Schleswig-Holstein hat in dieser Hinsicht einen enormen Nachholbedarf. Der Grund liegt auf der Hand: Viele Funktionäre des NS-Regimes konnten ihre Karrieren der Gewalt im demokratischen Deutschland fast nahtlos fortsetzen und besetzten Schlüsselpositionen bei Polizei, Justiz und Behörden Schleswig-Holsteins. Im Norden bestand ein gesellschaftlicher Druck, keine Fragen nach Schuld und Verantwortung zu stellen oder - wenn überhaupt - zu marginalisieren und zu entpersonalisieren, also Schuldige nicht zu benennen.
Die Konsequenzen dieser Verleugnungspolitik spüren wir bis heute. So erhielt Schleswig-Holstein erst im letzten Jahr erstmals Bundesmittel für eine Gedenkstätte. Eine bittersüße Premiere, die einen enormen Nachholbedarf symbolisiert.
Es ist ein großer Verdienst der Bürgerstiftung, nicht nur die Erneuerung der Erinnerungsarbeit anzumahnen, sondern sich praktisch um die politische Umsetzung zu kümmern. Dieses bürgerschaftliche Engagement ist der richtige Weg, Erinnerungspolitik im Land zu verankern.
Die Rahmenbedingungen für diese Arbeit müssen allerdings dringend verbessert werden. Die Professionalisierung der Gedenkstättenarbeit ist die Grundlage für eine nachhaltige Arbeit. Das Ehrenamt braucht ein Gerüst, auf das es sich verlassen kann. Ohne Profis geht es nicht in den Gedenkstätten, denn diese sichern die fachliche Arbeit. Das können wir besonders gut an der Neuausrichtung der Gedenkstätte in Ladelund erkennen.
Die Neustrukturierung der Bürgerstiftung bietet dem Landtag die Möglichkeit, sich als demokratischer Akteur in die fachliche Arbeit einzubringen. Uns Politikerinnen und Politikern wird schließlich nicht zu Unrecht vorgeworfen, in ritualisiertem Erinnern zu erstarren. Darum begrüßt es der SSW ausdrücklich, dass sich der Landtag in die Pflicht nehmen lässt, an der Gestaltung der Gedenkstättenarbeit mitzuwirken.
Wir Pädagogen wissen das: Sachen, also Gebäude oder historische Gegenstände des täglichen Lebens, sprechen nicht für sich selbst. Kinder und Jugendliche müssen sich Dinge erst aneignen, am besten mittels einer Erklärung beziehungsweise eines persönlichen Gesprächs. Erinnerungsstätten verbürgen weder die historische Gewalt, noch erklären sie diese. Sie bezeugen, zu was Menschen fähig sind.
Gedenkstätten sollten Denkstätten werden. Reingehen, gucken und abhaken, das ist nicht im Sinne einer politischen Erinnerungsarbeit, die versucht, Mechanismen des Machtmissbrauchs zu verdeutlichen. Nur mit lebendiger Auseinandersetzung können wir das Gedenken für unsere Zeit fruchtbar nutzen.
Die Auseinandersetzung muss sich ändern, weil sich die Menschen ändern. Wir sprechen und denken heute im Duktus des 21. Jahrhunderts. Daran muss die Gedenkstättenarbeit anknüpfen. Gedenkstättenarbeit wird sich ändern, weil wir nach dem Tod der letzten Überlebenden mit größerer Distanz die Vergangenheit aufarbeiten können. Es sind eben vielerorts nicht mehr die Elterngenerationen der Besucherinnen und Besucher, sondern die der
Groß- und Urgroßeltern. Daher können Fragen nach Schuld in gewisser Weise schonungsloser gestellt werden. So harrt die Frage nach dem Umfang der sogenannten Arisierung, also des Raubs jüdischen Vermögens, immer noch der Klärung, auch in Schleswig-Holstein. Das kann moderne Gedenkstättenarbeit leisten. Wir sollten die Chance nutzen, sieben Jahrzehnte nach der Befreiung.
Weitere Wortmeldungen aus dem Plenum liegen nicht vor. Dann hat jetzt die Landesregierung das Wort. Das Wort hat die Ministerin für Justiz, Kultur und Europa, Anke Spoorendonk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die nationalsozialistische Terrorherrschaft liegt inzwischen drei Generationen zurück. Doch ist und bleibt die Auseinandersetzung mit ihr von großer gesellschaftlicher und politischer Bedeutung. Die kritische Erinnerung ist heute Teil der demokratischen Identität Deutschlands. Das ist umso wichtiger, wenn wir bedenken, wie lange die Kontinuitäten uns auch in der Bundesrepublik begleitet haben; denn es hat die „Stunde Null“ nicht gegeben. Wir wissen heute, dass in unserem Land noch Jahrzehnte nach der nationalsozialistischen Herrschaft überzeugte Nazis gelebt und gewirkt haben. Gerade als Justizministerin ist mir dieser Aspekt besonders wichtig.
Bitte gestatten Sie mir deshalb, auf zwei Schlaglichter hinzuweisen, die auch vor dem Hintergrund des 70. Jahrestags des Kriegsendes beziehungsweise der Befreiung zu sehen sind. So hat in der vergangenen Woche beim jährlichen Treffen unserer Staatsanwaltschaften in Bordesholm der Jurist und Historiker Ingo Müller einen Vortrag zum Thema „Furchtbare Juristen“ gehalten. Vielleicht kennen Sie sein Werk. Es wird wieder neu aufgelegt, habe ich gehört. Daraus geht eindeutig hervor, wie diese Kontinuitäten im Bereich der Justiz in SchleswigHolstein nach 1945 funktioniert und gewirkt haben.
Im März dieses Jahres wurde im OLG Schleswig anlässlich des 50. Jahrestags der Auschwitzprozesse eine Ausstellung eröffnet. Dabei ging es um den herausragenden Staatsanwalt Fritz Bauer. Auch das macht deutlich, dass sich die Justiz in SchleswigHolstein dieser Verantwortung stellt und dass wir
Das haben auch eine ganze Reihe anderer Veranstaltungen gezeigt, nicht zuletzt auch die Veranstaltung in Flensburg am 23. Mai 2015 zur letzten Reichsregierung Dönitz, wo die Pilkentafel eine künstlerische Aktion durchführte, wodurch die völlige Absurdität - mir fehlen wirklich die Worte dieser Reichsregierung deutlich wurde.
Der 23. Mai ist gleichzeitig der Tag der Ausrufung unseres Grundgesetzes. Ich fand, das war eine Veranstaltung, die deutlich machte, weshalb es wichtig ist, daran zu erinnern, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung ist.
Meine Damen und Herren, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit bleiben Herausforderungen einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Die Erinnerung an den beispiellosen Zivilisationsbruch und seine Opfer hilft uns, unseren Sinn für die Gefahren für unsere moderne und humanistisch geprägte Gesellschaft wachzuhalten. Das „Nie wieder!“ bleibt auch für künftige Generationen Mahnung. Doch muss es immer neu verstanden und erklärt werden.
Ich meine, gerade angesichts der widerwärtigen Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und der Stimmungsmache durch eine zunehmend verbal radikalisierte Öffentlichkeit und deren niederträchtige Wortwahl ist das aktuell notwendiger denn je. Dabei kann sich niemand aus der Verantwortung ziehen.
Alle Mitglieder unserer Gesellschaft, auch die Nachgeborenen, tragen diese Verantwortung. Das heißt, die oft zitierte „Gnade der späten Geburt“ kann es da nicht geben.
Auch darum ist es gut, dass die Landesregierung im Mai ein Landesgedenkstättenkonzept beschlossen hat. Dies ist ein Konzept zur Förderung und Weiterentwicklung von Erinnerungsarbeit an historischen Lernorten, zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur in Schleswig-Holstein.
Bislang fehlt nämlich eine landesweite gemeinsame Verständigung, die sowohl inhaltlich als auch strukturell auf die aktuellen Entwicklungen Bezug nimmt und die Gedenkstättenarbeit insgesamt zukunftsfähig macht.
Ziel ist eine in der Breite tragfähige Konzeption, die neue Ansätze und langjähriges Engagement gleichermaßen einbindet. Das ist, so meine ich, meine Damen und Herren Abgeordnete, auch gelungen.
Zukunftsfähig heißt, dass sich die Erinnerungsarbeit mit aktuellen Fragen auseinandersetzt und auf diese vor allem für jüngere Generationen Antworten anbietet. Denn Jugendliche heute, die keine Zeitzeugen mehr kennengelernt haben, die zum Teil aus völlig anderen Kulturkreisen stammen und die die Nazizeit nur aus Geschichtsbüchern kennen, haben andere Fragen und suchen andere Antworten, als wir es tun und getan haben. Auf diese neuen Fragen müssen wir uns einstellen.
Ich bin dankbar, dass wir auf dem Weg zu unserem Konzept eine ganze Reihe Fragensteller beteiligen konnten. Die Runden Tische sind schon angesprochen worden. Außerdem tagte eine Arbeitsgruppe, und es gab viele gute Gespräche.
Diese Teamarbeit soll nicht zu Ende sein. Das Gedenkstättenkonzept sieht eine stärkere Beteiligung des Landtags und seiner Mitglieder vor. Ich freue mich sehr, dass Sie sich schon so schnell nach der Veröffentlichung des Konzepts damit befassen. Das greife ich gern auf.
Nur gemeinsam können wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Weiterentwicklung der Gedenkstättenstiftung, die in unserem Land gewissermaßen die Schaltstelle für Erinnerungsarbeit ist.
Wir haben als erste Konsequenz aus dem Konzept ein Gutachten darüber in Auftrag gegeben, wie sich Stiftungszweck und Stiftungsstruktur verändern lassen. Das war auch notwendig, weil das Stiftungsrecht - das habe ich mittlerweile gelernt - sehr kompliziert und zudem sehr in Beton gegossen ist.
Mein Interesse bleibt es, die Stiftung transparenter aufzustellen und die Verantwortung von Öffentlichkeit und Land hervorzuheben. Das bedeutet auf der einen Seite, zu klären, wie die Verantwortlichkeiten verteilt sind. Auf der anderen Seite bedeutet das, die Arbeit der Stiftung für die einzelnen Erinnerungsorte so effektiv wie möglich zu gestalten und damit den einzelnen Initiativen im Land die Chance auf eine Modernisierung und Professionalisierung zu geben. Wir werden uns nun intensiv mit der Einrichtung der im Gedenkstättenkonzept genannten Servicestelle befassen. Meine sehr geehrten Abgeordneten, dabei sind wir schon auf einem guten Weg.
Authentische Orte wie die KZ-Gedenkstätten, die Neulandhalle oder der Kieler Flandernbunker machen uns immer wieder deutlich, dass es keinen Schnitt, kein Vergessen und kein Verdrängen dieses Teils unserer Geschichte geben darf. Es ist unsere Pflicht, diese zu bewahren, auch um nachfolgenden Generationen zu ermöglichen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. - Vielen Dank.
Wir kommen zur Abstimmung. Es ist beantragt worden, über den Antrag in der Sache abzustimmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist das einstimmig so beschlossen.
Antrag der Fraktionen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten des SSW Drucksache 18/3167
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat Herr Abgeordneter Detlef Matthiessen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stromsperren sind für Versorger die Ultima Ratio, also die letzte Maßnahme, wenn Kunden ihre Rechnung nicht bezahlen. Gleichzeitig ist eine Stromsperre ein sozialpolitisches Alarmsignal, zum einen weil die Einschränkungen der Lebensmöglichkeiten erheblich sind: Kochen, Handy aufladen, Radio, Fernsehen, Licht, Staubsaugen, alles funktioniert nicht mehr. Zum anderen ist die Stromsperre Indikator einer sehr zugespitzten sozialen Notlage. Dazu sagt sicherlich der Kollege Baasch noch mehr. Schließlich versteht er als Sozialpolitiker mehr davon als ich als Energiepolitiker.
Kommen wir zunächst einmal zu den Zahlen. Wir haben das für Schleswig-Holstein recherchiert. Das ist tatsächlich nicht einfach, weil dazu keine Statistik geführt wird. Man hört und liest immer wieder von Stromsperren. Wenn man aber bei der Verbraucherzentrale oder bei Schuldnerberatungen anfragt: Fehlanzeige. Auch die Landesregierung erhebt keine Zahlen. Die Versorger geben sehr unterschiedlich Auskunft und wissen oftmals selber nichts Genaues.
Letztlich wurden wir beim Monitoring-Bericht der Bundesnetzagentur fündig. Die Bundesnetzagentur erhebt bundesweit Daten zur Stromversorgung. Ich habe das einmal für Schleswig-Holstein auf der Basis der Einwohnerzahlen heruntergerechnet. Danach gibt es in Schleswig-Holstein jährlich 210.000 Androhungen einer Unterbrechung, also den dritten Mahnbrief. Bis dahin bleibt man höflich und droht nicht mit einer Unterbrechung. Hinzu kommen 42.000 Beauftragungen und - jetzt kommen wir zum harten Ergebnis - etwas mehr als 11.000 tatsächliche Stromsperren.
Das ist deutlich mehr, als ich erwartet habe. Das werden Sie sicherlich auch so empfinden. In Relation zu den Leistungsempfängern gesetzt wären etwa 4 % betroffen, wenn man von etwas mehr als zwei Personen pro Haushalt beziehungsweise Zähler ausgeht.
Bei all dieser Zahlenhexerei bleibt auf jeden Fall: Wir haben es mit einem relevanten Problem zu tun, meine Damen und Herren.
Kommen wir zu den Rechtsgrundlagen. Einschlägig ist die Stromgrundversorgungsverordnung. § 19 Absatz 2 regelt Unterbrechungen, die erst bei sehr nachhaltiger Säumnis vorgenommen werden dürfen. Es gibt mehrere Mahnungen, und die Abschaltungsandrohung beziehungsweise der Zahlungsrückstand muss 100 € dauerhaft überschreiten. Die Sperre muss auch zwei oder vier Wochen vorher angekündigt werden, bevor sie vollzogen werden kann. Der Gesetzgeber macht es also dem Versorger nicht einfach. Weil die Folgen der Stromsperre so gravierend sind, setzt der Verordnungsgeber da sehr hohe Hürden.
Das Land hat keine direkten Einwirkungsmöglichkeiten. Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz. Die Länder können trotzdem viel tun. NordrheinWestfalen macht da eine ganze Menge, zum Beispiel mit dem Wuppertaler Modell. NordrheinWestfalen plant für November einen Fachkongress für Energiearmut 2015.
Wir schlagen als Einstieg einen Runden Tisch vor, zu dem die relevanten Akteurinnen und Akteure eingeladen werden. Wir haben auch mit den Verbänden im Vorlauf zu unserem Antrag Gespräche geführt. Daraus habe ich zwei Eindrücke gewonnen.