Protokoll der Sitzung vom 29.11.2006

(Beifall bei CDU, SPD, FDP uns SSW)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Ich lasse über den Gesetzentwurf in der vom Ausschuss empfohlenen Fassung abstimmen. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in der vom Ausschuss empfohlenen Fassung Drucksache 16/1085 mit den Stimmen der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und der Abgeordneten des SSW gegen die Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen worden.

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 19 auf:

Spielräume des Berufsbildungsgesetzes nutzen

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/998

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? Das ist nicht der Fall.

Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Karl-Martin Hentschel.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schlimm, wenn Jugendliche keine Ausbildung bekommen und das Gefühl haben, sie werden nicht gebraucht. Noch schlimmer ist es aber, wenn sie dann in der Zeitung lesen, Politik und Wirtschaft verkünden wieder einmal, alle Bewerber seien vermittelt. Geht man in eine Hauptschulklasse, dann erlebt man, dass bis auf wenige niemand eine Stelle bekommen hat. Wie kann das eigentlich sein? Wie kommt das zustande?

Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet ein großer Teil der Sozialdemokraten beim Thema Ausbildung den Saal verlässt.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Mit mir gemein- sam!)

Wie kann es sein, dass einerseits die Regierung und die Arbeitsämter verkünden, alle seien vermittelt, und andererseits in den Hauptschulklassen ein großer Teil der Schüler keinen Ausbildungsplatz bekommen hat? Was ist da eigentlich passiert?

In diesem Jahr gab es bis Ende Oktober in Schleswig-Holstein 14.666 gemeldete Stellen. Das sind 391 mehr als im katastrophalen Vorjahr, aber es sind noch mehr als 1.000 weniger als 2004 und 5.000 Stellen weniger als 2001. Seit Beginn des Bündnisses für Ausbildung hat Schleswig-Holstein ein Drittel aller Lehrstellen verloren. Die Bewerberzahlen sind in der gleichen Zeit aber gestiegen. Da fragt man sich natürlich: Wo bleiben eigentlich die Jugendlichen?

Die Antwort ist dramatisch: Ein kleiner Teil verschwindet völlig, hängt zu Hause herum und taucht erst Jahre später wieder auf dem Sozialamt auf. Der größte Teil der Jugendlichen befindet sich in Warteschleifen der unterschiedlichsten Art. In diesem Jahr kam nicht einmal mehr die Hälfte derjenigen, die eine Ausbildung begonnen haben, direkt von der Schule. 26 % haben die Schule im Vorjahr abgeschlossen und 27 % kamen aus früheren Schulabgangsjahren.

Die Zahl der offiziell anerkannten Bewerber ist in diesem Jahr um fast 10 % auf nunmehr 20.260 gestiegen. Wenn man diese offiziellen Zahlen nimmt, dann stehen für 100 Bewerber nur 72 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Rechnet man diejenigen, die von vornherein in eine Warteschleife eingruppiert werden, noch hinzu - und das muss man -, dann kommt man nach Berechnungen des DGB auf insgesamt 33.000 Bewerberinnen und Bewerber. Das heißt, in Schleswig-Holstein kommen zurzeit auf 100 Bewerber nur noch 44 Stellen. Das heißt, nicht einmal mehr für die Hälfte der Bewerber sind Stellen vorhanden.

Das erklärt, warum fast ganze Schulklassen keine Stelle bekommen haben.

Bei den Migranten türkischer Abstammung, die keine Ausbildung bekommen, hat sich die Anzahl der Jugendlichen, die keine Ausbildung machen, seit 1990 auf über 60 % fast verdoppelt.

Auch die Qualität der Ausbildung ist schlechter geworden. Viele große Firmen haben die gut ausgestatteten Lehrwerkstätten aus Kostengründen geschlossen. Was macht das aber für einen Sinn - frage ich Sie -, wenn mittlerweile jedes fünfte Mädchen zur Friseurin ausgebildet wird und dann nach der Lehre arbeitslos wird?

Meine Damen und Herren, machen wir endlich die Augen auf: Das Bündnis für Ausbildung ist gescheitert. Wir verbauen unserer Jugend die Zukunft, wenn wir nicht handeln. Deswegen habe ich den vorliegenden Antrag gestellt.

Der Bundesgesetzgeber hat im vorigen Jahr den Weg für die vollzeitschulische Berufsausbildung frei gemacht. Diese Art von Berufsausbildung ist kein Wunschmodell der Grünen. Uns ist eine betriebliche Ausbildung sehr viel lieber. Ich weiß, dass sowohl die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften dem kritisch gegenüberstehen; denn die wichtige Erfahrung der Integration in einen Betrieb findet nicht statt. Aber wir müssen handeln, um den Jugendlichen eine Perspektive zu geben, und wir müssen handeln, um Talente für die Gesellschaft zu nutzen.

(Präsident Martin Kayenburg)

Bisher haben vier Bundesländer diese Möglichkeit umgesetzt. Baden-Württemberg - wie immer - unideologisch voran, Hamburg, Niedersachsen und Berlin. Hamburg hat bereits 1.000 vollzeitschulische Berufsausbildungsstellen geschaffen. Auch im europäischen Ausland ist eine berufliche Oberstufe mit Betriebspraktika, die zu einem Berufsabschluss führt, längst üblich. Die dänischen Vollzeitberufsschulen werden international gelobt. Wenn es gelingt, hochwertige Ausbildungsplätze an der Berufsschule anzubieten, die häufig in den Betrieben nicht mehr angeboten werden, und diese mit Betriebspraktika zu verbinden und wenn es gelingt, diese gerade auch für gute Schülerinnen und Schüler attraktiv zu machen, dann kann das ein Erfolgsmodell werden.

Vorstellbar ist aber auch eine ein- bis zweijährige Teilausbildung in der Berufsschule der dann der Rest der Lehre im Betrieb folgt.

Meine Damen und Herren, es ist Zeit zum Handeln. Andere Bundesländer sind bereits vorangegangen. Es wird Zeit, dass auch Schleswig-Holstein in Bewegung kommt. Es kann nicht so weitergehen, wie es sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich danke dem Herrn Abgeordneten Hentschel. Das Wort für die CDU-Fraktion hat die Frau Abgeordnete Sylvia Eisenberg.

Herr Hentschel, Emotionen, mit denen eine Rede vorgetragen wird, machen den Inhalt der Rede nicht wesentlich besser. Das nur als kleiner Hinweis.

Meine Damen und Herren, sehen wir in SchleswigHolstein die Notwendigkeit, weitere vollzeitschulische Berufsausbildungsgänge einzurichten? Das ist die Grundfrage, die Sie, Herr Hentschel, für die Grünen bereits mit Ja beantwortet haben. Das hörte man aus Ihrer Rede heraus. Sie folgern, dass Schleswig-Holstein mehr vollzeitschulische Berufsausbildungsgänge braucht.

Vollzeitschulische Berufsausbildungsgänge heißt das sage ich für diejenigen, die es nicht wissen -, dass die Berufsausbildung nur an der Schule stattfindet, begleitet von ein paar Praktika im Unternehmen. Diese vollzeitschulischen Berufsausbildungsgänge sollen durch eine Kammerprüfung gemäß § 43 Abs. 2 Berufsbildungsgesetz abgeschlossen werden können. Ich sage hier in aller Deutlichkeit:

Wir als CDU sehen diese Notwendigkeit für das Land Schleswig-Holstein nicht. Durch das hervorragende Ergebnis des Bündnisses für Arbeit und aufgrund der engagierten Arbeit aller Beteiligten,

(Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Hohn für die Jugend- lichen!)

auch der Berufsschulen, stand in der Nachvermittlungsaktion fast allen Jugendlichen in 2006 mindestens ein Ausbildungs- und Qualifizierungsangebot zur Verfügung. Die genauen Zahlen, Herr Hentschel, werden Sie morgen unter einem anderen Tagesordnungspunkt noch erfahren.

Hinzu kommt, dass der Höhepunkt der Schulabgangszahlen der Sekundarstufe I bereits im Jahre 2006 überschritten worden ist. Bis zum Jahre 2010 werden wir in der Sekundarstufe I 14 % weniger Schulabgänger haben. Im Bereich der Hauptschulen werden es dann bereits 23 % weniger als im Jahre 2006 sein. Auch mit solchen Zahlen sollten wir arbeiten.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Der Run auf die Ausbildungsplätze wird spürbar geringer werden. Landes- und bundesweit ist jetzt schon von einem erheblichen Facharbeitermangel die Rede.

Bereits diese Zahlen machen deutlich, dass in Schleswig-Holstein nicht die Notwendigkeit besteht, die Anzahl der vollzeitschulischen Ausbildungsgänge zu erhöhen. Wir haben ja schon welche.

Sollte sich die Konjunktur - wie vorausgesagt weiter verbessern, so wird sich das Ausbildungsplatzproblem schon im nächsten Jahr spürbar weiter verringern. Auch aus diesem Grunde sehen wir nicht die Notwendigkeit der Einrichtung neuer vollzeitschulischer Ausbildungsgänge.

Im Übrigen befinden wir uns da in Übereinstimmung mit dem von Ihnen genannten Land BadenWürttemberg, das zwar als Initiator der Änderung des Berufsbildungsgesetzes gilt, aber dieses bisher nicht in eine Landesverordnung umgesetzt hat. Vielleicht sollten Sie sich da noch einmal erkundigen. Sachsen nimmt die Landesverordnung wieder zurück. In NRW wird sie für bestimmte Regionen angewendet, wobei die Region genauso groß ist wie das Land Schleswig-Holstein.

Hinzu kommt - das ist ein weiterer Grund -, dass vollzeitschulische Ausbildungsgänge für den Staat auch das sollte man nicht verschweigen - mindestens doppelt so teuer sind wie die Teilzeitausbil

(Karl-Martin Hentschel)

dung, die Chance auf Einstellung der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt aber nicht immer gegeben ist. Zudem hegen wir die berechtigte Befürchtung, dass die Betriebe sich dann zunehmend aus der Ausbildungsverpflichtung zurückziehen. So ist es bereits - erkennbar anhand von Zahlen - in Dresden im Bereich der Gastronomiebetriebe geschehen.

Wir als CDU halten aber die Ausbildung im dualen System für den besten Weg, eine qualifizierte und nachhaltige Ausbildung zu gewährleisten.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Die duale Ausbildung verknüpft Theorie und Praxis von Beginn der Ausbildung an in hervorragender Art und Weise und bietet damit eher die Gewähr, nach Abschluss der Ausbildung einen Arbeitsplatz zu bekommen. Das sehen die Beruflichen Schulen im Übrigen genauso.

Jetzt kommen wir zu Ihren sogenannten Warteschleifen. Weder die Maßnahmen BGJ noch JoA oder AvJ sind als Warteschleifen zu bewerten. Voraussetzung für das BGJ ist ein Vorvertrag. Aufgrund dieses zwingend vorgeschriebenen Vorvertrages kann bei entsprechender Leistung die anschließende Ausbildung verkürzt werden.

Das AvJ - das Ausbildungsvorbereitende Jahr - bietet die Chance, einen Schulabschluss nachzuholen und damit die Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu erhöhen. Herr Hentschel, beide Maßnahmen sind also keine Warteschleifen, sondern zusätzliche Qualifikationen.

Die Maßnahme JoA - Jugendliche ohne Ausbildung - wird ab 2007 konzeptionell verändert. Dazu liegt seit August das neue Konzept „Schule & Arbeitswelt“ vor, das seine Grundlage im Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD hat.

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Ja, sofort, Frau Präsidentin! - Bereits ab Klasse 8 des Bildungsganges der Haupt- oder Förderschule werden - auch mit finanzieller Unterstützung der EU - verschiedene Bausteine in verschiedenen Handlungsfeldern angeboten, durch die dann die individuelle Berufs- und Ausbildungsreife verbessert werden kann und soll. In den Berufseingangsklassen - ehemals JoA - werden außerdem Qualifizierungsbausteine eingeführt, die dann - orientiert an den geltenden Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen - die Grundlage für eine Gestaltung und Umsetzung in abgegrenzten Lerneinheiten schaffen.

Sie sehen, auch im dritten Punkt ist Ihr Antrag nicht nötig. Ich plädiere dafür, Ihren Antrag insgesamt abzulehnen.

(Beifall bei der CDU)