Protokoll der Sitzung vom 15.11.2017

(Unterbrechung: 13:08 bis 15:02 Uhr)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen fortfahren. Die Sitzung ist wieder eröffnet. Zu Beginn begrüßen wir auf der Besuchertribüne des Schleswig-Holsteinischen Landtages die „Basis der Selbstständigen“ aus Neumünster, den Kulturkreis der Volkshochschule Laboe und den CDU-Ortsverband Bad Malente. - Herzlich willkommen hier im Schleswig-Holsteinischen Landtag!

(Beifall)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:

Sektorengrenzen öffnen Notfallambulanzen entlasten

Antrag der Fraktionen von CDU, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und FDP Drucksache 19/314

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Herr Abgeordnete Dennys Bornhöft.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der vorliegenden Drucksache möchten wir eines der drängendsten Problemfelder im Gesundheitssektor angehen: Die recht starre Unterteilung in ambulante und stationäre Notfallversorgung ist nicht mehr zeitgemäß. Unser Ziel ist es, die zunehmende Belastung der Notfallambulanzen abzubauen und die Notfallversorgung im Land optimal und effektiv abzusichern. Notfallambulanzen sind schon von ihrem Namen her für die Behandlung von Notfällen gedacht. In den letzten Jahren hat sich ein Trend deutlich verstetigt und verstärkt, der zu einem steigenden Anfall von Hilfegesuchen bei den Notfallambulanzen geführt hat, insbesondere von solchen Fällen, die im Endeffekt doch keine Notfälle gewesen sind.

Dies führt zu einer Belastung der personellen und finanziellen Ressourcen der Ambulanzen, welche ja für Notfälle vorgehalten werden. Jährlich kommen

(Minister Dr. Robert Habeck)

in Deutschland rund 25 Millionen Menschen in die Notaufnahmen der Krankenhäuser. Hiervon wurden 11 Millionen Menschen ambulant behandelt. Vor einem guten Jahrzehnt war die Fallzahl nur halb so hoch. Es gibt kein Anzeichen, dass diese steigende Tendenz gebrochen wird.

Wie kommt es nun dazu, dass diese Zahlen ansteigen? Wird unsere Bevölkerung häufiger krank, oder verunfallen wir häufiger? - Die Gründe liegen eher an anderer Stelle. Zum einen können Patienten naturgemäß nicht immer abschätzen, ob ein Notfall vorliegt. Zum anderen ist die Kenntnis über den Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung nicht besonders weit verbreitet. Hierfür sprechen auch Nachbefragungen von Patienten, die angeben, erst nach ihrem eigenen Feierabend zu einer ärztlichen Untersuchung gehen zu wollen und sich nicht während der regulären Praxisöffnungszeiten - und somit meist während der eigenen Arbeitszeit - hierfür extra frei nehmen zu wollen. Vielfach mag auch der Glaube an eine bessere und gründlichere Behandlung im Krankenhaus verbreitet sein.

Die jetzigen Regelungen zum ambulanten Notfalldienst werden von den Patienten als unübersichtlich wahrgenommen: Wann ist wer zuständig? Wen muss ich kontaktieren? - Diese Fragen umgehen viele einfach durch den direkten Gang ins Krankenhaus.

Wir möchten die Sektorengrenzen öffnen. Die Kooperation und Verzahnung der Notfallbehandlungsmöglichkeiten soll ausgebaut werden. Der Notdienst der Kassenärztlichen Vereinigung und die Notfallambulanzen der Krankenhäuser arbeiten derzeit häufig parallel oder aneinander vorbei. Mit der Einrichtung von Portalpraxen können Klinikambulanz, ärztlicher Bereitschaftsdienst und Rettungsdienst besser miteinander verzahnt werden. Hierfür ist eine mögliche Öffnung der Anlaufpraxen auch während regulärer vertragsärztlicher Arbeitszeit unerlässlich. Durch die Strukturen, die wir jetzt aufbauen wollen, schaffen wir eine zentrale Anlaufstelle für Patienten, die eigenständig Hilfe aufsuchen. Bei dieser wird über Zuständigkeit und Dringlichkeit entschieden, also auch darüber, ob eine stationäre oder eine ambulante Behandlung erfolgen soll.

Noch besser ist es aber, wenn der Patient, bevor er sich gegebenenfalls zur Notfallambulanz oder zum integrierten Notfallzentrum aufmacht, zugeordnet werden kann und gleich beim richtigen Ansprechpartner landet. Um für die Patienten eine möglichst komfortable und frühzeitige Sortierung in Bezug auf die Fragen, ob es sich um einen akuten Notfall

handelt und wo man überhaupt behandelt wird, zu ermöglichen, wäre eine Triagierung, eine Sortierung, direkt am Telefon - also bei 112 beziehungsweise 116117 - ein effektiver Weg. Der außerhalb der Geschäftszeiten erreichbare kassenärztliche Bereitschaftsdienst - das ist diese Telefonnummer, die 116117 - ist trotz wiederkehrender Werbemaßnahmen kaum bekannt. Eine Vernetzung beider Systeme könnte hier schneller zum Ziel führen. Wir setzen uns dafür ein, dass diesbezüglich in Schleswig-Holstein ein Modellprojekt gestartet wird.

Mit unserem Antrag stärken wir die Effizienz des Gesundheitswesens. Wir gehen dabei lösungsorientiert vor und schaffen eine hohe Akzeptanz bei Patientinnen und Patienten und vor allen Dingen bessere Arbeitsbedingungen für unser medizinisches Personal. Das ist uns sehr wichtig.

(Beifall FDP, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Abschließend bitte ich um Abstimmung in der Sache. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall FDP, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die SPD-Fraktion hat Frau Abgeordnete Birte Pauls das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn der Schnupfen zum Arzt geht - beziehungsweise in die Ambulanz -, sind die Resultate überfüllte Ambulanzen, genervte Patienten und lange Wartezeiten für den wirklichen Notfall. Überarbeitetes Klinikpersonal sowie eine immense Kostensteigerung sind die weiteren Folgen.

Es gibt in der Notfallversorgung drei voneinander getrennte Bereiche: ärztlichen Bereitschaftsdienst, Notaufnahme und Rettungsdienst. Während der allgemeinen Öffnungszeiten steht zudem der Hausarzt selbstverständlich zur Verfügung. Immer mehr Menschen - der Kollege hat es eben schon gesagt wollen aber nicht auf einen Termin beim Hausarzt warten, auch dann nicht, wenn die Beschwerden in keiner Weise einer Notfallbehandlung bedürfen. Die Zahl der Patienten in den Notfallambulanzen ist in den letzten Jahren um 143 % gestiegen. Dies spricht Bände.

(Dennys Bornhöft)

Viele, besonders ältere Menschen sind einsam und allein zu Hause. Sie können eventuell Symptome nicht gut einschätzen, bekommen Angst, rufen die 112 und damit auch den Krankenwagen. Daraus kann man diesen Menschen keinen Vorwurf machen, und das wollen wir auch nicht tun.

(Beifall Dr. Ralf Stegner [SPD])

Andere aber rufen die 112 aus einer Pizza-Lieferdienst-Mentalität heraus an in der Hoffnung, lange Wartezeiten zu umgehen. Das ist extrem zu kritisieren, denn die anlasslose Anforderung eines RTW kann für einen wirklichen Notfall gefährlich werden. Die Zahl der sogenannten Servicefahrten, also Rettungseinsätze ohne Krankentransport, ist in den letzten Jahren um 134 % gestiegen.

Die Notfallversorgung im Krankenhaus ist in der Tat ein wichtiges und wachsendes Thema der Gesundheitsversorgung in Schleswig-Holstein. Die Kliniken und Kassenärzte sind sich wegen der Notfallversorgung nicht einig, die Sektorengrenzen sind nicht klar definiert, und durch die hochqualifizierte Notfallversorgung, die aber oftmals gar nicht nötig ist, werden Gelder in Milliardenhöhe verschwendet.

Wenn wir die Sektorengrenzen überwinden wollen - das wollen wir -, muss das mit allen Akteuren gut abgestimmt, logisch und gründlich passieren und nicht im Schnellschuss allein mit Öffnungszeiten oder regionalen Konzepten. Eine umfassende Lösung ist dringend geboten, aber dafür reichen Öffnungszeiten, von denen wir gar nicht wissen, wie wir sie angesichts des Fachkräftemangels besetzen sollen, bei Weitem nicht aus.

Der Sachverständigenrat Gesundheit hat ein Gutachten mit dem Titel ,,Bedarfsgerechte Steuerung des Angebots und der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen“ in Arbeit, das im Frühjahr 2018 vorgestellt werden soll. In einem Werkstattgespräch wurden im September sehr interessante Zwischenergebnisse präsentiert und diskutiert, die wir in unsere Überlegungen einfließen lassen und nicht ignorieren sollten.

Das fängt schon bei der ersten Kontaktaufnahme an. Die Notfallrufnummer des Kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes 116117 ist größtenteils unbekannt, die 112 hingegen lernt man bereits in der Schule. Eine einheitliche Nummer und eine erste standardisierte Befragung und Beratung am Telefon durch speziell geschultes Personal wie zum Beispiel in anderen europäischen Ländern könnte helfen, den ratsuchenden Menschen zu beruhigen, die Dringlichkeit einer Notfallbehandlung einzuschät

zen und die entsprechenden Schritte einzuleiten. Unsere Notfallambulanzen brauchen in der Tat ein neues System. Die Steuerung von Patienten à la Triage ist vielleicht sinnvoll, darf aber nicht zum Aussortieren von Patienten je nach Kassen- oder Organisationslage führen.

Ein anderer Aspekt ist die Ausbildung der Ärzte. Einen Facharzt für Notfallmedizin gibt es zwar in anderen Ländern, aber leider nicht in Deutschland. Das könnte die Situation in den Ambulanzen ebenfalls entschärfen. Auch andere Ideen gibt es bereits: Vielleicht kommen wir auch auf die gute alte Poliklinik zurück.

Die Ausweitung der Sprechzeiten niedergelassener Ärzte könnte gefördert werden, mobile Angebote sind in der Erprobungsphase. Samstagsund Abendsprechstunden könnten bei den Vertragsärzten vermehrt angeboten werden. Gezielte Information und mehrsprachige Aufklärung über das System der Notfallversorgung sind notwendig. Und ganz sicher werden E-Health-Angebote einige Lücken schließen können.

Bei allen unseren politischen Überlegungen muss allerdings der Mensch im Mittelpunkt stehen. Selbstverständlich darf es ausschließlich darum gehen, die notwenige Behandlung zur richtigen Zeit zu organisieren. Das muss bei allen Überlegungen und neuen Wegen das Ziel sein.

(Beifall SPD)

Kassenärzte, Krankenhausträger, Notfallrettung und am Ende auch die Kassen selbst sowie weitere Akteure im System müssen finanziell in die Lage versetzt werden, diese Leistung zu erbringen.

Deswegen plädieren wir dafür, diese vielen Aspekte im Ausschuss sehr gründlich zu besprechen. Dafür sollten wir das Gutachten des Sachverständigenrates abwarten, uns mit dem Projekt des aQua-Instituts beschäftigen sowie das neue Notfallkonzept des Gemeinsamen Bundesausschusses ansehen und vor allem die Akteure einladen, um das Richtige zu vereinbaren und erfolgreich zu beschließen.

Frau Kollegin, behalten Sie bitte die Zeit im Auge!

Ich komme zum Schluss. - Wir wollen keinen Änderungsantrag, sondern möchten das im Ausschuss sachorientiert mit Ihnen diskutieren. Wir sind dazu bereit, die Notfallversorgung in Schleswig-Holstein

(Birte Pauls)

neu zu gestalten. Daran werden wir gern mitarbeiten, aber das vorgelegte Konzept springt uns zu kurz. - Vielen Dank.

(Beifall SPD)

Für die CDU-Fraktion hat Herr Abgeordneter Hans Hinrich Neve das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Notaufnahmen am Limit“ - das war der Titel der Sendung, die wir am Montag in der Dokumentationsreihe „45 Minuten“ im Dritten Programm des NDR sehen konnten. Wir haben erfahren, wie dramatisch die Situation ist, nicht nur hier in Schleswig-Holstein, sondern auch in anderen Bundesländern, beispielsweise in Hamburg.

Drei zentrale Punkte werden in dieser Diskussion immer wieder genannt: Erstens sind die Notfallambulanzen überfüllt, zweitens haben Patienten lange Wartezeiten - das können nicht selten vier oder fünf Stunden sein -, drittens sind schätzungsweise 30 % der Patienten nach Expertenmeinung keine akuten Notfälle.

Dieser Zustand belastet sowohl das medizinische Personal als auch die Patientinnen und Patienten. Das darf so nicht bleiben. Es gibt in Schleswig-Holstein bereits gute Ansätze, bei denen mit den niedergelassenen Ärzten an den Krankenhäusern gemeinsame Notfallkonzepte erarbeitet wurden und eine enge Zusammenarbeit stattfindet. Das Problem aber bleibt: Die sogenannten Anlaufpraxen dürfen nur außerhalb der Öffnungszeiten der niedergelassenen Ärzte Patienten aufnehmen. Diese gesetzliche Hürde liegt im SGB V begründet und kann nur auf Bundesebene geändert werden.

Wir als Jamaika-Koalition gehen dieses Problem an und wollen mit diesem Antrag darauf hinwirken, dass eine Öffnung des Kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes auch während der Öffnungszeiten der Praxen möglich wird - zur Entlastung unserer Notfallambulanzen.

Denn im Notfall kümmern sich die Bürgerinnen und Bürger nicht um Öffnungszeiten. Wenn ich in einer Notsituation bin, dann gehe ich dorthin, wo man mir an sieben Tagen in der Woche, 24 Stunden am Tag hilft und wo ich diese Hilfe auch erwarten kann. Das finde ich in den Krankenhäusern hier in unserem Land.

Unser Ziel ist es, den Regelbetrieb von Anlaufoder Portalpraxen in Krankenhäusern auch während der vertragsärztlichen Sprechstundenzeit zu ermöglichen. Parallel zu dieser Öffnung, muss aber ein weiterer Schritt erfolgen - alles unter dem Tenor einer stärkeren intersektoralen Zusammenarbeit. Integrierte Notfallzentren mit vorgelagerten Triage-Zonen sind hier Stichworte.

Wir können dem Patienten, wenn er im Krankenhaus ankommt, nicht von einem Tresen zum nächsten schicken, sodass er zum Schluss überhaupt nicht mehr weiß, wohin er gehen soll. Hier muss es also eine vorgelagerte Triage-Zone geben, in der kompetent beraten werden kann.