Protokoll der Sitzung vom 08.05.2009

(Niclas Herbst)

ein hohes Maß an sozialem Schutz sowie die Hebung der Lebensqualität zu erreichen. Die Große Anfrage ist und bleibt auch nach der Rede des Kollegen Fischer, die auch ich eher als Wahlkampfgetöse und Klassenkampf empfunden habe - aber das macht nichts -, eine interessante Ergänzung zu den alljährlichen Europaberichten der Landesregierung. Die dort beantworteten Fragen ergeben auf die Themenbereiche Arbeit, Bildung und Forschung sowie Wirtschaft bezogen einen ganz neuen Blickwinkel, der ansonsten in den Europaberichten eher etwas knapp gehalten wird.

Das Besondere an dieser Großen Anfrage ist, dass Themenbereiche abgefragt werden, für die die Europäische Gemeinschaft keine weitreichenden eigenständigen Kompetenzen besitzt. Die national zu regelnden Bereiche der Sozialpolitik und die Erreichung sozialer Ziele können deshalb durch grenzüberschreitende Rahmenvorgaben der EU und durch entsprechende Fördergelder ergänzt und unterstützt werden.

Wenn die Menschen in Europa selbst bestimmen das ist ja der Hauptgedanke des Europas der Völker -, wie und wo sie leben, wie und wo sie arbeiten möchten, dann brauchen sie Rahmenbedingungen. Es ist deshalb konsequent, in der Anfrage nach der Vergleichbarkeit und gegenseitigen Anerkennung von Bildungsabschlüssen und der Portabilität von Sozialversicherungsansprüchen zu fragen. Das sind Themenbereiche, für die ein europäischer Rahmen mit Sicherheit notwendig ist. Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in den europäischen Mitgliedstaaten, die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen und die gewollte Arbeitnehmermobilität werfen in der Praxis insbesondere bei der sozialen Absicherung oder der medizinischen Versorgung Fragen auf, die im europäischen Kontext gelöst werden müssen.

Grundvoraussetzung für ein soziales Europa ist aber, dass sich die Menschen mit Europa identifizieren können. Dabei müssen wir - darauf ist Kollege Herbst besonders eingegangen - berücksichtigen, dass die Europäische Union mittlerweile eine Gemeinschaft aus fast 500 Millionen Menschen aus 27 Ländern ist, die zueinanderfinden müssen. Das bedeutet, dass unter dem Dach der EU 27 unterschiedliche Sozialsysteme bestehen, die auf verschiedensten Traditionen und Lebenswirklichkeiten basieren. Arbeitsmarkt- und sozialpolitische Herausforderungen lassen sich nicht einfach über einen Kamm scheren und nicht einfach vergleichen. Wir brauchen deshalb maßgeschneiderte Konzepte, die

die unterschiedlichen Realitäten in der EU widerspiegeln.

(Beifall bei der FDP)

Andernfalls identifizieren sich die Menschen gerade nicht mit Europa, sondern empfinden es als eine Institution der Bevormundung und Gleichmacherei, die Rahmenbedingungen vorgeben will, die an den individuellen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger zwischen Schweden und Portugal beispielsweise schlicht vorbeigehen, weil man die Realitäten dort nicht zur Kenntnis nehmen will.

Das heißt für uns, dass soziale Reformen in alleiniger Verantwortung der Mitgliedstaaten verbleiben müssen. Anstatt die Sozialpolitik womöglich zu vereinheitlichen oder zentral steuern zu wollen, sollten wir die Europäische Union als Plattform für den Austausch und Vergleich der unterschiedlichen Sozialsysteme nutzen, um so in einen Wettbewerb der besten Sozialsysteme treten zu können. Aufgabe der EU muss es dabei sein, diesen Wettbewerb zu ermöglichen, Spielregeln zu schaffen und Spielregeln zu sichern, darüber zu wachen, dass das bisher Erreichte nicht verwässert wird, aber nicht, um den einzelnen Mitgliedstaat zu bevormunden.

Konkret zur Großen Anfrage! Die Große Anfrage versucht, den Rahmen abzudecken, der sich unter der Überschrift „Soziales Europa“ subsumieren lässt. Dabei wurden beispielsweise Fragen nach den in der Vergangenheit für bestimmte Programme ausgegebenen Fördermitteln gestellt. Es ist sinnvoll zu wissen, was alles in Schleswig-Holstein aus EUMitteln gefördert worden ist.

Lieber Kollege Fischer, dass aber die Gelegenheit nicht genutzt worden ist, auch nach den konkreten Ergebnissen der Projekte für Schleswig-Holstein zu fragen, die finanziert worden sind, habe ich ein wenig bedauert. Beispiel Gesundheitswesen: Da werden im Bereich Gesundheitswesen Projekte aufgelistet, die in den letzten zehn Jahren allein durch rund 14 Millionen € an EU-Fördermitteln mitfinanziert worden sind. Die Projekte reichen von der grenzüberschreitenden Entwicklung der Schwesternausbildung über die Verbesserung der Badewasserqualität bis hin zur Telemedizin. Was sie letztlich für den Standort Schleswig-Holstein konkret bewirkt haben, ist bedauerlicherweise nicht zu erfahren.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das mag neben der Fragestellung vielleicht auch daran liegen, dass „zentrale Übersichten über alle

(Dr. Heiner Garg)

geförderten Projektbereiche hinweg der Landesregierung nicht vorliegen“. Sinnvoll wäre es aber natürlich zu wissen, welche Projekte mit den Steuermitteln der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger zu welchem Ergebnis geführt haben.

Welche konkreten Ergebnisse konnten zum Beispiel aus dem bis 1999 geförderten Projekt der grenzüberschreitenden Schwesternausbildung abgeleitet werden, wenn zehn Jahre später immer noch die fehlende gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen als gravierendes Hemmnis des grenzüberschreitenden deutsch-dänischen Arbeitsmarktes bezeichnet wird? Da ist zehn Jahre lang etwas gefördert worden - was ich grundsätzlich begrüße -, und wir haben bis heute noch keine grenzüberschreitende Anerkennung der Abschlüsse. Ich weiß, das liegt an den unterschiedlichen Ausbildungen in diesen Berufen. Trotzdem ist das ein Zustand, der uns nicht zufriedenstellen kann.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: So ist es!)

Wurde die grenzüberschreitende Schwesternausbildung auch nach Ablauf der Förderung fortgeführt, und welche Auswirkung hatte dieses gemeinsame Projekt auf die Ausbildungsinhalte in Sønderjylland und in Schleswig-Holstein? Das sind Fragen, die sich zwangsläufig beim Lesen der Antworten der Großen Anfrage stellen, die aber leider nicht wirklich beantwortet werden.

Wenn in der Großen Anfrage als primäres Ziel des europäischen Qualifikationsrahmens - ich zitiere wieder – „die Transparenz von Bildungsabschlüssen im europäischen Vergleich und die Schaffung von Vergleichbarkeit von Kompetenzen und Qualifikationen“ genannt wird, dann wäre es sicherlich auch sinnvoll zu wissen, inwieweit deutsche Abschlüsse, Beispiel Gesundheitssektor, im europäischen Ausland anerkannt werden beziehungsweise heute immer noch nicht anerkannt werden.

In der Vergangenheit hat sich die Europäische Union überwiegend auf den Gesundheitsschutz am Arbeitplatz, auf Standards bei den Arbeitszeiten oder auch auf den sozialen Schutz von Wanderarbeitnehmern innerhalb der EU konzentriert. Hier ist einiges geschehen, nicht nur durch Richtlinien und Verordnungen, sondern auch durch gestaltende Urteile des Europäischen Gerichtshofs mit teilweise unmittelbaren Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung.

Die Bürger in der Europäischen Union stellen sich aber zu Recht die Frage, was das Europa - wir fordern die Bürger auf, sich daran zu beteiligen und

zur Wahl zu gehen - ganz konkret für sie leistet. Welche Vorteile haben sie davon, wenn sie nicht nur im Urlaub ein Europa ohne Grenzen und mit einer - in großen Teilen Europas - einheitlichen Währung erfahren möchten, sondern auch im Arbeitsund im Alltagsleben? Ist der Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe unabhängig von Aufenthaltsort oder Nationalität gewährleistet? Stimmen die sozialen Rahmenbedingungen, oder stehen die Bürger in Europa noch unüberwindbaren Barrieren? Und damit meine ich nicht Sprachbarrieren.

Die Große Anfrage gibt hierzu einen ersten Überblick. Deutlich wird, dass es für viele Bereiche noch keinen einheitlichen Rahmen gibt. So werden zwar in mehreren Mitgliedstaaten erworbene Versicherungszeiten in der Rentenversicherung zusammengerechnet. Eine Regelung, dass beispielsweise Wissenschaftler einmal erworbene versorgungsrechtliche Anwartschaften bei einem Wechsel des Dienstherren nicht verlieren, gibt es aber noch nicht. Hier besteht konkreter Nachbesserungsbedarf.

Es gibt zwar grenzüberschreitende Studienangebote, in denen Studierende in bestimmten Fächern an bestimmten Universitäten einen zweiten akademischen Grad erwerben können. Generell steckt der Prozess der gegenseitigen Anerkennung von Hochschulabschlüssen nach wie vor in den Kinderschuhen. Hier gibt es konkret Nachholbedarf, ohne dass man vereinheitlichen muss.

(Beifall bei der FDP)

Es wird zwar Freizügigkeit in der Europäischen Union gewährt. Deutschland und Österreich bestehen aber als mittlerweile einzige Mitglieder der EU darauf, die Freizügigkeit für die im Jahr 2004 beigetretenen osteuropäischen Länder bis 2011 einzuschränken.

Ich fasse zusammen: Die Antworten auf die Große Anfrage sind mit Sicherheit ein Betrag für mehr Transparenz. Die EU finanziert viele interessante Programme und vielversprechende Ideen, um die entsprechenden Rahmenbedingungen in der europäischen Sozialpolitik auszufüllen. Es gibt viele Richtlinien, Programme und Fördertöpfe. Aber die konkreten Ergebnisse oder Auswirkungen der Programme auf Schleswig-Holstein sind wenig bekannt. Und die wenigen, die bekannt sind, sind, offen gestanden, wenig transparent. An der Stelle lohnt sich das Nachfragen und Nacharbeiten. Genau diese Intransparenz ist das Problem, das viele Bürgerinnen und Bürger mit der Institution Europa verbinden.

(Dr. Heiner Garg)

Die Große Anfrage macht deutlich, wie weit der Rahmen für ein soziales Europa sein kann. Ich meine aber - insoweit unterscheiden Herr Kollege Fischer und ich uns im Zweifel in der Interpretation der Antworten -, dass noch viele originär nationale Aufgaben zu lösen sind. Ich habe drei Beispiele genannt. Herausheben will ich noch einmal den gesamten Bereich der Bildungspolitik.

(Beifall bei der FDP und der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

Mit Bildung meine ich wiederum nicht nur die Vermittlung von Sprachkompetenz in einem Europa, in dem es 23 Ansprachen gibt. Bildung ist die Grundvoraussetzung für Teilhabe, damit die Menschen das, was Politikerinnen und Politiker vor uns mit Europa schaffen wollten, auch wirklich nutzen können.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat Frau Abgeordnete Angelika Birk das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der fortgeschrittenen Zeit werde ich meine Rede stark einkürzen, damit Frau Kollegin Spoorendonk auch noch das Vergnügen hat, hier Zuhörer zu finden. - Wir hatten gesagt: 13 Uhr. Ich muss für meine Fraktion ankündigen, dass wir in wenigen Minuten einen Termin haben, weswegen wir auch hier eingeschränkt sind.

Ich komme zum Thema.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Frau Kollegin Birk, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Holger Astrup?

Nein, ich möchte die Zeit kürzen. Kommen wir deshalb zum Thema.

„Ein Sozialpakt für Europa ist an der Zeit“ - so habe ich meinen Beitrag betitelt. Ich möchte mit einem Zitat beginnen:

„Europa steht 2009 vor einer Bewährungsprobe: Die Europäische Union muss die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit

ihrer Gründung bewältigen, gleichzeitig stehen die Wahlen zum Europäischen Parlament an. Im Herbst wird eine neue EU-Kommission ernannt.

Auch die Staats- und Regierungschefs haben auf ihrem letzten Gipfel Anfang April in London gezeigt, dass sie den Ernst der Lage noch nicht erkannt haben und den sozialen Folgen des Finanzdebakels … zu wenig Bedeutung beimessen. Warum hätten sie sonst beschlossen, den geplanten Beschäftigungsgipfel mit allen 27 Staats- und Regierungschefs ausfallen zu lassen?“

Dies formulierte das DGB-Bundesvorstandsmitglied Gabriele Bischoff in ihrem Kommentar in der GEW-Zeitung vom Mai 2009.

Die europäischen Gewerkschaften fordern einen Sozialpakt für Europa, eine nachhaltige Sozialpolitik, das heißt Mindestlöhne in ganz Europa, einen Schutzschirm für Ausbildungsplätze, eine gründliche Revision der Entsenderichtlinie, um tatsächlich Maßnahmen gegen Lohndiskriminierung, insbesondere bei Leiharbeit, aber auch bei typischen Frauenund Migrantenarbeitsplätzen in allen Europäischen Ländern durchsetzen zu können. Das ist zugegebenermaßen eine Vision, aber wenn man keine Vision hat, kann man auch nicht die ersten Schritte gehen.

Dies unterstützen wir Grünen ebenso wie die Gewerkschaftsforderung nach einer konsequenten Regulierung der Finanzmärkte. Wenn die Europäische Union weiterhin diese wesentliche Aufgabe nicht konsequent anpackt, macht sie sich selbst überflüssig. An dieser Stelle sind wir ganz einer Meinung mit dem DGB-Vorstand. Ich bin auch dankbar, dass der Europaminister hier deutliche Worte gefunden hat. Die Grünen haben zur Lösung dieser Aufgabe das Konzept des Green New Deal formuliert.

An dieser Stelle käme ein Block zu diesem Konzept in meiner Rede, den ich aber nicht in aller Breite vortragen, sondern nur skizzieren will. Nur so viel: Eine Finanz- und Wirtschaftspolitik, die sich auf Arbeitsplätze im Bereich Klimaschutz und auf Investitionen in Bildung konzentriert, löst damit die dringendsten und gleichzeitig nachhaltigsten Aufgaben des 21 Jahrhunderts. Aus dem Bericht der Landesregierung wird deutlich, wie viel hier noch zu tun ist.

Um mit dem Berichtsthema anzufangen: Es wird sehr deutlich, dass - mit einer großen Kraftanstrengung - die Umstellung auf das Bachelor- und Masterstudium zwar formal fast vollendet ist; aber

(Dr. Heiner Garg)

vom Ziel, vom Sinn dieser Maßnahme - bessere Studierbarkeit, bessere Lehre, internationale Anerkennung der Abschlüsse, mehr internationaler Austausch - sind wir noch meilenwert entfernt. Das haben auch meine Vorredner betont. Im Gegenteil, wir haben noch nicht einmal die Prüfungsanerkennung im innerdeutschen Verhältnis erreicht. Das sind hausgemachte Fehler. Dafür können wir nicht die EU verantwortlich machen; denn sie hat an dieser Stelle gar keine Richtlinienkompetenz. Hier wird mit der sogenannten offenen Methode, also mit dem Wettbewerb der besten Ideen, gearbeitet. Leider reicht aber diese offene Methode noch nicht einmal aus, um mit unserem dänischen Nachbarn die Abschlüsse abzugleichen, sodass sie Anerkennung finden. Auf das Thema sind wir schon verschiedentlich eingegangen. Herr Kollege Garg hat zu Recht das Beispiel Pflege zitiert.

Der Bericht hätte an dieser Stelle ruhig ehrlicher sein dürfen, so wie er die Differenzen und Probleme beim Vergaberecht und die daraus resultierenden Ungerechtigkeiten für die Arbeitnehmerfreizügigkeit immerhin benennt.

An dieser Stelle wäre noch viel zum Thema Berufsbildung und zu den ECDS-Punkten zu sagen. Ähnlich wie bei der Ausbildung an den Universitäten stehen wir hier vor einem Aushandlungsprozess, wie unsere Berufsbildungsabschlüsse wechselseitig in den verschiedenen Staaten anerkannt werden. An dieser Stelle nur der Hinweis: Wir haben noch die Drucksache der Landesregierung zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse zu bearbeiten. Auch hier gibt es „kommunizierende Röhren“ zu diesem Europathema. Wir werden das im Ausschuss vertiefen.