des Strommarktes zusätzlich erzeugte Kostendruck die Kraftwerksbetreiber dazu verleitet, auch im Sicherheitsbereich zu sparen. Wenn sich das herausstellt, dann ist das in meinen Augen kriminell. Dann ist die Staatsanwaltschaft gefordert.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Auch hier sind die Aufsichtsbehörden gefordert, um dem Sicherheitsgebot auf Dauer Nachdruck zu verleihen. Mit Spannung erwarte ich die Überprüfung der Zuverlässigkeit der Betreiberin von Brunsbüttel. Wenn nicht nur bei einzelnen Personen, sondern bei der Gesellschaft insgesamt eine Unzuverlässigkeit festgestellt wird, dann kann das bis zum Widerruf der Betriebsgenehmigung führen.

Nach der minuziösen Aufklärung des so in Deutschland einmaligen Vorfalls kommt die Ermittlung des Nachrüstungsbedarfs. Dann muss auch die Betreiberin für sich entscheiden, ob die Nachrüstung ökonomisch Sinn hat oder der Reaktor vom Netz getrennt bleibt.

Meine Damen und Herren, mich als Grüner bestärkt der Vorfall in unserer Politik des geordneten Atomausstiegs. Das ist durch den Bundestag beschlossen und vom Bundesrat bestätigt worden. Ich hätte mir den Ausstieg schneller gewünscht, aber trotzdem: Der Ausstieg ist ein politischer Erfolg, mit dem wir eine weltweite Entwicklung in Gang gesetzt haben. Vor zwei Wochen hat nun auch das belgische Kabinett nach den Niederlanden, Schweden und Deutschland den Ausstieg beschlossen.

(Lars Harms [SSW]: Sehr gut!)

Dass wir uns gemeinsam mit der SPD in dieser Frage gegen die milliardenschwere Lobby der Atomkonzerne

durchsetzen konnten, darauf können wir alle gemeinsam stolz sein.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Es gibt keinen Zweifel: Die Atomenergie ist eine Risikotechnologie, weil bis heute die Entsorgungsfrage nicht gelöst ist und weil ein schwerwiegender Unfall Konsequenzen haben kann. Der Unfall in Brunsbüttel hätte, wenn die Wasserstoffexplosion vier Meter weiter am Kühlsystem stattgefunden hätte, zu einer schwerwiegenden Katastrophe führen können, weil das Kühlsystem ausgefallen wäre. Das hätte zu einer Verseuchung des gesamten Unterelberaums geführt und hätte Hamburg auf Jahrhunderte unbewohnbar gemacht. Ich bitte, sich das vor Augen zu führen, wenn hier von Abgeordneten der CDU leichtsinnig hin- und hergeredet wird.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Meine Damen und Herren, in Schleswig-Holstein hat die Energiewende längst begonnen. Im Monat Februar wurde erstmalig in diesem Lande über die Hälfte des Stroms durch Windkraftwerke erzeugt. Darauf können wir stolz sein.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW sowie des Abgeordneten Konrad Nabel [SPD])

Das Atomkraftwerk Brunsbüttel ist ein Auslaufmodell. Ich hoffe, es läuft bald aus.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Harms.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Graf Kerssenbrock, - - Ich hoffe, er ist noch im Saal.

(Dr. Trutz Graf Kerssenbrock [CDU]: Er ist im Saal!)

- Sehr gut. - Sie haben gerade dem Minister vorgeworfen, sich nicht ganz demokratisch zu verhalten, wenn er den Bericht zum heutigen Tage vorlege. Ich habe ja viel Verständnis für alles und für jeden und natürlich auch für jeden, der meint, einen Antrag des Kollegen Kerssenbrock nicht lesen zu wollen, weil er denkt, dabei komme sowieso nichts Neues heraus. Aber ich finde, dass Sie zumindest Ihre eigenen Anträge lesen sollten, und zwar einfach aus dem Grunde,

(Lars Harms)