Protokoll der Sitzung vom 17.12.2009

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern der Gemeinschaftsschule in Tönning begrüßen.

(Beifall)

Das Wort hat nun Frau Abgeordnete Midyatli von der Fraktion der SPD.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Landtagsfraktion begrüßt den Antrag der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der die Abschaffung der Residenzpflicht für Flüchtlinge und Asylsuchende fordert. Die Residenzpflicht ist eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit dieser Menschen, deren Nutzen auch aus unserer Sicht fragwürdig ist. Den Betroffenen werden Einschränkungen auferlegt, die im Missverhältnis zum eigentlichen Zweck der Sicherung eines Verwaltungsverfahrens stehen. Sie wirken außerdem auch diskriminierend. Die Betroffenen werden dadurch isoliert und in ihren Integrationsbemühungen nicht nur räumlich, sondern auch sozial eingeschränkt. In anderen Bundesländern ist der Geltungsbereich der Residenzpflicht daher auf das gesamte Bundesland

festgelegt. Dies sollte auch in Schleswig-Holstein möglich sein.

(Vereinzelter Beifall bei SPD und der LIN- KEN)

Ich möchte Ihnen die Schwierigkeiten in der Praxis kurz an einem Beispiel erläutern: Ein afghanisches Flüchtlingskind wird Mitglied in einem Fußballverein. Das ist sehr zu begrüßen, da wir alle wissen, dass Sport integriert. In Sonntagsreden wird diese integrative Kraft des Sports oft beschworen. Wenn dieses Kind zum ersten Mal zu einem Auswärtsspiel fährt, begeht es eine Ordnungswidrigkeit. Beim zweiten Mal kann das schon eine Straftat sein. Auf jeden Fall kann es zu Nachteilen im Verhältnis zur Ausländerbehörde führen.

Ich nenne ein anderes Beispiel: Eine libanesische Flüchtlingsfamilie wohnt in Kronshagen und möchte den neuen Integrationsbeauftragten der Landesregierung, Herrn Lehnert, zum Essen einladen, um mit ihm über ihre Situation zu sprechen. Für dieses Essen benötigt die Familie Zutaten, die es aber nur in Lebensmittel- und Feinkostgeschäften am Kieler Ostufer gibt. Zum Einkaufen müsste diese Familie jedoch den Kreis Rendsburg-Eckernförde verlassen. Auch in diesem Falle würde die Familie gegen die sogenannte Residenzpflicht verstoßen. Aber auch wenn Herr Lehnert nicht zum Essen kommt, muss die Familie für ihren täglichen Einkauf gegen die Residenzpflicht verstoßen. Nun kann man in unserem Beispiel sicher auch die 40 km nach Rendsburg fahren und dort einkaufen, wenn man das Geld dazu hat.

Wie ist es aber mit der Wahrnehmung von Bildungsangeboten, medizinischer Versorgung, Arbeitsangeboten und Kulturveranstaltungen? Was sollen Eltern ihrem Kind sagen, wenn sie ihm erläutern müssen, dass sein Freund aus der Kita ihn zwar besuchen darf, er jedoch nicht zum Kindergeburtstag darf, da er in der falschen Straße wohnt, nämlich in Kronshagen und nicht in Kiel?

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Außerdem führt die Residenzpflicht zu unnötigen zusätzlichen Belastungen der öffentlichen Hand, da die Ordnungsbehörden und Gerichte mit der Verfolgung dieser Taten beschäftigt sind, die Juristen als Verwaltungsunrecht bezeichnen, anstatt sich um die Belange der Bürgerinnen und Bürger zu kümmern. Die Aufhebung der Residenzpflicht würde dazu beitragen, unsere Gerichte zu entlasten.

In jedem Redebeitrag zur Integration hören wir, wie wichtig es ist, dass die betroffenen Gruppen ih

(Astrid Damerow)

ren Beitrag zur Integration leisten. Dann muss man diesen Menschen auch die rechtlichen Rahmenbedingungen geben. So müssen auch Flüchtlinge und Asylsuchende die Möglichkeit haben, Integrationsund Sprachkurse zu besuchen. Gerade in den ländlichen Bereichen ist das Angebot jedoch sehr dünn. Wer in Heikendorf wohnt, kann zwar die Kurse der Kreisvolkshochschule in Plön oder Preetz besuchen, wenn er dort hinkommt. Mit dem ÖPNV und dem Umsteigen in Kiel kommt das einer Weltreise gleich. Das Angebot in Kiel wird nur ein paar Busstationen weiter vorgehalten, darf von ihm aber nicht genutzt werden, da er dann ein Verwaltungsunrecht begeht.

Integrationswillige weibliche Flüchtlinge werden besonders angesprochen, die Sprache zu erlernen, um selbstständiger zu werden. In diesem Fall wird es richtig schwierig, wenn die Frau noch kleine Kinder hat. Während die Mutter stundenlang zum Sprachkurs unterwegs ist, muss sich jemand um die Kinder kümmern. Da nicht jeder Ausländer gleich in einer orientalischen Großfamilie wohnt, kann dies auch sehr schwierig werden. Es ist immer leicht zu behaupten, dass der- oder diejenige schon seit drei, vier oder fünf Jahren in Deutschland lebt, noch kein Wort deutsch spricht und somit integrationsunwillig sei. Wie denn auch, wenn diese Menschen schon in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden?

Daher fordert auch die SPD-Fraktion die Aufhebung der Residenzpflicht für Flüchtlinge und Asylsuchende, damit sich diese in Schleswig-Holstein frei bewegen können. Ich bitte um Überweisung an den Ausschuss.

(Beifall bei SPD und der LINKEN)

Für die FDP-Fraktion spricht nun Herr Abgeordneter Gerrit Koch.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Abgeordnete Damerow hat die Rechtslage schon angesprochen. Minister Schmalfuß wird die momentane rechtliche Lage in seinem Redebeitrag vermutlich später noch eingehender darstellen. Lassen Sie mich deshalb nur auf zwei Punkte eingehen.

Selbstverständlich sieht auch die FDP die Probleme, die sich aus der strikten Anwendung der Residenzpflicht ergeben können. Asyl- und Schutzsu

chende, die soziale Kontakte pflegen wollen und natürlich auch sollen, müssen vor den unsichtbaren Grenzen des zulässigen Aufenthaltsgebietes haltmachen. Schon ganz alltägliche Erledigungen wie zum Beispiel Einkäufe werden erschwert. Diese imaginären Grenzen den betroffenen Menschen jederzeit deutlich zu machen, ist sehr schwer. Schnell ist da das Gesetz übertreten und eine Straftat verwirklicht. Beispiele haben wir schon gehört.

Der Erlass des Innenministers schafft dabei im rechtlich zulässigen Rahmen wortwörtlich Freiräume, indem in Einzelfällen Ausnahmegenehmigungen erteilt werden können. Diese etwas großzügigere Handhabung begrüßt die FDP-Fraktion. Dabei ist herauszustellen, dass dadurch auch die Aufnahme einer Arbeit ermöglicht wird. Somit können zum Beispiel geduldete Personen zu ihrem Lebensunterhalt beitragen. Mehr ist auf Landesebene zurzeit rechtlich nicht möglich.

Obwohl ich die inhaltliche Intention des Antrags für durchaus diskussionswürdig halte und auch begrüße, halte ich den Antrag dennoch formal für überflüssig. Mit dem vorliegenden Antrag wird den schleswig-holsteinischen Bürgerinnen und Bürgern nämlich zweierlei vorgespiegelt. Zum einen soll der Eindruck erweckt werden, der Schleswig-Holsteinische Landtag habe irgendeine Entscheidungskompetenz auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts für Asylsuchende und Flüchtlinge. Zum anderen soll den Bürgern draußen im Lande wohl vermittelt werden, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kümmere sich um dieses Thema, weil es sonst keiner täte.

Meine Damen und Herren, beides ist schlichtweg falsch. Die einschlägigen Rechtsgrundlagen, das Asylverfahrensgesetz und das Aufenthaltsgesetz, sind allesamt Bundesrecht. Selbst wenn wir uns hier alle in vorweihnachtlicher Stimmung einig wären, könnten wir diese Rechtslage unmittelbar nicht ändern.

(Beifall bei der FDP)

Des Weiteren gehört nicht viel dazu herauszufinden, dass der Koalitionsvertrag zwischen CDU/ CSU und FDP auf Bundesebene eine Festlegung genau zu diesem Thema enthält. Im Kapitel „Bleiberechtsregelung“ heißt es dazu:

„Die Residenzpflicht soll so ausgestattet werden, dass eine hinreichende Mobilität insbesondere im Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme möglich ist...“

(Wolfgang Kubicki [FDP]: So ist es!)

(Serpil Midyatli)

Ich finde es sympathisch, dass vor allen Dingen die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht müde wird, die Umsetzung der noch relativ frischen Koalitionsverträge auf Landes- und auch auf Bundesebene einzufordern.

(Beifall bei FDP und CDU)

Sympathisch ist auch, dass einzelne Vereinbarungen daraus in eigene Anträge gekleidet werden.

Das bestätigt die Fraktionen von CDU und FDP nicht nur auf ihrem richtigen Weg, sondern es gibt uns auch die Möglichkeit, unser Versprechen zu betonen, das wir allen Bürgerinnen und Bürgern, somit auch Ihnen, liebe Grüne, gegeben haben: Schwarz-Gelb setzt das Vereinbarte auch um. In diesem Fall wird das aber - wie gesagt - auf Bundesebene erledigt.

Abschließend dürfen noch zwei Fragen erlaubt sein: Warum haben die Grünen dieses Thema nicht schon längst angepackt, als sie selbst in Land und Bund mitregiert haben?

(Beifall bei der FDP - Zurufe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh, oh!)

- Oh, oh! - Warum befassen sich die Grünen nicht mit Flüchtlingsfragen, die das Land Schleswig-Holstein gestalten kann? Die Koalition tut das. Das haben Sie, liebe Grüne, sicherlich auch schon in unserem Koalitionsvertrag gelesen. Vielleicht haben Sie das auch nicht getan, Frau Amtsberg, denn Sie haben das Wort „Flüchtlinge“ dort nicht gefunden. Aber es gibt dieses Wort dort tatsächlich.

(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie können es mir zeigen!)

- Ich kann es Ihnen zeigen? - Na prima!

(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie können es mir zeigen!)

- Ich zeige es Ihnen gern. Es geht zum Beispiel um die Einrichtung einer Clearingstelle für unbegleitete Flüchtlinge in unserem Land. Das können wir vor Ort gestalten. Das müssen wir auch gestalten.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Darf ich es ihr zeigen?)

- Gerne!

(Beifall bei FDP und CDU)

Für die Fraktion DIE LINKE hat nun Frau Abgeordnete Ranka Prante das Wort.

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon vor über zwei Jahren, am 26. November 2007, überreichte die EU-Kommission dem Europäischen Parlament einen Bericht über die Umsetzung der europäischen Richtlinie zur Aufnahme von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten. In diesem Bericht wird die Bundesrepublik Deutschland kritisiert: Deutschland sei das einzige europäische Land - ich wiederhole: das einzige europäische Land! -, das Artikel 7 der Richtlinie zum freien Aufenthalt auf ihrem Hoheitsgebiet außer Kraft gesetzt habe. Das heißt, nur in Deutschland müssen Asylbewerberinnen und Asylbewerber unter der Residenzpflicht leiden.

Die Residenzpflicht ist eine in der EU einmalige Form der Isolierung und Ausgrenzung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern. Sie wurde eingeführt, um Asylbewerberinnen und Asylbewerber während ihres Verfahrens an einen bestimmten Ort zu binden. Danach darf der Bereich nur nach der Erteilung einer Genehmigung durch die Ausländerbehörde verlassen werden. Dies umfasst in der Regel einen Landkreis. Die Genehmigungen werden nur in wichtigen Angelegenheiten wie Arzt- oder Rechtsanwaltsbesuch erteilt.

Flüchtlinge und Asylsuchende verletzen die bestehenden Regelungen zu räumlichen Beschränkung immer wieder. Das liegt nicht, wie einige politische Scharfmacher wider besseres Wissen immer wieder behaupten, an der höheren kriminellen Energie dieser Menschen, sondern wird vom Staat bewusst durch die regressive Auslegung des Gesetzes provoziert und ist außerdem in vielen Fällen durch die örtlichen Umstände bedingt. Das ist eben schon ausgeführt worden.

Asylbewerberinnen und Asylbewerber sind durch diese Regelung unverhältnismäßig in ihrer Bewegungs- und Reisefreiheit eingeschränkt. Sollten sie doch einmal ohne Erlaubnis den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich verlassen, um Freunde zu besuchen oder einzukaufen, stellt dies eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit Geldstrafe oder im Wiederholungsfall gar als Straftat mit Geldstrafe oder Gefängnis geahndet wird. Wenn das den örtlichen Verhältnissen eher Rechnung trägt, bietet das Asylverfahrensgesetz die Möglichkeit, dass sich Asylbewerberinnen und Asylbewerber auch ohne Erlaubnis vorübergehend in einem Gebiet aufhalten

(Gerrit Koch)

können, das die Bezirke mehrerer Ausländerbehörden umfasst.