Protokoll der Sitzung vom 19.06.2003

Frau Ministerin Moser hat das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, es ist kein besonderer Ausweis von Ernsthaftigkeit, wenn wir uns hier heute darüber streiten, ob eine Strukturreform nicht gemeint ist, wenn in einem Antrag nur von einem Teil der Finanzreform der sozialen Sicherungssysteme die Rede ist. Um es höflich auszudrücken: Das finde ich ausgesprochen oberflächlich. Wir wissen alle, dass wir bei den sozialen Sicherungssystemen zuallererst eine Strukturreform brauchen. Die ist auf dem Weg!

(Zuruf des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])

- Herr Kayenburg, wir sagen das nicht nur, sondern wir machen das auch! Wir müssen nicht alles, was

(Ministerin Heide Moser)

politisch auf dieser Erde nötig ist, in jedem Antrag sagen. Das wäre schlecht!

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW - Zuruf des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])

- Lieber Herr Kayenburg, ich sagte, wir sagen das nicht, wir machen das. Bei der Krankenversicherung machen wir eine Strukturreform. Wenn Sie sich Ihre Vorschläge - einschließlich der von Herrn Seehofer - angucken, dann ist von Strukturreform nicht die Rede. Bei der FDP schon gar nicht. Es ist nur die Rede von Finanzreform, und zwar mit dem Tenor, mehr Geld ins System. Ich gebe selbstkritisch zu, in dem Reformwerk, das die Regierung vorgelegt hat, fehlt noch der Teil der Finanzreform. Den brauchen wir, das ist ganz klar. Er wird auch kommen. Hier jedoch zu sagen, wenn man nicht alles gleichzeitig nennt, dann hat man das eine vergessen oder versteht sein Geschäft nicht, finde ich einfach lächerlich!

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vorhin war von der PR-Maschine die Rede. Lieber Kollege Stegner, ich weiß, wie Sie es gemeint haben. Als Antwort auf Ihre Aufforderung, meine Geheimrezepte vorzulegen, sage ich: Ich habe keine Geheimrezepte. Ich habe meine Überlegungen und die meines Hauses nicht in eine PR-Maschine eingefüttert. Das halte ich für überflüssig und kontraproduktiv. Ich habe sie in einen ordentlichen Meinungsbildungsprozess eingefüttert. Wenn ich mir die Reformideen auf Bundesebene angucke, dann haben darin eine ganze Menge Ideen ihren Platz gefunden, die wir beigetragen haben.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich war eine der ersten derer, die die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gefordert haben. Dies fordere ich seit 1995. Wenn Sie das nicht merken, dann tut mir das Leid. Dafür kann ich nichts. Vielleicht lesen Sie auch nicht immer überregionale Zeitungen.

(Beifall der Abgeordneten Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich war eine der ersten, die gesagt haben, wir werden nicht umhinkommen, auch den Leistungskatalog der Krankenversicherung zu durchforsten. Was ist passiert? Wir haben einen Leistungsblock in Angriff genommen, der jetzt ausgegliedert wird.

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kalinka?

Nein. Ich könnte das mit dem Thema Rentenversicherung fortsetzen. Vor der Bundestagswahl 1998 hat es Gespräche mit CDU-Kolleginnen und -Kollegen gegeben. Ich war - auch gedeckt durch das eigene Kabinett - sehr wohl der Auffassung, dass wir nicht umhinkommen würden, auch die Leistungen der Rentenversicherung einer Kontrolle zu unterziehen, wenn wir diese auf Dauer finanzieren wollen. All das sind Beiträge zur Meinungsbildung, die sich sehr wohl wieder finden. Das sage ich ohne Hochmut, jedoch mit einer gewissen Genugtuung. Das hat viel Arbeit und viel Durchsetzungskraft gefordert. Dies waren keine Selbstgänger in der sozialdemokratischen Partei. Das wissen Sie doch. Tun Sie doch nicht so! Es ist doch lächerlich, hier Ernsthaftigkeit postulieren zu wollen, sich hinzustellen, alte Zeitungsausschnitte rauszuziehen und zu sagen, da habe jemand seine Meinung vielleicht modifiziert oder gar geändert. Gott, wie schrecklich. Herr Kalinka, Sie bringen es doch fertig, in einem Podiumsdiskussionsbeitrag drei sich widersprechende Thesen zu formulieren.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Sie sind hier nicht aufgerufen, eine vernünftige Form der Meinungsänderung zu kritisieren. Mit einem Wort: Ich finde, wir brauchen Strukturreformen. Die machen wir, die befördern wir von Schleswig-Holstein aus. Wir brauchen eine Finanzreform. Dazu haben wir hier und heute eine Idee zufassende. Dazu braucht es noch weitere. Wir beteiligen uns - und das ist mir wichtig - solide an einer inhaltlich ernsthaften Diskussion.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Mir liegen noch vier weitere Wortmeldungen zu Kurzbeiträgen vor. Zunächst hat Herr Minister Dr. Stegner das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Ich möchte kurz etwas zu den Anmerkungen, die Sie in Ihren Kurzbeiträgen gemacht haben, sagen. Ich fange bei Ihnen an, Herr

(Minister Dr. Ralf Stegner)

Kalinka. Ich glaube, Sie hätten das Thema Kindertagesstätten nicht erwähnen sollen. Es reicht hierzu ein Satz. Landesförderung 1988: 650 000 €, Landesförderung heute: 60 Millionen €. Das ist der Unterschied.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Garg, was die Umsatzsteuer angeht: Es ist eben nicht so einfach zu sagen, es sei sozial, die Umsatzsteuer so zu lassen, wie sie ist. Denn es kommt immer darauf an, wie hoch Sie sie lassen. Das ist eine Rechenfrage. Meine These ist: Wenn wir mehr Arbeit haben und die „Bestrafsteuer“ auf der Arbeit weg ist, dann ist mehr da, sowohl der Arbeitnehmer hat mehr Geld in der Tasche als auch wir haben mehr Arbeitsplätze und damit auch mehr Möglichkeiten, in das System zu investieren.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der CDU)

Insofern ist es falsch - das ist eine rhetorische Figur, die ich kenne -, dass man Dinge heftig bekämpft, die niemand behauptet hat, sich aber mit den Inhalten nicht auseinander setzt, die genannt worden sind.

(Beifall der Abgeordneten Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Schließlich zu Ihnen, Herr Kubicki, was die Menschen angeht, für die Sie jetzt Ihr soziales Herz entdeckt haben. Dazu möchte ich gern sagen, dass ich wohl der Meinung bin, dass man die Mehrwertsteuer für die Grundbedürfnisse vielleicht noch um einen Punkt senken kann. Mir geht es aber darum, dass man mit den Ausnahmen aufhört. Ich nenne hier einmal das Beispiel Hundefutter, da sind Sie energisch dagegen und reden von einer Steuererhöhung. Das ist doch richtiger Quatsch.

(Beifall der Abgeordneten Ursula Kähler [SPD])

Die Mehrwertsteuer kann in einem gleichzeitigen Prozess für manche Dinge heraufgesetzt werden, für die Grundbedürfnisse dagegen nicht. Und dann ist das sozial gerecht und insgesamt wird mehr Arbeit geschaffen.

(Beifall der Abgeordneten Ursula Kähler [SPD])

Lieber Herr Wiegard, wie Sie auf die Zahlen kommen, was meine Amtszeit anbetrifft, ist mir wirklich schleierhaft. Vielleicht sollten Sie mir das noch einmal außerhalb des Parlamentes erklären. Das habe ich nicht verstanden. In dem Zahlenraum, den ich beherrsche, kommt das jedenfalls nicht vor, was Sie gesagt haben.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu einem weiteren Kurzbeitrag nach § 58 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung erteile ich das Wort Herrn Abgeordneten Baasch.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch ganz kurz auf einige Beiträge eingehen, die hier unter den Dreiminutenbeiträgen firmieren. Der Kollege Kalinka hat versucht, die Ergebnisse des SPD-Bundesparteitages zu diskutieren. Das ist ehrenwert und es ist auch gut, dass Sie sich damit auseinander setzen. Und dass 90 % der Delegierten der Agenda 2010 zugestimmt haben, ist richtig. Aber es wäre dann auch gut, die anderen Beschlüsse des Bundesparteitages zur Kenntnis zu nehmen, zum Beispiel den, dass vom 16. bis 20. November 2003 ein weiterer ordentlicher Bundesparteitag einberufen wird, wo auch über die Finanzreform diskutiert werden und eine entsprechende Entscheidung vorgelegt werden soll, unter anderem fußend auf einem Antrag der Delegierten aus Schleswig-Holstein. Sie haben gesagt, wir werden uns über Vermögensteuer, wir werden uns über Mehrwertsteuererhöhungen, wir werden uns über Erbschaftsteuerreform unterhalten müssen. Genau das ist da auf den Weg gebracht und von der großen, großen Mehrheit des Parteitages beschlossen worden. Aber das ist wahrscheinlich der Unterschied in der Wahrnehmung, den wir da haben. Vielleicht gibt es auch einen Unterschied bei der Wirkung der Bundesparteitage. Denn über Ihre Parteitage redet keiner, das ist anscheinend auch nicht notwendig.

(Zuruf des Abgeordneten Werner Kalinka [CDU])

Zu den Kindertagesstätten brauche ich wohl nichts weiter zu sagen, das hat Minister Stegner eben schon klargestellt.

Noch zwei Anmerkungen zum Kollegen Garg. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Art von Klientelpolitik hier immer wieder gearbeitet wird. Immer wenn es darum geht, auch andere finanzkräftigere Kreise in Steuerbelastungsdebatten mit einzubeziehen, wird sich gewehrt, dann wird angeführt, dass das immer nach unten ungerecht sei. Mit dieser Begründung kann man - da man es nicht allen gerecht machen kann - überhaupt nichts mehr machen, man stiehlt sich aus der Verantwortung. Ich glaube, auch das ist nicht der richtige Weg. Wir wollen darangehen und

(Wolfgang Baasch)

sagen, die Mehrwertsteuererhöhung ist notwendig, um tatsächlich soziale Sicherungssysteme zu entlasten. Das haben wir in unserem Antrag im Übrigen auch formuliert. Das kann jeder nachlesen, wenn man es will und auch verstehen will. Insofern greift der Vorwurf nicht.

Ein Teil Ihres Beitrages war nun wirklich unangemessen und wir sollten uns noch einmal darüber unterhalten, ob das in Zukunft so weitergehen soll. Wenn wir jetzt anfangen, uns gegenseitig vorzuwerfen, wer an welchen Veranstaltungen teilgenommen hat oder nicht teilgenommen hat,

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP] - Zurufe von der SPD)

dann kommen wir an eine Grenze. Auch wir können sehr gut sagen, wo die FDP nicht teilnimmt. Ich finde, das sollten wir hier nicht öffentlich aufrechnen, denn es gibt immer mal wieder gute Gründe, warum die eine oder andere Fraktion auf eine bestimmte Einladung schlicht und ergreifend nicht reagieren kann. Wenn Sie aus dieser Solidarität aussteigen wollen - was ich nicht hoffe -, dann müssen wir uns noch einmal sorgfältig über unsere gemeinsame Zusammenarbeit Gedanken machen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielleicht noch ein letzter Gedanke: Die Frage, wie wir überhaupt über Steuern zu einer gerechteren Beteiligung aller Bevölkerungsschichten und aller Einkommensgruppen kommen, die haben wir beantwortet. Wir wollen an der Vermögensteuer, bei der Erbschaftsteuer, bei der Rücknahme und bei der Entlastung durch die Körperschaftsteuer ansetzen, um zu versuchen, dass die Kommunen wieder in die Lage versetzt werden, Investitionen durchzuführen. Und wir wollen nicht einseitig die Lasten des sozialen Umbaus auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auf die Beitragszahler, abwälzen. Genau dahin gehen unsere Vorschläge. Die Zusammenführung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist ein Weg. Die Änderungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung sind der andere Weg. Wir müssen den Weg gehen, der tatsächlich dazu führt, die Finanzierungssysteme auf größere Füße zu stellen. Denn auch die starken Schultern in dieser Gesellschaft müssen ihren Teil beitragen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu einem weiteren Kurzbeitrag nach § 58 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Hentschel das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich zunächst für die konstruktiven Redebeiträge von Herrn Dr. Garg und Herrn Kubicki. Im Kern haben beide gesagt, dass sie das Konzept richtig finden, dass sie nur die Befürchtung haben, dass das Geld - wenn wir die Mehrwertsteuer erhöhen - nicht automatisch dafür ausgegeben wird, die Lohnnebenkosten zu senken, sondern es im allgemeinen Säckel verschwindet. Sie haben deshalb an unserem Antrag kritisiert, dass nicht ausdrücklich betont wird, dass auch eine Strukturreform der sozialen Sicherungssysteme notwendig ist. Ich biete Ihnen an - wenn Sie bereit sind, unserem Antrag zuzustimmen -, einen entsprechenden Satz aufzunehmen, der dann lauten würde: Der Schleswig-Holsteinische Landtag stellt fest, dass es eine Struktur- und Finanzreform der sozialen Sicherungssysteme geben muss. Wohlgemerkt, das ist ein Angebot, um auf diesen Kritikpunkt einzugehen. Er wird auch vom Koalitionspartner mitgetragen.

Zum Zweiten: In der Diskussion, die Sie zur Mehrwertsteuer angestoßen haben, gab es die berechtigte Frage, zu der ich Stellung nehmen möchte: Ist eine Mehrwertsteuer im Vergleich zu den Lohnnebenkosten sozial verträglicher? - Ich sage: Ja. Die Mehrwertsteuer ist sozial verträglicher als Lohnnebenkosten, weil die Sozialversicherungsbeiträge - so, wie wir sie zurzeit haben - überwiegend von den unteren und mittleren Einkommensgruppen gezahlt werden. Das heißt, wir finanzieren große Teile unseres Sozialsystems nur durch die unteren und mittleren Einkommen. Das ist schlichtweg ungerecht. Eine Mehrwertsteuer hat zwei soziale Komponenten. Die erste soziale Komponente ist die Tatsache, dass bei den unteren Einkommen der größte Anteil des Einkommens in die Miete fließt, nämlich 40 % und die ist mehrwertsteuerfrei. Die zweite soziale Komponente bei der Mehrwertsteuer ist, dass die Lebensmittel, die wiederum 20 bis 25 % der Ausgaben eines unteren Einkommens ausmachen, einen reduzierten Mehrwertsteuersatz von 7 % haben. Man kann eine Mehrwertsteuer sogar noch weiter sozial staffeln, wie das in Skandinavien gemacht wird, indem man einen dritten Mehrwertsteuersatz einführt. Das heißt, es besteht durchaus

(Karl-Martin Hentschel)