Protokoll der Sitzung vom 29.11.2006

Wir haben zurzeit eine Bugwelle von 18.000 Jugendlichen. 18.000 Jugendliche befinden sich in der Bugwelle. Wir haben 14.666 Plätze. Selbst wenn also nächstes Jahr keiner von der Schule kommt, wäre das Problem noch nicht gelöst. Sie sagen, nächstes Jahr kämen 10 % weniger. Selbst wenn es 10 % weniger werden, werden wir noch Jahre brauchen, um mit dieser Bugwelle fertig zu werden. Eine ganze Generation von Jugendlichen - es sind immer die Schwächeren, die betroffen sind - hängt herum und kommt nicht dazu, eine vernünftige Ausbildung zu machen. Das muss man einfach feststellen. Deswegen ist das Problem sehr ernst. Es kann auch nicht aufgeschoben werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Lars Harms [SSW])

Ich bitte, das zu bedenken.

Ich bin nicht jemand, der sagt, die vollzeitschulische Ausbildung sei das Ideale. Das duale System hat sehr viel für sich. Gerade die Integration in die Betriebe und in die Arbeitswelt ist wichtig. Aber wenn es die Plätze nicht gibt, ist es auf jeden Fall besser, eine vollzeitschulische Ausbildung mit Praktika anzubieten statt die Jugendlichen in Kreisläufen - teilweise über Jahre - zu halten. Es gibt eine ganze Reihe von Jugendlichen, die sich jahrelang in solchen Kreisläufen befinden. Deshalb haben Rot-Grün auf Bundesebene kurz vor der

Wende in Berlin die Änderung des Berufsbildungsgesetzes verabschiedet. Das hat einen Grund gehabt. Ich verstehe nicht, warum dieser Antrag abgelehnt werden soll. In Hamburg ist das gerade gemacht worden, in einer Koalition, die völlig anders aussieht als hier.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Da ist gar keine Ko- alition!)

- Das stimmt. Richtig, ja.

Ich möchte noch etwas zur Frage der Hochqualifizierten und zu der Frage, welche Sektoren man erfassen sollte, sagen. Ich gebe denjenigen Recht, die sagen, man müsse jetzt schnell Angebote schaffen für diejenigen, die sich in einer besonderen Lage befinden, wie Herr Dr. Klug das geschildert hat. Das ist völlig richtig. Wenn man über die Frage redet, welche vollzeitschulischen Ausbildungsgänge man braucht, glaube ich, dass man sie vor allen Dingen in den Bereichen ansiedeln sollte, in denen es im normalen dualen System nicht funktioniert. Davon gibt es eine ganze Reihe, gerade auch im besseren Sektor.

Wir haben ja einen Verdrängungswettbewerb. Die Guten verdrängen die Schwächeren. Die Schwächeren bleiben auf der Strecke. Die Schwächeren hätten gerade in handwerklichen, also praktischen Berufen eine ausgesprochen gute Chance, würden sie nicht verdrängt. Es würde also durchaus Sinn machen, in Bereichen, in denen heute von den Betrieben nicht mehr vernünftig ausgebildet wird, aus denen sich die Betriebe verabschiedet haben, zu überlegen, qualitativ gute Angebote zu machen. Das würde bedeuten, dass man, anstelle an einer Fachschule eine duale Oberstufe anzubieten, wie es das in anderen Ländern gibt, eine duale Oberstufe anbietet, die möglicherweise parallel zum Abitur und zum Abschluss einer Berufsausbildung führt. Damit würden Alternativen in Bereichen geschaffen, in denen heute kaum noch ausgebildet wird.

Herr Hentschel, die drei Minuten sind um.

Ich komme zum Schluss. - Wir werden einen Facharbeitermangel haben. Das ist richtig beschrieben worden. Ich glaube, wir müssen dieses Problem sehr sektoral und sehr differenziert diskutieren. Das kann man nicht einfach so mal über den Tisch machen. Ich bin auch nicht dafür, flächendeckend einzusteigen, sondern sehr zielgerichtet. Ich bin unbe

(Anke Spoorendonk)

dingt dafür, diese Diskussion ernsthaft zu führen. Ich bitte deshalb, den Antrag an den Ausschuss zu überweisen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort zu einem weiteren Kurzbeitrag hat der Herr Abgeordnete Wolfgang Kubicki.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen uns dem Antrag auf Ausschussüberweisung ausdrücklich an, um die Fragen zu erörtern, die eben angesprochen worden sind. Ich möchte aber, was möglicherweise ungewöhnlich erscheint, ausdrücklich der Kollegin Langner bei der Frage zustimmen, was eigentlich passiert, wenn man versucht, eine vollzeitschulische Berufsausbildung zu organisieren.

Erstens müssen wir uns die Frage stellen, wo eigentlich die Kapazitäten herkommen sollen, die wir in relativ kurzer Zeit für einen Durchlauf aufbauen müssen, der - wie der Kollege Hentschel sagt - sich möglicherweise auf mehrere Jahre verteilen wird.

Zweitens. Wie glauben wir, dass Betriebe nach einer solchen Ausbildung die entsprechend Ausgebildeten annehmen? Ich bilde selbst aus. Ich stelle auch selbst ein. Ich kann erklären: Ausbildung ist mehr als nur Wissensvermittlung. Es ist Vermittlung von sozialer Kompetenz. In der Schule treffe ich nicht auf Leute unterschiedlichen Alters, mit denen ich mich auseinandersetzen muss. In der Schule stehe ich nicht unter Stress, weil ich nur virtuell tätig bin. Das ist anders als in einem normalen Betrieb. In einem normalen Betrieb wird zwar mit Auszubildenden gearbeitet, aber auf sie wird keine Rücksicht genommen - anders als in der Schule. Das bedeutet, ich bekomme nach drei Jahren vollschulischer Ausbildung Leute in den Betrieb hinein, die die ganz wichtige Sozialisationsphase gar nicht hinter sich gebracht haben.

(Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Großbetrieben ist das nicht anders!)

- Herr Hentschel, sagen Sie mir freundlicherweise, wie viele Großbetriebe wir hier in Schleswig-Holstein haben, bei denen wir mehrere Hundert Auszubildende in einem Bereich haben?

(Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Problem!)

Bitte keine Zwiegespräche, Herr Hentschel.

Deshalb ist Ihr Vorschlag für Schleswig-Holstein mit Sicherheit ungeeignet.

(Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Strukturen nicht! - Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Deshalb brauchen wir das in Schles- wig-Holstein!)

- Frau Birk, der Unterschied zwischen Theorie und Praxis besteht darin, dass ich den Praxistest bereits hinter mir habe und Sie noch nicht.

(Beifall bei FDP und CDU)

Die spannende Frage ist: Was passiert mit der Ausbildungsvergütung? Ich kann Ihnen Dutzende von Kleinbetrieben nennen, die dem moralischen Anspruch, den wir an sie richten, im dualen System auszubilden, künftig völlig problemlos ausweichen können und auch ausweichen müssen, um Ausbildungskosten zu sparen, wenn wir ein entsprechendes alternatives Angebot zur Verfügung stellen. Im Moment sparen sie sie nicht, sondern setzen sie ein. Machen wir uns nichts vor. Die moralische Hemmschwelle zu erklären: „Ich bilde jetzt nicht mehr aus“, würde dramatisch sinken, etwas, was wir gerade im Bereich des Bündnisses für Ausbildung gegenwärtig nicht haben können. Wir alle werben darum, möglichst viele junge Leute in Ausbildungsberufe hineinzubringen. Die Debatte, die wir jetzt führen, ist da geradezu kontraproduktiv.

(Beifall bei FDP und CDU)

Das Wort zu einem weiteren Kurzbeitrag hat die Frau Abgeordnete Langner.

Lieber Kollege Hentschel, wenn Sie uns hier vorwerfen, wir nähmen das Thema nicht ernst, reizt das dazu, noch einmal nach vorn zu kommen. Natürlich nehmen wir das Thema ernst. Wir nehmen es sehr ernst. Sie haben eben in Ihrem Beitrag auch gesagt, dass wir über die Jugendlichen reden, die über schlechtere Voraussetzungen verfügen. Genau diese Zielgruppe erreichen wir mit vollzeitschulischen Ausbildungsgängen nicht. Wir lehnen den Antrag nicht deswegen ab, weil wir das Problem nicht ernst nehmen und weil wir nicht auch sehen, dass wir Dinge tun müssen, dass wir uns um diese

(Karl-Martin Hentschel)

Zielgruppe ganz besonders kümmern müssen, dass wir Maßnahmen ergreifen müssen, damit diese jungen Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Aber diese Chance kann keine vollzeitschulische Ausbildung sein. Davon bin ich fest überzeugt - wegen all der Probleme, die hier wiederholt worden sind.

Wir verschließen uns nicht einer Debatte über die Zukunft der beruflichen Bildung. Das, was der Kollege Klug gesagt hat, ist sicherlich richtig. Man sollte sich einmal generell darüber austauschen, wie das weitergehen soll. Aber aufgegriffen in diesem einen speziellen Punkt, so, wie dieser Antrag formuliert ist, können wir dem nicht zustimmen. Ich halte es auch für wenig zielführend, den Antrag an den Ausschuss zu überweisen.

(Beifall bei SPD und CDU)

Das Wort zu einem Kurzbeitrag hat der Herr Abgeordnete Matthiessen.

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Hier ist etwas unterstellt worden, was von grüner Seite überhaupt nicht behauptet wurde. Für uns hat berufliche Ausbildung, betriebliche Ausbildung ein absolutes Prä, weil dort tatsächlich - das haben verschiedene richtigerweise ausgeführt - Kompetenzen vermittelt werden, die wir in einer reinen schulischen Ausbildung wahrscheinlich nicht vermitteln können. Das ist praktischer Umgang mit Kunden und, und, und. Ich will das jetzt nicht weiter ausführen. Jeder weiß, was damit gemeint ist.

Unser Antrag ist also nicht so zu interpretieren, dass wir gegen eine duale Ausbildung seien und ein Prä für die schulische Berufsausbildung hätten. Im Gegenteil. Herr Kollege Klug hat das eindringlich dargestellt. Es bleibt qualitativ, aber auch unter quantitativen Gesichtspunkten - Herr Hentschel hat die Zahlen dargestellt - ein Riesenproblem über. Wir bitten, dass Sie in sich gehen und darüber nachdenken, ob wir das nicht im Ausschuss einer qualifizierten Debatte zuführen. Das können wir hier im Plenum nicht leisten. Wir können uns aber vor diesem Problem auch nicht wegducken.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort zu einem weiteren Kurzbeitrag hat die Frau Abgeordnete Anke Spoorendonk.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich plädiere dafür, dass wir diesen Antrag im Ausschuss erörtern. Klar geworden ist, dass die Intention des Antrages nicht darin besteht, irgendetwas zu verhindern. Er ist nicht so zu verstehen, dass er die duale Ausbildung aufheben will und nur vollzeitschulische Maßnahmen gefordert werden. Diese Gegenüberstellung gibt es nicht. Das ist wohl auch deutlich geworden.

Aber die Problematik bleibt: Es gibt eine große Gruppe von Jugendlichen, die nicht im ersten Anlauf vermittelt werden können, die keinen Ausbildungsplatz erhalten. Wir alle begrüßen die Aktionen, die es gegeben hat. Das werden wir am Donnerstag, wenn es um die Nachvermittlungen geht, noch einmal deutlich machen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir Probleme haben, die wir nicht in den Griff bekommen.

Es geht um Jugendliche, die sich in berufsvorbereitenden Maßnahmen befinden. Es ist richtig zu sagen: Diese Jugendlichen sind eventuell von ihren Leistungen her zu schwach, sodass sie ohnehin keinen Arbeitsplatz erhalten können. Wir haben sie erst einmal in diese berufsvorbereitenden Maßnahmen gesteckt, aber für viele von ihnen gibt es keinen Anschluss. Darum - so denke ich - ist es eine zusätzliche Möglichkeit, diese Öffnung des Berufsbildungsgesetzes wahrzunehmen.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber ich will redlicherweise hinzufügen: Voraussetzung dafür ist die Akzeptanz der Kammern, der Betriebe, der Wirtschaft. Dafür muss geworben werden. Das ist die Aufgabe, die gleichzeitig bewältigt werden muss. Ich denke aber, das müsste möglich sein. Denn ich weiß zum Beispiel aus Gesprächen mit der Handwerkskammer Flensburg, dass man das Problem dort auch erkannt hat und dass man auch dort um Lösungen ringt.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Landesregierung hat nun die Bildungsministerin, Frau Ute Erdsiek-Rave, das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Grundsatz muss klar sein: Eine duale Ausbildung ist immer noch die beste Voraussetzung für den

(Anette Langner)

Start ins Berufsleben. Ich glaube, daran besteht überhaupt kein Zweifel.

(Beifall bei SPD, CDU und FDP)

Auch in diesem Jahr ist die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge in Schleswig-Holstein gestiegen, und zwar um 4,7 %. Das ist der bundesweit höchste Zuwachs.