Protokoll der Sitzung vom 07.10.2011

Frau Abgeordnete, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Lassen Sie mich den Gedanken kurz zu Ende führen, dann lasse ich eine Zwischenfrage zu. - Das stellen wir vor allem an den Grundschulen fest. In den Oberstufen ist die Unterrichtsversorgung heruntergegangen, und die Klassengröße ist relativ konstant geblieben. Das sind alles Punkte, die uns die Bildungsforschung auch vorschlägt.

Verehrte Kollegin Erdmann, Sie haben sich zwar gerade verbessert, aber ist Ihnen bekannt, dass der Bericht zur Unterrichtssituation 2010/2011 jetzt die Zahlen signalisiert und dass dieser Bericht auf ein FDP-geführtes Bildungsministerium zurückzuführen ist?

- Ja, Frau Conrad, das ist mir durchaus bewusst. Ich habe versucht, den gleichen Ansatz wie Frau Franzen zu wählen und einen längeren Zeitraum in den Blick zu nehmen, nämlich den Zeitraum der Großen Koalition seit PISA. Dabei ist etwas Erstaunliches herausgekommen: Auf dem Papier stehen einer Grundschulklasse - die durchschnittliche Klassengröße ist konstant geblieben - rund sieben Lehrerwochenstunden mehr zur Verfügung. Diese Entwicklung innerhalb von acht Jahren ist wirklich erstaunlich. Wenn ich den Bericht richtig interpretiere, heißt das, dass der Grundschule 2002/2003 ungefähr 23,5 Stunden pro Klasse und Woche zur Verfügung standen und es jetzt auf dem Papier 30,5 Stunden sind. Da habe auch ich mir die Augen gerieben. Wir müssen uns fragen - das geht an uns alle -: Warum hören wir aus den Schulen ein so krass anderes Bild? Das ist eine Frage an uns alle.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schulleiter berichten von Burn-out, von Dauererkrankungen, von Kollegen, die am Rande ihres Limits arbeiten. Eltern berichten von enormem Unterrichtsausfall. Wir müssen uns - das ist die gemeinsame Verantwortung von uns allen - mit dieser Diskrepanz, die auch Herr Klug festgestellt hat, zwischen Bericht und Schulalltag beschäftigen. Wieso haben die Lehrkräfte das Gefühl, dass ihnen die Zeit wegläuft? Wieso sehen Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler zwischen der Schulrealität und diesem Bericht überhaupt keinen Zusammenhang? Das müssen wir ergründen.

Wir haben sicherlich verschiedene Erklärungsansätze. Auf die möchte ich nicht eingehen, sonst landen wir wieder im Fraktionen-Hickhack; das möchte ich nicht so gern.

(Anke Erdmann)

Ich möchte auf eine große Gefahr hinweisen. Die besteht nicht darin, ob eine Landesregierung, eine Fraktion besonders gut oder schlecht gearbeitet hat. Die wirkliche Gefahr besteht meines Erachtens darin, dass sich die Menschen, die Tag für Tag Schule machen, in der Politik und in unseren Debatten, aktuell in dieser hier, nicht mehr wiederfinden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir dürfen uns mit der Entkopplung der Papierlage - die Papierlage ist an vielen Stellen überraschend gut, gerade wenn man längere Zeiträume betrachtet - und der Situation in den Lehrer- und Klassenzimmern - da bin ich viel unterwegs - nicht zufriedengeben. Es muss uns ein Stachel sein, wenn Lehrkräfte und Eltern den Kopf schütteln und sagen: „Ihr in Kiel wisst doch sowieso nicht, was bei uns los ist“, und uns - wie heute geschehen - die Lehrerverbände Selbstbetrug vorwerfen. Das ist besonders hart, wenn besondere Einsparungen in den nächsten Jahren verordnet werden.

Wir müssen - das ist eine gemeinsame Aufgabe - in einen echten Dialog eintreten, wir müssen die Zahlen zusammenbringen, die da stehen, die eine ganz andere Sprache sprechen als das, was wir aus den Schulen hören.

Wir Grüne wollen die Ausschussberatung gern nutzen, und ich bin sicher, dass wir alle das tun werden. Ein jährliches Ritual ohne Konsequenzen bringt die Schülerinnen und Schüler, und unsere Lehrkräfte nicht weiter.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, der LINKEN und SSW)

Für die Fraktion DIE LINKE hat Frau Abgeordnete Ellen Streitbörger das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister, vielen Dank an Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Bericht, der uns die Situation im vergangenen Schuljahr schildert. Ich will mich in meinen Ausführungen im Wesentlichen auf den Bericht beziehen. Es war ein wenig verwirrend, den Tabellen folgen zu wollen, da nicht an jeder Stelle deutlich wird, ob jetzt die Zahl der Schülerinnen und Schüler gemeint ist, die den jeweiligen Bildungsgang oder die Schulform besuchen. Das ist sicherlich auch schwierig in Zeiten der Umwandlung von Schulformen, aber es wäre hilfreich, zukünftig die statistische Erfassung der

Daten an die real existierenden Schularten anzupassen.

(Beifall bei der LINKEN - Minister Dr. Ek- kehard Klug: Das ist schon der Fall!)

Überhaupt zeigen die Schülerzahlen und die Übergangsquoten, dass die Regionalschulen eher Auslaufmodelle sind. Eine Zweigliedrigkeit mit Gemeinschaftsschulen und Gymnasien erscheint uns als Übergangslösung auf dem Weg hin zu einer Schule für alle sinnvoll.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Abschnitt Klassenzahlen und -frequenzen erfahren wir, dass im Grundschulbereich der Rücklauf der Klassenzahl prozentual größer ist als der Rücklauf der Schülerzahlen. Das schafft aus unserer Sicht keine Situation, die uns der Umsetzung von Inklusion an unseren Schulen näherbringt.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Vorteil waren die Regionalschulen, die wohl zum Teil unerwartet wenig Anmeldungen hatten, und die Gymnasien. An den Gemeinschaftsschulen haben sich die Klassenfrequenzen erhöht. Das wiederum macht Differenzierung und Förderung des Einzelnen immer schwieriger.

Kommen wir zum Abschnitt Unterrichtsversorgung. Die Messgröße ,,Unterrichtsstunden je Schüler“ zeigt, dass sich die Unterrichtsversorgung im Schuljahr 2010/2011 leicht verbessert hat. Das war im Wesentlichen durch die Erhöhung der Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte bedingt.

Die Freude über die Verbesserung der Unterrichtsversorgung ist dann auch nur von kurzer Dauer. Denn erstens hat sich die Situation im laufenden Schuljahr durch die Stellenstreichungen bereits wieder dramatisch verschlechtert, und zweitens zeigen uns die weiteren Ausführungen des Berichts zum Thema Unterrichtsausfall die Kehrseite der Medaille: Landesweit hat sich der Unterrichtsausfall an den Schulen erhöht. Ausgenommen sind nur die Grundschulen.

Es wird deutlich, dass die Lehrerinnen und Lehrer im Land an den Grenzen ihrer Belastbarkeit angelangt sind und dass durch Erhöhung der Pflichtstundenzahl keine Verbesserung der Unterrichtsversorgung erreicht werden kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte kurz auf die Situation der Grundschulen eingehen, die nach der Statistik den niedrigsten Unterrichtsausfall zu verzeichnen haben. Es ist ja lei

(Anke Erdmann)

der nicht so, dass Grundschullehrerinnen und -lehrer gesünder als alle anderen Lehrerinnen und Lehrer im Land wären. ODIS hilft hier, die Realität zu schön zu färben. Denn durch die Pflicht zur Verlässlichkeit fällt an den Grundschulen offiziell kein Unterricht aus. Wir haben eben schon Beispiele dazu gehört. Wenn mehrere Klassen von einer Lehrkraft betreut werden oder drei Klassen gemeinsam Sport machen oder sich ein lustiges Video anschauen, wenn von nichtpädagogischem Personal oder von Müttern und Vätern Klassen beaufsichtigt werden, dann ist zwar statistisch kein Unterricht ausgefallen, dies trägt aber auch nicht im Geringsten zur Qualitätssicherung von Unterricht bei.

(Beifall bei der LINKEN, SSW und der Ab- geordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Erhöhung der Pflichtstundenzahl für Lehrkräfte zwar die Statistik geschönt, aber nicht zur Verbesserung der Unterrichtssituation beigetragen hat. Eine vermeintliche Verbesserung der Unterrichtsversorgung auf Kosten der Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern ist völlig inakzeptabel und widerspricht der Fürsorgepflicht des Dienstherrn.

(Beifall bei der LINKEN)

Rückläufige Schülerinnen- und Schülerzahlen sind bei gleichbleibender Anzahl der Stunden von Lehrerinnen und Lehrern die Chance, die Unterrichtssituation an Schleswig-Holsteins Schulen zu verbessern.

Wir sind in der Pflicht, Inklusion in der Schule umzusetzen. Wir sind auch in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass jede Schülerin und jeder Schüler entsprechend ihren beziehungsweise seinen Fähigkeiten gefördert wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Beides steht aber in krassem Widerspruch zu überarbeiteten Lehrerinnen und Lehrern, überfüllten Klassen und Unterrichtsausfall.

(Beifall bei der LINKEN und der Abgeord- neten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Für die Fraktion des SSW hat Herr Abgeordneter Lars Harms das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass es der vorliegende Bericht mit seinem vergleichsweise komplizierten Tabellenwerk direkt in die Schlagzeilen geschafft hat, liegt nicht unbedingt an überraschenden Zahlen; denn Eltern und Schüler wissen sehr wohl um das Ausmaß der Misere.

Der Bericht hat aus einem anderen Grund Wellen geschlagen: Wir befinden uns mitten in einer Glaubwürdigkeitskrise der Schulpolitik. Nach mehreren schulpolitischen Reformen, die mittlerweile zum Teil wieder zurückgenommen wurden, steht es nicht gut um das Image der schleswig-holsteinischen Bildungspolitik. Die Bürgerinnen und Bürger machen sich Sorgen, ob Schule ihren Auftrag noch adäquat erfüllen kann. Bei durchschnittlichen Klassengrößen im Gymnasium von 26 Schülerinnen und Schülern erscheint diese Frage durchaus berechtigt, vor allem angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet in den Gymnasien der höchste Wert beim durchschnittlichen Unterrichtsausfall vorliegt.

Pikanterweise fallen laut Bildungsminister an den Gymnasien deshalb so viele Stunden aus, weil die Lehrkräfte zunehmend auch in der Unterrichtszeit an Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen. Im Bundesvergleich stehen die hiesigen Gymnasien nicht gut da. Es fällt mehr Unterricht aus, als es durchschnittlich in Deutschland der Fall ist. Auch bei den übrigen Schultypen ist keine Entspannung in Sicht. Auch in Gemeinschaftsschulen und Regionalschulen fallen jährlich tausende Stunden aus.

Das ist kein einmaliger Ausreißer. Bereits 2007 wurde die damalige Landesregierung für ihre - ich zitiere - „Bildungsverweigerungspolitik“ gescholten, weil, wie es damals hieß, den Schülerinnen und Schülern ihr Anrecht auf den vorgesehenen Unterricht verweigert wurde. Gesagt hat das übrigens der damalige schulpolitische Sprecher der FDP, Ekkehard Klug, der als Minister 2011 genau diese Politik vertreten muss, meine Damen und Herren.

Der Bericht zur Unterrichtssituation ist jedes Jahr wieder Ausgangspunkt für eine schulpolitische Grundsatzdebatte, die nicht in Schuldzuweisungen stecken bleiben sollte. Eltern und Schüler erwarten mehr von uns. Viele Eltern fühlen sich durch diese Zahlen bedrückt und ohnmächtig. Der Landeselternbeirat hat bei der Anhörung zum Schulgesetz im letzten Jahr die Mitarbeit der Eltern bei diesem Thema angeboten und seine Forderung nach Transparenz wiederholt. Beide Forderungen bleiben ohne Nachhall. So sehen sich die Eltern jedes Jahr wie

(Ellen Streitbörger)

der gezwungen, den Unterrichtsausfall durch häusliche Hausaufgabenbetreuung oder professionelle Nachhilfestunden kompensieren zu müssen. Sie können gegen den Unterrichtsausfall nichts ausrichten, sondern sehen sich in die Rolle des Zuschauers gedrängt.

Aus diesem Grund erwächst aus diesen Zahlen ein so mächtiger Sprengstoff. Die CDU in RheinlandPfalz punktete im Landtagswahlkampf dementsprechend mit dem Slogan „Unterrichtsausfall ist die Mutter der Bildungslücke“ und versuchte, die Eltern so zu mobilisieren.

Aber noch etwas hat dazu beigetragen, dass der Unterrichtsausfall landesweit von den Medien aufgegriffen wurde. Dem Bericht ist nämlich nicht zu entnehmen, wie der Bildungsminister in absehbarer Zeit dem Problem zu Leibe rücken wird. Vor Jahren konnte das Programm „Jede Stunde zählt“ den Unterrichtsausfall durch die Einstellung neuer Lehrkräfte zumindest deutlich verringern. Doch ähnliche Programme oder Konzepte sind derzeit nicht in Sicht. Der Bildungsminister hat anscheinend resigniert und akzeptiert den Unterrichtsausfall offensichtlich als ein Dauerproblem, das zwar schlimm ist, dem aber ohne große finanzielle Anstrengungen nicht beizukommen ist.

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Das ist falsch, denn positive Beispiele aus Nordfriesland und Flensburg zeigen, dass kurze Wege, kreative Konzepte und eine engagierte Schulaufsicht einiges verbessern können. Dort fallen durchschnittlich die wenigsten Stunden aus, allerdings geht das zulasten der Lehrkräfte, die inzwischen einen Berg von Überstunden vor sich herschieben. Bereits zu Beginn der Sommerferien hatten die Flensburger Schulen das Jahresbudget für Vertretungsstunden komplett aufgebraucht. Danach werden Ausfälle durch Überstunden kompensiert. Das ist natürlich keine echte Lösung.

Ein eigenes Budget für jede Schule, wie es die Elternvertretungen einiger Flensburger Schulen fordern, könnte Entlastungen bringen. Doch das Ministerium wird wohl kaum freiwillig Entscheidungskompetenzen aus der Hand geben. Gleichwohl sollten wir gerade solche Ansätze im Ausschuss ausloten, und wir sollten wirklich einmal überlegen, ob wir nicht in Zukunft mit realistischen Zahlen arbeiten, also mit den Zahlen, die darüber vorliegen, wann kein normaler Unterricht stattgefunden hat. Ich denke, erst dann hätten wir eine Grundlage, auf der wir wirklich nach dauerhaften Lösungen suchen könnten. Dann würden sich die Rückmeldungen aus