Protokoll der Sitzung vom 20.07.2016

(Wolfgang Kubicki)

gescheitert. Die Abschottung und der Versuch, Menschen auch mit undemokratischen Mitteln die Flucht ins Überleben zu verweigern, ist gescheitert. Das ungarische Referendum wird ein Teil dieses Scheiterns sein. Da müssen wir überlegen, wie wir weiterkommen.

Nizza liegt in diesen Wochen seit April.

Das für uns ja eigentlich Unfassbare ist der Militärputsch in dem EU-Beitrittskandidaten Türkei, dessen Folgen heute noch nicht absehbar sind. Säuberungswellen gegen Tausende, wie sie gerade angedroht und wahrscheinlich auch vollzogen werden, und Diskussionen über die Wiedereinführung der Todesstrafe stellen nicht nur für Europa eine neue Dimension dar, die in der heutigen Debatte noch gar nicht ausreichend diskutiert werden kann.

(Beifall Dr. Patrick Breyer [PIRATEN] und Uli König [PIRATEN])

Europa ist in denkbar schlechter Verfassung. Keiner kann die Frage beantworten, ob und wann die Europäische Union sich zu einem Zweckbündnis von Nationalstaaten beziehungsweise Regierungschefs reduziert, wie die SPD-Oberen es sich vorstellen, und ob und wann Rechtspopulisten und Rechtsextremisten auf demokratischem Weg die Einheit und Freiheit Europas beschädigen und somit versuchen, mehr als 70 Jahre Frieden ein Ende zu setzen. Das ist die Frage, die der Kollege Stegner richtig benannt hat.

Diese Friedensfrage ist auch für unsere jugendlichen Mitbürgerinnen und Mitbürger die entscheidende, denn ohne Frieden wird es in Zukunft keine Demokratie geben. Deswegen möchte ich mich jetzt auf zwei Punkte konzentrieren.

Erstens: Was bedeutet Demokratie, und wie können wir sie verteidigen? Und zweitens: Die Bürger haben das Vertrauen in die EU verloren. Wie können wir es zurückgewinnen? Sind wir es, die es zurückgewinnen können?

Helmut Schmidt ist heute schon einige Male genannt worden. An dieser Stelle möchte ich aber aus der Regierungserklärung Willy Brandts vom 28. Oktober 1969 zitieren:

„Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unter

richtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.“

Diese Aussage von Willy Brandt hat in sämtlichen offiziellen Stellungnahmen nach der Brexit-Entscheidung gefehlt, sowohl bei Martin Schulz als auch bei Sigmar Gabriel, und leider auch in Ihrem zweiseitigen Interview in der „Welt“, verehrter Kollege Stegner. „Mehr Demokratie wagen“ und zu sagen, dass wir es nur zusammen schaffen können, dieses Europa zu verteidigen, zu verändern und gerechter zu machen, hat keine Rolle gespielt. Das macht mich sehr nachdenklich.

(Beifall Dr. Patrick Breyer [PIRATEN] und Uli König [PIRATEN])

Seit gestern geht das Entsetzen der etablierten Politiker und Parteien über die mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei durch die Schlagzeilen - sie wird nicht kommen, davon bin ich überzeugt. Dass das Entsetzen jetzt erst offensichtlich wird, wenn über die Einführung der Todesstrafe in einem EU-Beitrittsland geredet wird, zeigt doch, dass die Politiker, die Regierungen, aber auch Kommission und Rat über Monate, ja über Jahre eine drastische Verschlechterung der demokratischen Situation in der Türkei, im Nahen Osten, einfach ignoriert haben.

(Beifall PIRATEN)

Und warum? Weil sie diese Flüchtlinge partout nicht nach Europa lassen wollen, weil es keine demokratische Solidarität in Europa gibt. Und da geht man eben den Pakt mit dem Teufel ein. Ich bin schon entsetzt, wenn der Kanzleramtsminister Altmaier sich als Reaktion auf das, was in der Türkei gerade passiert ist und weiter passiert, hinstellt und sagt: Ja, das ist alles nicht schön, aber es wird keine Auswirkungen auf den EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei haben.

Das ist das, was die Menschen nicht mehr verstehen! Das ist kein demokratisches Handeln, sondern das Rechtfertigen eines zutiefst undemokratischen Staates, der im Moment Rache übt.

(Beifall PIRATEN)

Demokratie darf kein Lippenbekenntnis sein. Wer gegenüber der Türkei die Einhaltung demokratischer Werte fordert, muss auch bereit sein, die demokratische Entscheidung der Engländer und Waliser zu akzeptieren. Wer von Erdogan die Einhaltung demokratischer Rechte fordert, muss auch bereit sein, dem Europäischen Parlament endlich die klassischen Parlamentsrechte zuzugestehen.

(Angelika Beer)

(Beifall PIRATEN)

Diese Demokratiefrage müssen wir uns jetzt stellen, aber insbesondere auch den Europäischen Staatsund Regierungschefs.

Demokratie hat vor allem auch mit Vertrauen zu tun. Deshalb muss heute die Frage erlaubt sein: Wer hat denn das Vertrauen der Bürger in die Europäische Union und in die Demokratie verzockt?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Antwort ist vielleicht unbequem, aber ehrlich: Es sind doch die Nationalstaaten selbst. Es sind die Staats- und Regierungschefs, wie zum Beispiel die EU-Kommissare, die nur nach Parteibuch und nach wirtschaftlichem und politischem Einfluss ernannt worden sind

(Beifall PIRATEN)

- Griechenland ist genannt worden - und die eine Austeritätspolitik ausüben. Insofern war klar, dass die Jugend den Preis zu bezahlen hat. Das war von vornherein klar. Deshalb reicht es nicht, mehr Geld und mehr Bildung für die Jugend zu fordern. Wir müssen Demokratie in Europa wagen - für die Jugend.

(Beifall Dr. Patrick Breyer [PIRATEN] und Uli König [PIRATEN] - Wolfgang Kubicki [FDP]: So ein Unsinn!)

Wagen wir mehr Demokratie in Europa, und sind wir bereit, dafür nationale Souveränität einzuschränken? Ich denke ja, wenn es demokratisch legitimiert, kontrolliert und transparent ist.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben aus ihren bisherigen Fehlern doch überhaupt nichts gelernt. Kurz nach der Brexit-Entscheidung hat sich die Kommission bei der Entscheidung über die Glyphosat-Frage schlichtweg über die Kritiker hinweggesetzt und ein vorläufiges weiteres Benutzen festgelegt.

Die Causa CETA, über die wir gleich noch diskutieren werden, wollte Kommissionspräsident Juncker, eingemauert in seinen Machtstrukturen, sogar den nationalen Parlamenten entziehen und diese entmündigen. Das ist es, was die Menschen fragen lässt: Wo ist denn diese Demokratie? Wo ist unser Europa? Warum können wir nicht selbst entscheiden, wie wir es wollen?

(Beifall Dr. Patrick Breyer [PIRATEN] und Lars Harms [SSW])

Das sind nur zwei Beispiele, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen sage ich: Wir brauchen den Mut, zu diskutieren, wie und in welchen Punkten

die Europäischen Verträge korrigiert werden können und korrigiert werden müssen.

(Beifall PIRATEN)

Wir brauchen den Mut zu einem Verfassungskonvent, dessen Mitglieder von den europäischen Bürgern gewählt werden. Ohne die demokratische Legitimation durch die Bürger ist die EU zum Scheitern verurteilt.

(Beifall PIRATEN)

Die derzeitigen Strukturen sind demokratiefeindlich und schädlich. Das zu benennen, sollten wir nicht der AfD oder Rechtsextremisten überlassen, sondern da ist der Hebel zur Reparatur. Es reicht nicht, nur von einem neuen chirurgischen Eingriff zu reden, wie es der Ministerpräsident getan hat. Nicht 27 Chefärzte werden das schaffen, sondern alle zusammen, die Interesse am Überleben dieses Patienten haben.

(Beifall PIRATEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss und erwähne noch einmal Willy Brandt: Mehr Demokratie wagen. Das stünde auch uns in Schleswig-Holstein ganz gut zu Gesicht. Demokratie und Vertrauen bedingen einander. Ich frage Sie: Warum trauen wir nicht einmal den Menschen in unserem Land zu, über unsere zukünftige Verfassung abzustimmen?

(Beifall PIRATEN)

Frau Abgeordnete, Sie müssen nun wirklich den letzten Satz formulieren.

Ich komme zum letzten Satz. Wir können ja anfangen, die Auswirkungen des Brexits aufzufangen, indem wir unsere Menschen mitbestimmen lassen. Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall PIRATEN)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Ich stelle fest, dass der Berichtsantrag Drucksache 18/4401 durch die Berichterstattung der Landesregierung seine Erledigung gefunden hat.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 und 25 auf:

(Angelika Beer)

Gemeinsame Beratung

a) Ein klares Bekenntnis zum Transatlantischen Freihandelsund Investitionsabkommen (TTIP) abgeben - Den schleswig-holsteinischen Mittelstand vorbehaltlos unterstützen

Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 18/4165 (neu)

b) Fairer Freihandel auf Grundlage hoher Umwelt- und Sozialstandards