Protokoll der Sitzung vom 20.07.2016

Sie wollen sozusagen ihr Commonwealth wiederhaben, wollen die starke Nation sein. Das haben wir auch in Frankreich, dass dort eine Menge Menschen sind, die die Grande Nation wiederhaben wollen und nicht begreifen, dass sie diese Stellung im Rahmen der weltweiten Entwicklung verloren haben. Für diese älteren Menschen, die sozusagen keine ökonomische Lebensperspektive mehr haben, sondern deren Stolz irgendwie abhandengekommen ist, haben wir bisher keine Antwort gehabt, außer dass wir sie denunzieren: Wer stolz auf sein Land und seine ehemalige Größe sein will, ist jemand, der nicht nur die Zeichen der Zeit nicht verstanden hat, sondern möglicherweise in einer Ecke steht, in der er nicht stehen sollte.

Es gibt in keinem Land Europas eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Austritt aus der Union. Aber es gibt in vielen Ländern genau denselben Wunsch, nicht davon abhängig zu sein, dass andere darüber entscheiden, wer zu ihnen kommt, welche Menschen zu ihnen kommen. Die größte Herausforderung für Europa findet am 2. Oktober 2016 statt, und zwar nicht wegen der Wahl in Österreich, sondern wegen des Referendums in Ungarn. Was machen wir denn eigentlich, wenn die ungarische Bevölkerung im Referendum am 2. Oktober 2016 entscheidet - die Voraussagen sprechen ja von 70 % bis 80 % -, dass sie nicht bereit ist, Kontingentflüchtlinge in ihrem Land aufzunehmen?

Herr Abgeordneter Kubicki, gestatten Sie eine Bemerkung des Abgeordneten Stegner?

Selbstverständlich gestatte ich eine Bemerkung des Abgeordneten Dr. Stegner.

Herr Kollege Kubicki, gerade weil das so ist, wie Sie es beschreiben, ist die Antwort, die gegeben werden muss, eine, die sich nicht an Meinungsumfragen orientiert, sondern ist eine Haltung, die nämlich sagt: Dieses Europa mit Ressentiments gegen andere gibt es nicht. Es gibt nicht ein Europa, in dem wir die Grenzen wieder errichten. Die Kampagne in Großbritannien ist leider auch von dem neuen Außenminister in einer Form geführt worden, nämlich mit Lug und Trug, mit Behauptungen, als habe Nazi-Deutschland wieder die Herrschaft in Europa übernommen. Ich habe

(Wolfgang Kubicki)

mir die Kampagne sehr genau angeschaut. Da kann ich nur sagen: Von diesen Dingen muss man sich so weit wie möglich fernhalten.

Wie die Umfragen auch aussehen: Europa hat nur eine Zukunft, wenn es ein offenes Europa bleibt und nicht eines, das suggeriert: Wir können die Menschen draußen halten; die werden ihre Probleme in anderen Teilen der Welt lösen. - Die kommen zu uns, das ist Teil der Globalisierung, und das haben wir mit Haltung gemeinschaftlich zu bewältigen.

- Herr Kollege Dr. Stegner, ich finde Haltung immer bemerkenswert, vor allen Dingen, wenn man eine hat. Ich will Sie aber auch darauf hinweisen das habe ich hier schon mehrfach gesagt -, dass das Auftreten Deutschlands und von führenden deutschen Politikern den europäischen Gedanken gelegentlich nicht befördert, sondern ihm entgegengewirkt hat. Ich war in Polen, ich war in Frankreich und Österreich: Ich habe lange Zeit nicht erlebt, dass man mit antideutschen Ressentiments wieder Politik machen kann. Am deutschen Wesen muss Europa nicht genesen. Wir sind nicht die Dompteure Europas, sondern wir sind Teil Europas.

(Beifall FDP und Lars Harms [SSW])

Wir müssen deshalb zur Kenntnis nehmen, dass in anderen Ländern vielleicht auch andere Überlegungen da sind. Die politische Aufgabe besteht darin, diese Menschen, diese Länder nicht zu beschimpfen, sondern den Versuch zu unternehmen, auf eine gemeinsame Linie durch Überzeugung zu kommen. Das setzt gelegentlich etwas mehr Demut voraus als unser Auftreten aufweist. Wenn SPD-Politiker den Polen beispielsweise erklären „Wenn ihr keine Flüchtlinge aufnehmt, dann nehmen wir euch das Geld weg!“, ist das kein sinnvoller Beitrag zu einer gemeinsamen europäischen Haltung.

(Beifall FDP)

Herr Abgeordneter Kubicki, gestatten Sie eine weitere Bemerkung des Abgeordneten Dr. Stegner?

Ich kann nur sagen, Herr Kollege Kubicki, die Sozialdemokratie ist immer eine internationale Partei gewesen. Und ich habe in meinem Redebeitrag ange

sprochen, dass sich Frau Bundeskanzlerin bei der Haltung, „Was kümmern uns die Flüchtlinge, die vor Lampedusa ertrinken?“, nicht wundern darf, wenn andere europäische Länder hinterher die Solidarität verweigern, wenn Deutschland Probleme hat. Das ist ja ein Teil der Entwicklung gewesen. Ich bin sehr dafür, dass man gegenüber anderen Ländern - gerade angesichts der deutschen Geschichte - in zurückhaltendem Ton auftritt. Ich finde es aber notwendig, dass man sich zu den Werten der Europäischen Union auch dann bekennt, wenn man diese Debatten in Polen, Ungarn oder sonst wo führt. Ich tue das jedenfalls. Da kann man sich im Ton zurückhalten - das muss man auch -, aber in der Sache bleibt es trotzdem eine Haltungsfrage, dass man die Werte der Europäischen Union nicht aufgibt.

- Herr Kollege Dr. Stegner, auch da bin ich, was Ihre Aussagen angeht, der gleichen Auffassung. Das Problem ist nur, dass die Konsequenzen unterschiedlich sind.

Ich will es noch einmal zu erklären versuchen: Was wir brauchen, ist ein europäisches Deutschland und kein deutsches Europa. Was wir momentan in Europa und darüber hinaus vorführen, ist der Wunsch oder der Verdacht, die Vermutung in anderen europäischen Ländern, Deutschland wolle Europa dominieren und domestizieren.

Wenn es möglich ist, dass man in unserem Nachbarland Österreich - wie es Herr Hofer getan hat -, seinen Wahlkampf mit der Erklärung abschließt: „Wir wollen unsere eigenen Möglichkeiten zurück, wir wollen uns nicht von Brüssel und Berlin sagen lassen, wie wir Politik zu betreiben haben!“, dann ist das ein Alarmzeichen an uns. Wenn wir dem entgegenwirken wollen, müssen wir zunächst einmal gucken, wie wir innerhalb Europas auftreten, um wieder eine gemeinsame Linie zu bekommen. Denn eine weitere Fortsetzung dieser moralischen Überhöhung unserer eigenen Position gegenüber anderen wird dazu führen, dass wir die anderen nicht begeistern, sondern sie sich von uns abwenden, und das ist das Schlimmste, was uns passieren kann.

Da frage ich noch einmal nach, Herr Dr. Stegner Sie könnten ja einen Dreiminutenbeitrag dazu bringen -: Was ist Ihr Vorschlag, was wir bei einem absehbaren Votum in Ungarn tun sollen, wenn 80 % der Bevölkerung erklären: Wir wollen keine Quotenflüchtlinge! - Was machen wir, wenn die Visegrád-Staaten nachziehen und das in ihren Län

(Wolfgang Kubicki)

dern auch machen? Was machen wir mit dem Druck, der dann in Holland, Österreich und darum herum stattfinden wird? Sagen wir dann jedes Mal: Ihr seid unmoralisch, wenn ihr so etwas tut? - Und was machen wir, wenn zum Schluss nur Deutschland übrig bleibt, um den Türkei-EU-Pakt, was Flüchtlinge angeht, umzusetzen? Was glauben Sie, was dann in der deutschen Bevölkerung los ist?

Noch einmal: Moralische Ansprüche sind das eine, die konsequente Umsetzung, dass man Menschen dafür begeistert, ist das andere.

Da komme ich zu einem weiteren Punkt, zu Griechenland: Ich nehme an, Sie waren einmal in Griechenland. Die griechische Krise ist nicht durch die Europäische Union entstanden, sondern entstand durch eine falsche Politik der griechischen Regierung im eigenen Land. Was Europa gerade macht, ist, den Griechen dabei zu helfen, aus dieser Krise herauszukommen. Das kann man schlecht oder gut finden, aber es ist wirkungsvoll. Das heißt ja nicht nur, Geld nach Griechenland zu pumpen, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft wiederherzustellen, die Leistungsfähigkeit der Verwaltung wiederherzustellen. Da sind wir dankbar, dass NRW mittlerweile griechische Finanzbeamte schult, was wir viel früher hätten tun können, damit sie eine ordentliche Verwaltung aufbauen können. Ich bin dankbar, dass die Franzosen Verwaltungsbeamte dorthin geschickt haben, damit sie eine ordentliche Verwaltung bekommen. Ich wäre dankbar, wenn ich den Griechen einmal erklären könnte, wie Grundbücher funktionieren, weil sie ohne vernünftige Grundbücher die Eigentumsverhältnisse nicht klären können.

Aber, Herr Stegner, zu sagen, wir brauchen einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, und gleichzeitig festzustellen - das ist eine ungeheure Geschichte -, dass in Griechenland privatisiert wird, wirft bei mir die Frage auf: Wie stellen Sie sich Investitionen denn eigentlich vor? Soll jetzt der deutsche Staat nicht mit einem Unternehmen, sondern mit staatlichen Institutionen - mit Griechenland zusammenarbeiten und dort gemeinsam Fabriken bauen? Ist die Übernahme des Caterings oder der Logistik des Athener Flughafens durch Fraport - übrigens eine Gesellschaft, die überwiegend in der öffentlichen Hand ist - für Sie etwas Schlimmes? Wir müssen doch gerade dafür werben, dass es mehr private Investitionen in Griechenland gibt, damit die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt, denn die Voraussetzung für einen vernünftigen Sozialstaat ist eine vernünftige Wirtschaft. Wenn man dort kein Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet - das habe ich

Ihnen früher schon einmal erklärt -, kann man anschließend auch nichts verteilen, was man sinnvollerweise aber tun sollte.

Den Anspruch, Europa muss sozialer werden, müssen wir mit den europäischen Staaten abstimmen, damit klar ist, in welchen Größenordnungen sie das überhaupt machen können. Wenn sie von heute auf morgen versuchen würden, das deutsche Sozialsystem in Portugal einzuführen, bräche die ganze Gesellschaft zusammen. Das heißt, auch da muss man von seinen eigenen Ansprüchen abgehen. Wenn wir ein gemeinsames Europa, eine stärkere Integration in diesen Fragen - sowohl wirtschaftspolitisch als auch finanzpolitisch und sozialpolitisch - wollen, wird das auf dem deutschen Standard nicht möglich sein. Jetzt erklären Sie einmal den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, dass sie Standardabweichungen für ein gemeinsames Europa hinnehmen müssen, das sich weiterentwickeln soll. Das wäre doch eine Lernaufgabe zu fragen: Wie kommen wir da gemeinsam hin, ohne im Ergebnis mit großen moralischen Attitüden und keiner praktischen Umsetzung? Das wird die Lernaufgabe sein, vor der wir stehen.

Wir sollten den Austritt Großbritanniens, der bedauerlicherweise von 52 % der an der Abstimmung teilnehmenden Bevölkerung gewollt war, so hinnehmen, wie er ist.

Aber was wir auch tun müssen - und ich finde, ziemlich schnell - ist, dass wir uns gar keine Gedanken darüber machen müssen, wie es Großbritannien anschließend geht. Die sind ausgetreten. Die wollen irgendwann was von Europa, und dann kann Europa reagieren. Jetzt Debatten darüber zu führen, unter welchen Bedingungen sie wieder am Binnenmarkt teilnehmen können oder nicht, ist genau Wasser auf die Mühlen der Brexit-Befürworter, die erklären: Es wird schon nicht so schlimm kommen. Im Gegenteil, die werden ein Eigeninteresse daran haben, mit uns weiter Handel zu treiben, und den Rest sind wir los. - Wir müssen ihnen sagen „Der gemeinsame Markt ist tot“, und zwar jetzt sofort. Und je schneller die ökonomischen Konsequenzen des Austritts in Großbritannien sichtbar werden, desto besser ist es für Europa insgesamt, denn nur dann werden den Rechtspopulisten in ganz Europa die Zähne gezogen, die immer behaupten: Wenn wir es wie Großbritannien machen, geht es uns allen besser. - Wenn man jetzt sieht, und zwar sehr schnell sieht, dass Großbritannien aufgrund dieser Entscheidung in eine Rezession gerät, wenn jetzt Unternehmen erklären, dass sie ihren Sitz aus Großbritannien in andere Staaten verlagern, weil sie

(Wolfgang Kubicki)

in Europa bleiben und das Risiko nicht in Kauf nehmen wollen, dass lange Verhandlungen darüber geführt werden müssten, ob das über Freihandel gehen wird oder nicht, werden wir den Rechtspopulisten in Deutschland und anderswo das Wasser abgraben.

Deshalb muss unsere klare Ansage als deutsche Politik, als europäische Politik erst einmal sein: In dem Moment, in dem die Briten Artikel 50 in Kraft setzen, ist Großbritannien zwei Jahre später nicht mehr Teil des Binnenmarkts. Was dann sein wird, wird man sehen. Ich bin sicher: Es ist schmerzhaft, dass die Briten ausgetreten sind - Europa kann ohne Großbritannien leben, aber die Briten werden erleben, dass sie nicht ohne Europa leben können. Je schneller das erkannt wird, desto besser ist es für ein gemeinsames Europa und seine weitere Entwicklung. - Ich bedanke mich herzlich.

(Beifall FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, begrüßen Sie gemeinsam mit mir auf der Tribüne eine weitere Schülergruppe des Marion-Dönhoff-Gymnasiums Mölln. - Seien Sie uns herzlich willkommen im Schleswig-Holsteinischen Landtag!

(Beifall)

Das Wort für die Fraktion der PIRATEN hat die Abgeordnete Angelika Beer.

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist noch gar nicht lange her, dass wir hier die letzte grundsatzpolitische Debatte zur Europapolitik geführt haben. Zu dieser Debatte im April 2016 lag ein Antrag der Koalitionsfraktionen vor, den ich damals einen Wünsch-dir-was-Antrag genannt habe, weil er vollkommen utopisch war. Gerade angesichts des bevorstehenden Votums in Großbritannien und des gerade mit der Türkei geschlossenen Flüchtlingsdeals ging er vollkommen an der Realität vorbei.

(Beifall PIRATEN)

Wir PIRATEN haben im April 2016 eingefordert, dass wir die Europäische Union und Europa, so sehr wir es auch verteidigen, nicht weiter schönreden.

Deswegen sage ich Ihnen ganz klar, Daniel Günther: Es geht nicht mehr darum, jetzt mit Zauberfloskeln irgendwie etwas schönzureden, was sich

im Moment dramatisch entwickelt. Die Menschen erwarten von uns, dass wir die Probleme benennen und versuchen, lösungsorientiert heranzugehen.

(Beifall PIRATEN und Lars Harms [SSW])

Ich glaube, dass gerade aufgrund der Kontroverse, die hier gerade gelaufen ist, deutlich geworden ist, dass es im Moment keine Patentrezepte gibt. Wir brauchen Sensibilität und auch ein Aufeinanderzugehen, weil sonst jede Debatte, wie sie manchmal woanders geführt wird und die wir immer weiter zur Kenntnis nehmen müssen, sehr schnell im AfDFahrwasser landet, wo wir gar nicht hinwollen. Genau das ist unsere Herausforderung: in SchleswigHolstein dafür zu sorgen, dass die Antieuropäer und Demokratiefeinde keinen Fuß auf den Boden bekommen.

(Beifall PIRATEN und SSW)

Lars Harms hat es auf den Punkt gebracht: Der Ruf von Sigmar Gabriel und Martin Schulz nach einem europäischen Superstaat ist genau der falsche Weg, denn dieser Weg führt vollständig an den Bedenken der Bevölkerung vorbei.

(Beifall PIRATEN)

Wenn wir auf die Situation im April 2016 zurückgucken, so ist es seitdem noch schlimmer geworden, als wir alle befürchtet haben. Seien wir doch ehrlich! Der Brexit hatte zur Folge - und das hat keine zehn Stunden gedauert -, dass die 27 übrig Gebliebenen sehr schnell Schuldzuweisungen zur Hand hatten: Für die einen war es die Flüchtlingspolitik, für die anderen die Kanzlerin, die den Flüchtlingen den Weg nach Europa ermöglicht hat.

Nach dem Austrittsvotum hieß es oft: Die blöden Briten, die haben mal wieder nicht gewusst, was sie machen. Hinterher sind sie schlauer! - Ich glaube, dass diese Arroganz in der Haltung und im Vokabular vollkommen unangebracht und falsch ist. Es gibt nun einmal demokratische Entscheidungen, ob es einem passt oder nicht - so, wie die Mehrheiten dann sind.

(Beifall PIRATEN, Dr. Marret Bohn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Lars Harms [SSW])

Deswegen ist es notwendig, Herr Kubicki, dass wir den 2. Oktober 2016 im Auge behalten. Wir sollten da auch nicht blauäugig sein. Wir müssen die Frage stellen, was dann passiert, und zwar nicht nur uns oder den 27 Regierungschefs. - Wir wissen doch, was passiert: Die EU-Flüchtlingspolitik ist

(Wolfgang Kubicki)