Protokoll der Sitzung vom 19.06.2003

(Karl-Martin Hentschel)

die Möglichkeit, eine Mehrwertsteuer sehr sozial zu gestalten

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

im Gegensatz zu den Lohnnebenkosten. Dass es trotzdem bei den Transfereinkommen Probleme gibt - so, wie Sie das dargestellt haben -, ist richtig. Das muss berücksichtigt werden, wenn man einen solchen Prozess anstößt.

Ein weiterer Vorteil der Mehrwertsteuer ist, dass sie außenhandelsneutral ist, dass sie nicht den Außenhandel belastet, während die hohen Lohnkosten in Deutschland über die hohen Lohnnebenkosten direkt auf den Außenhandel durchschlagen. Das ist ein erheblicher Nachteil der Lohnnebenkosten und man sieht den Vorteil der Mehrwertsteuer.

Der vierte Punkt ist, dass die Mehrwertsteuer nicht den Faktor Arbeit belastet, sondern den Faktor Verbrauch, während die Lohnnebenkosten den Faktor Arbeit ganz einseitig belasten und damit gerade das tun, was wir nicht wollen, nämlich Arbeitsplätze vernichten.

Das ist der Grund dafür, warum mir auch die beiden Handwerkspräsidenten - und ich habe sehr viele Gespräche mit Unternehmern und Handwerkern in diesem Land geführt - beigepflichtet haben und gesagt haben, das fänden sie richtig. Sie haben mich dann gefragt, warum ich das nicht öffentlich vertrete. Ich habe ihnen gesagt: Wenn ich das öffentlich vertrete, dann kommt die Opposition und sagt, ich wolle eine Steuererhöhung. Sie erhebt nur den Vorwurf der Steuererhöhung und erkennt überhaupt nicht, dass es um eine Umfinanzierung des Sozialversicherungssystems geht. „Sie müssen das vorschlagen“, habe ich zu Herrn Carsten Jensen in Flensburg - übrigens CDUMitglied - gesagt. Ich habe gesagt: „Können Sie das nicht zuerst vorschlagen?“ Und zu Herrn Burgdorff - ehemaliges CDU-Mitglied, Handwerkspräsident in Lübeck - habe ich gesagt: „Können Sie das nicht als Erster vorschlagen?“ Dann ist tatsächlich das Wunder passiert. Beide Handwerkspräsidenten haben sich öffentlich hingestellt und haben genau das gefordert, was wir seit langem vertreten. Da habe ich gesagt, jetzt müssen wir das auch öffentlich vertreten, und bin auf den Bundesparteitag gegangen und habe diese Diskussion geführt.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben beim ersten Mal bei der Grundsatzprogrammdiskussion 10 % Zustimmung für unseren Antrag bekommen, dieses Mal haben wir 40 % bekommen. Ich bin sicher, beim nächsten Mal werden

wir die Mehrheit bekommen, weil das Problem gar nicht anders zu lösen ist.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Herr Abgeordneter Hentschel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Strauß?

Nein, ich bin am Ende meiner Redezeit, ich bin schon im Minus. Tut mir Leid. Wenn ich mehr Redezeit bekomme, gern.

Ich möchte Sie auch bitten, Ihren letzten Satz zu formulieren.

Wir führen eine Angstdiskussion und wir führen eine Pseudodiskussion. Denn jedes Mal, wenn jemand sagt, wir wollen umsteuern auf Steuern statt Sozialabgaben, schreit die Opposition: Das ist eine Steuererhöhung. Deswegen haben alle Angst.

Ich habe in Berlin angerufen und gefragt: Warum macht ihr das nicht? - Weil wir dann eine Steuererhöhungsdiskussion kriegen und die können wir uns nicht leisten - war die Antwort. Nicht, weil jemand sagt: Das ist falsch.

Ich bitte, endlich aufzuhören mit diesen Pseudodiskussionen und dazu zu kommen, ernsthaft darüber zu diskutieren, welches Konzept das bessere ist. Ich bin überzeugt davon, dass wir dann alle gemeinsam zu der Einsicht kommen: Ein Umsteuern von Sozialversicherungsabgaben auf Verbrauchsteuern ist ein sozial gerechtes, ein außenwirtschaftlich sinnvolles und ein arbeitsmarktförderndes System.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Herr Abgeordneter Hentschel, ich darf Sie bitten, mir Ihren Änderungsantrag schriftlich zu geben. - Als Nächster hat nach § 58 Abs. 2 der Geschäftsordnung Herr Abgeordneter Kalinka das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute Vormittag eine interessante und eine sich erfreulicherweise an konkreten Punkten orientierende Diskussion erlebt. Wir werden im zweiten Halbjahr die Gelegenheit haben, uns weiter über Einzelheiten zu unterhalten, zumal uns ja auch die laufenden Gesetzgebungsvorhaben über den Bundesrat Ende September die Gelegenheit geben, gegenseitig die Positionen auszutauschen.

Frau Moser, Sie haben mir nicht die Gelegenheit gegeben, Ihnen noch eine Frage zu stellen. Nach meinem Kenntnisstand bevorzugen Sie die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe bei der Ansiedlung in den Kreisen. Wie weit sind Sie da mit Blick auf die Bundesebene? Sehen die das genauso? Wie soll das zum 1. Januar 2004 organisiert werden? Was ist in Schleswig-Holstein Sachstand in der Umsetzung vor allem bei den Kommunen? Wir sind jetzt im Juni dieses Jahres. Eine solche Zusammenlegung von Mammutbehörden bedarf doch einer gewissen Vorbereitung und Umstrukturierung. Da ist es doch mehr als berechtigt, die Frage zu stellen, wie das funktionieren soll, wie hierzu der Stand in Schleswig-Holstein ist!

Frau Moser, Sie haben am 2. März 2001 die verbesserte Zusammenarbeit von Arbeits- und Sozialämtern dargelegt und gesagt: Schleswig-Holstein ist wieder einmal bundesweit Vorreiter. - Das war vor zweieinviertel Jahren. Da ist es doch nicht unverständlich zu fragen, wie die Umsetzung in Schleswig-Holstein konkret ist.

Lassen Sie mich einige weitere Punkte hinzusetzen. In der Gesundheitspolitik werden wir Sie doch fragen dürfen: Warum bauen Sie Medizinstudienplätze ab, obwohl - wie die Anfrage von Frau Kolb ergeben hat - nicht einmal heute alle freien Kassenarztsitze besetzt werden können? Wie soll es mit den Universitätskliniken weitergehen?

Herr Abgeordneter, ich darf Sie bitten, sich auf das Thema zu beschränken.

(Zurufe)

Entschuldigung, ich spreche zum Thema soziale Sicherungssysteme, Gesundheitsfragen. - Wir werden sicherlich die Frage an Sie richten, ob Sie die Sozialhilfeempfänger künftig in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert haben wollen oder nicht.

Auch mit dieser Frage werden wir uns im Landtag beschäftigen.

Beim Thema Rente und Pflege werden wir die Frage stellen: Wollen Sie unsere Anträge bei den Haushaltsberatungen auf eine Ausweitung der Ausbildungsplätze weiter ablehnen? Wir werden die Frage stellen: Wie soll die Finanzierung zwischen den Kommunen und anderen bei den sozialen Sicherungssystemen neu austariert werden?

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Baasch [SPD])

Herr Minister Stegner, beim Thema Kita geht es für uns nicht nur um Zahlen. Die Frage, wie die Kitas künftig organisiert werden, wie die Betreuungszeiten familienfreundlich ausgeweitet werden sollen, wie Sie es gestern gefordert haben, um Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren, ist eine sehr ernste Frage für die Berufstätigkeit, für die Finanzierbarkeit von sozialen Sicherungssystemen. Dazu müssen Sie uns schon ein bisschen mehr sagen, als nur zwei Zahlen gegenüberzustellen.

Wir werden uns mit der Frage, welche soziale Balance wir bei diesen Dingen auch in Schleswig-Holstein haben wollen, im zweiten Halbjahr in jeder Landtagssitzung beschäftigen können.

(Beifall bei CDU und FDP)

Das Wort zu einem weiteren Kurzbeitrag nach § 58 Abs. 2 der Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Kubicki.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Hentschel hat darauf hingewiesen, dass wir uns dem Thema intensiver und ernsthafter nähern sollten. Deshalb bitte ich darum, dass die Anträge an mehrere Ausschüsse überwiesen werden, um sie dort weiter zu diskutieren.

(Beifall bei FDP und CDU)

Herr Kollege Hentschel, auch wir reden wie Sie mit Handwerkern und den zweiten Halbsatz der Erklärung der Handwerkspräsidenten müssen Sie mitformulieren: Mehrwertsteuererhöhung erst dann, wenn die Strukturreformen der sozialen Sicherungssysteme stattgefunden haben.

(Beifall bei FDP und CDU)

Ich bin nun nicht der Lordsiegelbewahrer der sozialen Gerechtigkeit; das überlasse ich gern anderen, die das

(Wolfgang Kubicki)

immer vor sich hertragen. Es gibt ja nicht nur das Problem der sozialen Ausgewogenheit, es gibt auch das Problem der ökonomischen Folgewirkungen. Man muss nach einer bestimmten Phase genau schauen, ob Strukturreformen, die, wenn wir ausreichend Wachstum hätten, so angelegt werden können, dass sie auch noch funktionieren, wenn wir kein Wachstum haben.

Was passiert denn bei einer Mehrwertsteuererhöhung? Zunächst verteuern sich die Preise, und zwar massiv. Das bedeutet, dass die Konsumenten oder die Nachfrager weniger Güter und Dienstleistungen nachfragen werden. Ob denn dann die Entlastungen bei den Lohnnebenkosten, die je zur Hälfte bei den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern liegen, voll über die Preise weitergegeben werden, steht in den Sternen. Ökonomisch ohnehin nur zur Hälfte, wenn überhaupt. Wahrscheinlich werden die Unternehmen das nutzen, um ihre Gewinnsituation kurzfristig zu verbessern.

Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Man spricht am besten immer über sich selbst. Kollege Arp oder Kollege Kerssenbrock, wir stellen doch keine Leute ein, wenn wir das Gefühl haben, die Lohnnebenkosten würden sinken, das heißt, unsere Gewinnsituation würde sich verbessern. Wir stellen doch nur Leute ein, wenn wir glauben, dass sich der Absatz verbessern wird, dass sich der Umsatz verbessern wird.

(Beifall bei FDP und CDU)

Genauso reagieren die Unternehmen. Wenn sie nicht mehr das Gefühl haben, dass bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer ihre Absatzerwartungen durch die Erhöhung der Preise in der Zukunft realisiert werden - das gilt für Aldi, Tengelmann, Karstadt, TUI, VW, Daimler Benz, für wen auch immer -

(Zurufe)

- Moment, wir reden auf zwei verschiedenen Ebenen, Kollege Baasch, Sie reden vom Gesundheitssystem, ich rede von den ökonomischen Auswirkungen auf unsere Volkswirtschaft, auf Wachstum und Beschäftigung -, dann ergeben sich negative Beschäftigungswirkungen, weil in Antizipation der künftigen negativen Absatzerwartungen zunächst Beschäftigte freigesetzt werden. Anders als beim Nullwachstum, das wir gegenwärtig haben, oder in der Rezession ist das ein Riesenproblem, weil Sie eine Tendenz stärken würden, der man eigentlich entgegenwirken muss.

(Beifall bei FDP und CDU)

Man muss das bei allen Diskussionen bedenken. Herr Kollege Baasch, vielleicht sollten Sie wenigstens da

einmal auf Ihren Bundesvorsitzenden, Ihren Bundeskanzler, und den Bundeswirtschaftsminister hören, der ja auch kein Dummer ist. Nicht alle Sozialdemokraten sind ja unvernünftig. Der wird Ihnen erklären, dass die ganze Diskussion über Steuererhöhungen, über Abgabenveränderungen den Attentismus in der Wirtschaft und bei den Konsumenten weiter erhöht, statt ihm entgegenzuwirken.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug [FDP])

Das heißt, die ganze Diskussion führt dazu, dass sich die negativen Tendenzen verstärken, statt dass sie aufgeweicht werden. Deshalb ist ja der Appell von allen Vernünftigen der, dass man mit dieser Diskussion aufhört und zunächst einmal darangeht, wieder Grundvertrauen im Bereich der Wirtschaft und der privaten Konsumenten zu legen, damit die wieder am Wirtschaftsleben teilnehmen und sich nicht zurückhalten.