Protokoll der Sitzung vom 19.06.2003

(Beifall bei FDP und CDU)

Falls Abstimmung in der Sache gewünscht wird, lehnen wir den Antrag von Rot-Grün selbstverständlich ab. Liebe Anke Spoorendonk, ich werde - egal ob wissenschaftlich oder politisch - immer dafür kämpfen, dass Deutschland kein Land mit einer Grenzbe

(Dr. Heiner Garg)

lastung von über 70 % wird. Dänische Verhältnisse will ich hier nicht haben!

(Beifall bei FDP und CDU)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Baasch das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen eine Neubegründung des Wohlfahrtsstaates. Wir brauchen eine notwendige Reform unserer sozialen Sicherungssysteme. In dieser Diskussion stellen wir uns allerdings die zentralen Fragen, was soziale Gerechtigkeit heute bedeutet und wie unser Staat für soziale Gerechtigkeit sorgen muss.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Und wie beant- wortet ihr die Fragen?)

- Wir haben zumindest Antworten. Das, was ich eben gehört habe, gehörte eher zu einer Märchenstunde.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit muss die Menschen vor Armut und materieller Not schützen. Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit muss gleiche und gerechte Chancen ermöglichen. Nur unter dieser Voraussetzung finden die Menschen Anerkennung und können aktiv an der Gesellschaft teilhaben. Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen durch die unsicheren ökonomischen Verhältnisse verunsichert sind. Sie wollen sich vor existenzieller materieller Not beschützt sehen. Gleichzeitig sehen wir, dass unsere sozialen Sicherungssysteme den Ansprüchen der Menschen nicht mehr gerecht werden.

Mut zur Veränderung und Mut zum Umbau des Sozialstaates sind gefragt. Wir brauchen umfassende und grundlegende Reformen für Wachstum, Beschäftigung und sozialen Ausgleich. Wir brauchen Reformen, die für eine nachhaltige Sicherung des Sozialstaates und seiner materiellen Grundlagen stehen. Der falsche Weg wäre eine einseitige Strategie, die ausschließlich auf Leistungskürzungen setzt. Auch die Versuche, mit der Senkung von Lohn - und Lohnnebenkosten, mit der Senkung von Unternehmensteuern, Deregulierung und Flexibilisierung - wie Verlagerung von Arbeitszeiten und Änderungen von Arbeitsrecht zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft wieder herzustellen, funktionieren nicht. Dieser Weg kann wegen seiner Einseitigkeit nicht den erhofften Erfolg bringen. Bei solchen Konzepten werden lediglich diejenigen belastet, die bereits heute den größten

Teil der sozialen Sicherungssysteme in unserer Gesellschaft leisten. Solche einseitigen Schritte führen darüber hinaus zu einer Vergrößerung der Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft. Wir brauchen für die Zukunft einen Weg, in unserem Land die Sozialstandards auf hohem Niveau zu halten. Höchste Priorität haben hierbei die Schaffung und die Sicherung von Arbeitsplätzen. Jeder und jede muss eine Chance auf Ausbildung und Arbeit haben.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der Zukunft wird es nicht mehr ausreichen, dass allein Beiträge aus abhängiger Beschäftigung die Grundlage für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme bilden. Zur Finanzierung müssen künftig alle Berufsgruppen und alle Arten von Einkünften herangezogen werden. Wir müssen verstärkt darüber nachdenken, wie wir unsere sozialen Sicherungssysteme entlasten. Sozialleistungen, die von der Allgemeinheit zu tragen sind, nicht von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern, sollen künftig steuerfinanziert werden.

Der Antrag der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zielt darauf ab, den Faktor Arbeit bei den Kosten für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme drastisch zu entlasten und die Kosten aufkommensneutral durch Erhöhung der Mehrwertsteuer zu finanzieren. Dass dies keine absurde Idee ist, belegt auch ein Bericht aus den „Lübecker Nachrichten“ vom gestrigen Tag. Unter der Überschrift, warum uns eine höhere Mehrwertsteuer aus der Krise führen kann, ist dort zu lesen, die generelle Klage über eine zu hohe Besteuerung in Deutschland sei nicht gerechtfertigt. Wenn man sich die steuerliche Belastung insgesamt anschaue, dann sei sie bei uns nicht höher als anderswo, obwohl das immer wieder behauptet werde. Dieses Mal haben die „Lübecker Nachrichten“ Recht.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Und auch auf das zugegebenermaßen schwierig nachzuvollziehende Steuersystem in der Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Artikel eingegangen. Dort heißt es:

„Ein undurchsichtiges Steuersystem ist immer auch ein Stück weit ungerecht, weil bestimmte Personengruppen das Gestrüpp von Bestimmungen und Ausnahmen besser durchschauen als andere und davon profitieren. … Der Vorteil der mehrwertsteuerfinanzierten Sozialversicherung liegt darin, dass alle daran beteiligt sind, die Reichen wie die

(Wolfgang Baasch)

Armen, - wobei jemand, der sich einen schicken Pelzmantel leistet oder ein schnelles Auto, über die Mehrwertsteuer mehr in die Sozialversicherung einzahlt als jemand, der im Billigladen einkauft oder weiter Fahrrad fährt.“

Wir brauchen große und schnelle Anstrengungen, um die mehr als ein Jahrzehnt grob vernachlässigten Investitionen in Bildung und Forschung, Umwelt und Innovation und in die Infrastruktur unserer Städte und Gemeinden schneller in Gang zu bringen. Das schafft Zukunft und Arbeitsplätze. Die Voraussetzungen dafür sind auf der nationalen und europäischen Ebene unverzüglich in Gang zu setzen.

Ein Schwerpunkt der Anstrengungen muss dabei in der Überwindung der Strukturschwäche, zum Beispiel in Ostdeutschland, aber auch unserer Kommunen und der meisten anderen Bundesländer liegen. Weniger Solidarität löst die Probleme unserer Sozialsysteme nicht, sie verschärft sie vielmehr. Es gibt keinen Grund, hinter das erreichte Maß an sozialer Freiheit und Sicherheit zurückzufallen.

Zu den vorliegenden Anträgen möchte ich nur noch ausführen: Ich finde, unsere Argumente sind sehr überzeugend. Deshalb fordern wir Sie natürlich auf, unserem Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zuzustimmen.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Ich fordere Sie aber auch auf, dem Antrag des SSW zuzustimmen, weil er eine logische Ergänzung zu den Forderungen ist, die wir aufgestellt haben.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Wir werden die Anträge von CDU und FDP ablehnen.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Wie lange denn?)

Zum Antrag der FDP möchte ich sagen: Schauen Sie einmal in die Begründung! Dort heißt es, man wolle versachlichen und die wirklichen Probleme angehen. Ich sage: Das ist bisher nicht Ihr Ding gewesen, Sie haben nicht versachlichen wollen und Sie haben auch die wirklichen Probleme nicht angehen wollen. Das, was Sie vorschlagen, läuft einseitig auf Leistungskürzungen im sozialen Bereich hinaus. Ich denke, das kann nicht der Weg sein.

Zu Ihrem Vorschlag, neue Versicherungssysteme mit einer Haftpflichtversicherung zu belegen, kann ich nur jedem raten, sich einmal die Haftpflichtversicherung bei Autofahrern anzuschauen, dann weiß man,

was Leute mit besonderen Risiken zu zahlen haben. Dieses Modell kann wirklich nicht funktionieren.

(Beifall der Abgeordneten Jutta Schümann [SPD])

Zum Antrag der CDU ist zu sagen, dass er unglaublich unpräzise ist, wenn er zwar sagt, soziale Leistungen müssen den wirklich sozial Schwachen zugute kommen, ohne an irgendeiner Stelle zu formulieren, wer denn die wirklich sozial Schwachen sind, welches die Leistungen sind, die die Menschen zu erwarten haben. Wenn es beim Gesundheitssystem darum geht aufzuzeigen, dass man natürlich eine Grundversorgung haben will, gleichzeitig aber sagt, dazu zählen nicht die Bereiche, die bei uns auf privater Versorgungsbasis geregelt sind, und die versicherungsfremden Leistungen, dann wird auch leider ausgesprochen unpräzise formuliert, was denn geändert werden soll. Weil das alles nicht ausreicht, werden wir die Anträge von CDU und FDP ablehnen und fordern Sie noch einmal auf, unseren Anträgen zuzustimmen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Kalinka das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines vorweg, Herr Kollege Baasch. Wenn ich Ihren und unseren Antrag vergleiche, stelle ich fest: weit präziser und inhaltsreicher ist unser Antrag.

(Beifall bei der CDU)

Darüber brauchen wir eigentlich gar nicht zu diskutieren.

(Zuruf der Abgeordneten Jutta Schümann [SPD])

Der heutige Vormittag bietet Gelegenheit, über den Wert des Sozialen und der Solidarität zu sprechen. Für uns als CDU steht fest: Die Sozialversicherungssysteme haben auf der einen Seite entscheidend dazu beigetragen, soziale Gerechtigkeit in Deutschland zu verwirklichen. Für uns bleiben die Sozialversicherungssysteme ein unverzichtbarer Bestandteil einer solidarischen Gesellschaft - um das ganz klar und deutlich zu formulieren.

(Beifall bei der CDU)

Auf der anderen Seite benötigen wir ein stetiges wirtschaftliches Wachstum. Wir brauchen mehr Erwerbs

(Werner Kalinka)

tätigkeit und einen Abbau der Arbeitslosigkeit, um das zweite Problem zu mindern, nämlich das Einnahmeausfallproblem, das wir in diesem Bereich haben. Eine Million weniger Arbeitslose würden allein einen Mehrbetrag von 2 Milliarden € in den Gesundheitskassen bedeuten. Wir haben ein Einnahmeproblem. Deshalb müssen wir vor allen Dingen über diesen Punkt diskutieren. Hier leisten die Bundes- und die Landesregierung keinen ausreichenden Beitrag. Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft. Das muss die Nummer 1 in dieser Diskussion sein.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der FDP)

Vordringlich ist eine tatsächliche Reform der Sozialversicherungssysteme, die erstens die Kosten reduziert und zweitens das Gebot der sozialen Gerechtigkeit beachtet. Ich möchte dazu zwei kurze Anmerkungen machen. Wir brauchen eine Kürzung von Leistungen und wir brauchen die Übernahme von mehr Eigenverantwortung. Daran kann gar kein Zweifel bestehen.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Baasch [SPD])

- Herr Kollege Baasch, ich hätte mir gewünscht, bevor Sie hier unreflektiert dazwischen sprechen, dass Sie erst einmal diese konkreten Dinge auf Ihrem SPD-Bundesparteitag eingebracht hätten. Da haben Sie zu diesen Dingen überhaupt nichts gesagt und kommen drei Tage später hier mit einem Antrag.

(Beifall bei CDU und FDP - Wolfgang Ku- bicki [FDP]: Da kneifen Sie überall! - Zurufe von der SPD)

Die Leistungen für die wirklich sozial Schwachen zu gewähren und dem Missbrauch von Sozialhilfeleistungen zu begegnen, ist einer der ersten Punkte.