Protokoll der Sitzung vom 15.05.2019

(Zurufe SPD: Oh!)

Noch einmal: Niemand von uns hat etwas gegen Verkehrssicherheit. Niemand von uns ist dagegen, die Klimaziele erreichen zu wollen.

(Zurufe SPD: Doch!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kollegen, das ist eine Maßnahme, die abgeschlossen ist.

Herr Dr. Stegner, wir können ja gemeinsam hinfahren. Wenn Sie nicht mit mir oder mit dem Ministerpräsidenten nach Berlin fahren wollen, können wir dennoch gemeinsam hingehen und sagen: Lieber Herr Scheuer, sorgen Sie dafür, dass das Tempolimit auf der A 7 kommt! Dann werden die privaten Investoren sagen: Dann wollen wir das Geld zurück haben.

Das sind Fakten, und Fakten müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Deshalb noch einmal: Auf der A 7 ist das das ungeeignete Instrument.

Niemand von uns hat etwas gegen Klimaschutz. Niemand von uns hat etwas gegen mehr Verkehrssicherheit. Für alle diese Maßnahmen treten wir ein. Nur an dieser Stelle ist das nicht der richtige Weg. Ihr Ansatz, hierdurch einen Konflikt in die Koalition hineinzubringen, ist Ihnen nicht gelungen, weder in Ihrer Rede noch in dem Antrag. Ich weiß, dass

wir mit den Grünen und der FDP gemeinsam in die gleiche Richtung denken. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat der Abgeordnete Dr. Andreas Tietze.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Tempolimit ist nicht neu. Seit ich in diesem Hause bin - immerhin auch schon zehn Jahre -, kommt es immer wieder hoch. Sie können einen Grünen von Freiburg bis Flensburg anrufen. Wenn er zu dem Thema befragt wird, ist er für ein Tempolimit. Das ist in unseren Grundfesten und unseren Überzeugungen verankert. Aber bisher war es so, dass uns immer der Vorwurf gemacht wurde: Ihr seid eine Verbotspartei, ihr seid nicht die Mehrheit.

Meine Damen und Herren, da kippt etwas in der Gesellschaft. Das ist zum ersten Mal so. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Sie das zum Thema der Aktuellen Stunde gemacht haben. Es ist kein Thema, das sich eignet, Herr Dr. Stegner, hier einen Keil in die Koalition zu treiben, sondern es ist eines, worüber wir gemeinsam eine Diskussion führen müssen - auch angesichts der jungen Generation, die uns jeden Freitag fragt: Was tut ihr eigentlich konkret und nicht in der Theorie, um das Klima zu schützen?

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

In dieser Debatte - nur darum geht es - sollten wir alle vorsichtig sein, Vorwürfe zu machen. Wir alle haben bei diesem Thema auch eine eigene Geschichte. Dazu komme ich gleich.

Herr Stegner, Sie haben im Prinzip sachlich die Punkte genannt, die man fachlich nennen muss, nämlich zum einen: weniger schwere Unfälle. Das, mehr Sicherheit, ist unbestritten von allen Verkehrsexperten vom Deutschen Verkehrsrechtstag eindeutig belegt worden. Das ist ja auch klar. Schnelleres Fahren ist ein größeres Unfallrisiko. Das wird niemand in diesem Haus bezweifeln. Es ist ebenfalls so, dass in verschiedenen mathematischen Simulationen festgestellt wurde, dass der bessere Verkehrsfluss tatsächlich zu besseren Ergebnissen führt,

(Hans-Jörn Arp)

meine Damen und Herren. Wenn Sie eine Strecke von 100 km von Kiel nach Hamburg fahren - nehmen wir einmal diese Strecke -, sparen Sie 13 Minuten, wenn Sie 180 km/h statt 130 km/h fahren. 13 Minuten sind der verkehrliche Gewinn. Da sollten wir uns alle einmal fragen, was uns diese 13 Minuten wert sind. Meine Damen und Herren, es ist auch - das wurde von Herrn Dr. Stegner genannt - ein Beitrag zum Klimaschutz. Dazu komme ich noch.

Lassen Sie mich zu diesen drei Punkten noch etwas tiefer argumentieren. Das Grundgesetz kennt die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, aber das Grundgesetz kennt keine „Raserfreiheit“. In § 1 des Grundgesetzes steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. - Meine Damen und Herren, wenn wir manchmal auf den Autobahnen unterwegs sind, haben wir das Gefühl, dass die Würde auf deutschen Autobahnen nicht sehr hochgehalten wird: Rasen, Drängeln, Lichthupe. Auch Verkehrspsychologen stellen eine zunehmende Aggressivität auf deutschen Autobahnen fest.

Wir alle haben das schon erlebt: Wenn jemand mit Tempo 200 oder 220 von hinten kommt und Sie gerade mit 120 km/h oder 130 km/h einen Lkw überholen, erlebt man, dass da jemand mit Lichthupe angerauscht kommt und nah auffährt. Eine der größten und schwersten Unfallursachen ist übrigens der fehlende Abstand. Trotz aller modernen Systeme sind wir da nicht in der Lage zu reagieren. Das ist eine Geschwindigkeit, die nur schwer zu beherrschen ist.

Deshalb ist es so: Mit einem Tempolimit gäbe es 26 % weniger tödliche Unfälle und 17 % weniger Schwerverletzte. 2018 gab es in Deutschland 21.000 Unfälle mit 400 Toten. Das ist erst einmal ein Fakt, an dem wir nicht herumkommen.

Wenn wir uns einmal mit Verkehrspsychologie beschäftigen - auch das habe ich getan -, kann man es auf den Punkt bringen: Rasen ist männlich. Wenn Sie sehen, wer in den Medizinisch-Psychologischen Untersuchungen sitzt, erkennen Sie, es sind zu 98 % die Männer, die Jungs.

(Zurufe)

Man schaut dann noch auf das Bild des neuen ADAC-Vorstands und sagt: Na ja, da ist tatsächlich etwas dran, wenn der ADAC von Rasen und Freiheit auf den Straßen spricht. Herr Dr. Stegner, Sie haben es ja angesprochen: Diese Gruppe - ich bin ja auch schon 50 plus - ist nicht die Lösung, sondern auch das Problem.

(Zuruf Birgit Herdejürgen [SPD])

Eine weitere Erkenntnis der Psychologie ist: Wir sind eine Gesellschaft, in der Warten und Langsamkeit nicht toleriert werden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen persönlichem Stress, Frustrationen und aufgestauter Aggressivität. Und wo entlädt sich diese Aggressivität heute in Deutschland? Auf deutschen Autobahnen.

Glücksgefühle wie Freiheit und Spaß werden häufig mit dem schnellen Fahren verbunden. Das mag ja sein. Diese Glücksgefühle aber auf Kosten der Natur und Menschenleben erleben zu wollen - da gibt es tatsächlich Grenzen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Wenn meine Generation sich wirklich hinstellt und erklärt: „freie Fahrt für freie Bürger“, komme ich mir wie aus der Zeit gefallen vor. Ich kann das meinen Kindern und Enkelkindern nicht erklären. Ich habe zu Hause am Frühstückstisch scharfe Kritiker, und wenn ich solche Dinge erzähle, wie wir vielleicht als Jugendliche mal mit offenem Cabrio gefahren sind, rede ich mich um Kopf und Kragen.

(Zuruf Lars Harms [SSW] - Unruhe)

Eine junge Generation toleriert diese Argumentation nicht mehr, auch angesichts der veränderten Situation des Klimas, denn Greta Thunberg und andere halten uns zu Recht den Spiegel vor und fragen: Was tut ihr konkret? - Da können wir uns nicht herausreden.

(Zuruf Martin Habersaat [SPD])

Lassen Sie mich noch zu einem anderen Aspekt kommen: Wir stehen kurz vor der Europawahl. Sind denn die Franzosen weniger freiheitsliebend? Sind die Italiener, die Dänen oder die Schweden weniger freiheitsliebend als die Deutschen? - Nein! Es gibt in Frankreich ein Tempolimit von 130 km/h, in Belgien von 120 km/h und in Spanien von 130 km/h. Es ist der Normalfall in der europäischen Familie, dass wir ein Tempolimit haben.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Wir regeln in Europa die Krümmung der Gurke bis in den Millimeterbereich hinein.

(Zuruf Martin Habersaat [SPD])

Wir sind aber nicht in der Lage, bei dem für Europa wichtigsten Thema - Klimaschutz, Verkehrssicherheit und Verkehrsfluss - zu sagen: Wir gehören zur europäischen Familie. Deswegen gibt es hier auch

(Dr. Andreas Tietze)

einen europapolitischen Aspekt. Die Grünen sind eine Europapartei: Tempolimit ist europäisch. Deshalb sagen wir wenige Tage vor der Europawahl, dass das Tempolimit in ganz Europa eingeführt und der deutsche Sonderweg endlich beendet werden muss.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Kai Vogel [SPD])

Man kann dabei auch gewinnen: Reisen statt Rasen, mehr Sicherheit, weniger Stress. Das sind Themen, denen wir uns auch in der Altersstufe 50 plus einmal öffnen können und sollten, denn auch wir sind Vorbild für die nächste Generation. Der Klimaschutz ist bereits erwähnt worden, Herr Dr. Stegner. 163 Millionen t Treibhausgase heizen dem Klima ein. Wir erleben in allen Diskussionen: Das Hauptproblem in Deutschland ist der Verkehr. Wir verteidigen es bis an die Zähne, wenn es um Themen wie das Tempolimit geht. Wir müssen aber endlich den Weg freimachen. Tempo 30 würde 3 Millionen t CO2 ohne Aufwand und Kosten -

(Zurufe CDU, FDP und SSW - Unruhe)

Deshalb brauchen wir das.

(Anhaltende Unruhe)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Können wir jetzt bitte wieder dem Redner lauschen? Ich glaube, jeder hat gemerkt, das Tempo 130 gemeint war. Es war ein Versprecher.

(Dr. Frank Brodehl [AfD]: Ein freudscher Versprecher!)

Vielen Dank, Herr Präsident. Es war in der Tat ein Versprecher.

(Zurufe)

Meine Damen und Herren, noch einmal: Die Stimmung in der Bevölkerung kippt. 63 % der Deutschen wollen ein Tempolimit. Wenn man es in der Befragung nach Männern und Frauen unterscheidet, stellt man fest, dass es 75 % der Frauen und 46 % der Männer sind. Es ist aber so: Wir haben in Deutschland eine Mehrheit, die ein Tempolimit einführen will. Insofern sage ich ganz deutlich: Es ist kein Nischenthema mehr. Herr Dr. Stegner, Sie regieren in Berlin mit. Dass Sie als SPD sich des Themas Tempolimit annehmen, finde ich gut und richtig. Man muss aber auch feststellen, dass die Grü

nen vor nicht allzu langer Zeit in einer Küstenkoalition regiert haben, da war ein Tempolimit von 130 km/h als Prüfauftrag festgelegt, und wir haben gemerkt, wie schwer es ist, sich auch gegenüber Sozialdemokraten mit dem Anliegen eines Tempolimits durchzusetzen.

(Zurufe CDU und FDP: Oh!)

Das ist ein dickes Brett, das wir hier durchbohren müssen.