Anderenfalls müssten wir uns vorwerfen lassen, die Anliegen der Betroffenen nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit zu behandeln; wir würden den Eindruck erwecken, dass wir den Betroffenen etwas vormachen, wollten wir das große Ganze in Einzelfällen abhandeln.
Ich habe den SSW so verstanden, dass im Zuge der Beratungen über die Veränderungen in der Hartz-IVGesetzgebung die Kostenfreiheit von Verhütungsmitteln für ALG-II- und Sozialhilfeempfänger berücksichtigt werden sollte beziehungsweise muss.
Wir werden im Zuge einer Generalrevision einen ganzen Maßnahmenkatalog abzuhandeln haben. Auch hier stellt sich die Frage, ob es zu den einzelnen Punkten eine realistische Initiative geben kann oder ob wir Betroffenen etwas vormachen. Gerade bei der Umsetzung in die Praxis sollten wir die vielen Einzelfälle sehr sorgfältig analysieren. Einen ersten Anhaltspunkt haben wir alle bekommen, nämlich die erste Bilanz nach Einführung des Sozialgesetzbuches II, die uns die Bürgerbeauftragte dankenswerterweise bereits vorab vorgelegt hat. Hier wird deutlich, dass es eine Vielzahl von Problemen bei der Umsetzung von Hartz IV gibt. Ich nenne nur die weiteren Beispiele Schülerbeförderung oder Mietobergrenzen. Wir sollten diese Beispiele aus der Praxis als
Anregung für die Politik nutzen, um sie im Rahmen einer Gesamtrevision vertiefend im Sozialausschuss zu behandeln.
Der Antrag der Grünen präzisiert das Anliegen des SSW. Gleichwohl bleibt der Vorschlag für eine Einzelfallregelung, die dann im Konkreten umgesetzt werden könnte.
Ich bin dankbar dafür, dass offensichtlich alle der Meinung sind, dass beide Anträge es wert sind, im Sozialausschuss beraten zu werden. Ich würde mich noch mehr freuen, wenn wir im Sozialausschuss im Rahmen einer Generalrevision hinsichtlich dessen, was bisher bei den Regelungen zu Hartz IV möglicherweise schief gelaufen ist, zu einer einvernehmlichen Lösung kämen.
Ich danke dem Herrn Abgeordneten Dr. Garg. - Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat die Fraktionsvorsitzende, Frau Abgeordnete Anne Lütkes.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr dankbar für die letzten Beiträge, insbesondere für den Beitrag der SPD-Fraktion; denn ich hatte zunächst den Eindruck, dass Sie, Frau Tengler, das, was wir hier gemeinsam debattieren möchten, entweder falsch verstanden haben oder - gestatten Sie mir den Ausdruck - aus einem anderen Jahrhundert heraus beurteilen. Die Beschäftigung mit dem Recht auf Empfängnisverhütung als populistisch zu betrachten, finde ich schon - um es vorsichtig zu sagen - etwas antiquiert.
Es ist eine soziale, familienpolitische, aber immer noch frauenpolitische Verpflichtung, sich mit diesem Thema - wie es in dem ersten Beitrag und in den nachfolgenden Beiträgen geschehen ist - sehr sorgfältig zu beschäftigen.
Es ist richtig, wie es hier ausgeführt worden ist, dass die genaue Ausformung von Hartz IV revisionsbedürftig ist. Wir haben unseren Antrag im Nachgang zu dem SSW-Antrag formuliert, weil wir das Anliegen des SSW natürlich begrüßen, aber die Ausformung nicht richtig finden. Aus unserer Sicht sollte es unstreitig sein, dass die Anschaffung von Verhütungsmitteln dem allgemeinen Lebensunterhalt zuzurechnen ist. Der Kauf von Verhütungsmitteln ist bei
der Berechnung des Lebensunterhalts bisher nicht vorgesehen. Es ist ein Pauschalbetrag von 13,70 € eingestellt. Davon entfallen gegebenenfalls schon 10 € auf die Praxisgebühr. Da kann man sich leicht ausrechnen, dass dieser Bereich des Lebensunterhalts nicht eingerechnet ist.
Daraus ergibt sich eine Schieflage, die man bei der Berechnung beziehungsweise Betrachtung berücksichtigen muss. Ein Schwangerschaftsabbruch ist, wenn er die Kriterien der Straffreiheit erfüllt, den Menschen, die keine finanziellen Mittel haben, richtigerweise aus Mitteln der öffentlichen Hand zu bezahlen. Der Kauf von Verhütungsmitteln nicht? Das ist eine Schieflage, die insbesondere sozialpolitisch, aber auch rein menschlich von hoher Bedeutung ist und die wir gemeinsam benennen sollten.
Wenn wir - da sind wir uns sicherlich auch mit der CDU-Fraktion einig - Schwangerschaftsabbrüche mit all ihren ethischen, grundrechtlichen, menschlichen und finanziellen Problemen vermeiden wollen, dann müssen wir konsequenterweise jeder Frau die Anschaffung der für ihre eigene, hochpersönliche Situation richtigen Verhütungsmittel ermöglichen. Das ist ein Muss. Das ist eine sozialpolitische Verpflichtung. Diese Grundentscheidung sollten wir hier gemeinsam treffen.
Ich möchte zusammenfassend sagen: Der Kauf von Verhütungsmitteln muss genauso in die Entscheidung jedes einzelnen Menschen - ob Mann oder Frau - gestellt werden wie die Anschaffung - erlauben Sie mir den saloppen Vergleich - einer Waschmaschine oder der Kauf einer Busfahrkarte. Es ist eine allgemeine Entscheidung eines jeden; diese muss möglich sein. Das ist Sinn und Zweck des Regelbetrages, zu dem wir stehen.
Sexualität gehört nach allgemeinem Verständnis zu den grundlegenden Lebensbedürfnissen. Verhütungsmittel sind Teil des Alltagsbedarfs. Das ist eine grundsätzliche Erklärung und sagt zunächst nichts zu der Frage der Finanzierung. Sie sind grundsätzlich Teil des Alltagsbedarfs. Regelleistungen gehören zum Regelsatz - deshalb unser Antrag -; es handelt sich nicht um Dinge, die aus Krankheitsgründen verschrieben werden müssen. Es ist richtig - das ist hier angeklungen -, man muss sich sehr genau Gedanken darüber machen, wie so etwas zu finanzieren ist. Aber es geht um die Grundentscheidung: Pauschbetrag, Anerkenntnis der allgemeinen Lebensbedürfnisse,
Aufhebung der Schieflage zu Schwangerschaftsabbrüchen. Deshalb haben wir hier unseren Antrag gestellt.
Ich habe jetzt doch den Eindruck, dass der Landtag nicht die Auffassung der CDU-Fraktion teilt und sich nicht schämt, die Frage der Sexualität und der Verhütungsmittel in öffentlicher Verhandlung zu erörtern. Das sollten wir doch gemeinsam schaffen. Aber wir sollten es auch im Ausschuss zusammen mit den anderen Problemen besprechen. Insofern stimmen wir für die Ausschussberatung.
Ich danke der Frau Abgeordneten Lütkes. - Das Wort für die Landesregierung erteile ich Frau Ministerin Dr. Gitta Trauernicht-Jordan.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte zeigt eines ganz deutlich: Die vorliegenden Anträge von SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind zwar gut gemeint, aber nach meiner Einschätzung nicht gut durchdacht.
Die Probleme sind kurz genannt. Das ist zunächst das Thema der politischen Solidität Ihres Anliegens. SSW und FDP haben - das verwundert nicht - das Thema Verhütungsmittel als Trampolin für ihre grundsätzliche Kritik an Hartz IV benutzt.
Die anderen haben die Tatsache der Pauschalierung dieser Leistungen in der Sozialhilfe ebenso unterschlagen wie die Tatsache, dass ALG-II-Empfänger krankenversichert sind und dass es zu den Leistungen der Krankenversicherung gehört, bis zum Alter von 20 Jahren die Antibabypille und anderes finanziert zu bekommen.
Dass das wichtig ist, haben die Ausführungen der Frau Abgeordneten Tengler deutlich gemacht. Die Zahl der Schwangerschaften von Minderjährigen in Schleswig-Holstein hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdreifacht. Vor diesem Hintergrund ist das Thema auch breiter anzulegen und nicht auf die Frage
Warum die Antibabypille für unter 20-Jährige durch die Krankenversicherung finanziert wird, ist in dem Gesetz damit begründet worden, dass man unerwünschte Schwangerschaften verhindern will und die Unerfahrenheit unter 20-Jähriger berücksichtigt. Beim Thema Verhütung sollte man Erwachsene nicht katholisch machen wollen.
Ich komme zur Frage der Gerechtigkeit. Warum - frage ich die Antragsteller - sollen nur Transferempfänger entlastet werden, nicht aber Menschen mit Niedrigeinkommen wie Friseusen, junge Handwerksgesellen und andere mehr? Das Thema der Gerechtigkeit muss nach meiner Einschätzung mit debattiert werden.
Dann das Problem der Finanzierung. Schon jetzt gibt es erhebliche Belastungen der Krankenversicherung durch versicherungsfremde Leistungen, erhebliche Belastungen der Sozialhilfe. Hier geht es bummelig um 300 Millionen €. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, die Frage der Gegenfinanzierung zu thematisieren.
Sozialstaatliches Selbstverständnis! Bei den Grünen soll für Transfereinkommensbezieher alles obendrauf, für zwei Sozialhilfeempfänger in einer Familie zweimal Verhütungsmittel. Welche? Der SSW fordert die kostenlose Abgabe von Verhütungsmitteln. Wie darf ich mir das vorstellen? In Form von Naturalien beim Sozialamt? Oder reicht man jeweils die Rezepte und die Rechnungen für die Pillen oder die Kondome ein? Vieles ist da nicht durchdacht.
Nicht zuletzt finde ich, dass die Reduktion dieses Themas auf Verhütungsmittel für Sozialhilfeempfänger ein problematisches politisches Signal ist, zumal wir die Debatte um die Frage Kinderreichtum/Kinderarmut haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob wir nicht in eine bedenkliche Nähe zu der Frage kommen, ob gerade bei Sozialhilfeempfängern und ALG-II-Empfängern Empfängnisverhütung Not tut.