Protokoll der Sitzung vom 24.09.2020

Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der Debatte aufmerksam zugehört und möchte auch diesen historischen Moment würdigen. Für mich war das meine erste politische Erinnerung, als damals die Mauer fiel. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass meine Mutter in der Küche saß und weinte. Als ich als kleiner Junge nicht verstand, was überhaupt passiert war, berichtete mir meine Mutter, das seien Tränen der Freude. Das ist meine erste politische Erinnerung.

Lasse Petersdotter hat einmal den Schleswig-Holstein-Tag der Jungen Union besucht, als wir ein Jubiläum gefeiert haben, das mich in meinem politischen Leben stark geprägt hat.

(Zurufe)

- Damit wollte ich ausdrücken, dass auch eine Junge Union, die CDU, jeder für sich dieses historische Ereignis in der Partei verankert hat.

Man muss aber auch ansprechen, dass wir 30 Jahre nach der Einheit nach wie vor große Herausforderungen haben. Hier wird immer auf die AfD geguckt; guckt man doch einmal in die Landtagsparlamente im Osten: Dort gibt es Parlamente, in denen AfD und Linkspartei zusammen die Mehrheit haben. Die politischen Verhältnisse sind in Ostdeutschland anders als in Westdeutschland. Da stellt sich die Frage: Haben diese Menschen kein Vertrauen zu Parteien, die im Wesentlichen in Westdeutschland in der Geschichte gewirkt haben?

Zum Thema gleichwertige Lebensverhältnisse: Ich habe mich diese Woche mit jemandem aus Mecklenburg-Vorpommern getroffen, der in SchleswigHolstein Arbeit gefunden hat. Der hat mir berichtet, dass aus dem Landstrich, aus dem er kommt, viele Menschen in den Westen gehen, weil sie im ländlichen Raum in Mecklenburg-Vorpommern oder woanders im Osten keine Perspektive haben.

Es gilt, 30 Jahre Einheit zu feiern, aber wir müssen auch anerkennen, dass wir noch sehr viel zu tun haben und die Einheit mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen ist. Ich finde es wichtig, das in dieser Debatte gesagt zu haben. - Danke sehr.

Für die Landesregierung hat die Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Karin Prien, das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir vielleicht zu Beginn, liebe Frau Metzner, Ihnen für Ihre sehr berührende Darstellung Ihres Erlebens zu danken, die mich sehr bewegt hat.

Ziemlich genau, vor einem Jahr am 26. September 2019, gab es schon einmal eine Debatte zu 30 Jahren Mauerfall. Dort wurden emotionale Erinnerungen an den 9. November 1989 geteilt. Vor allem waren wir alle voller Vorfreude auf das große Bürgerfest in Kiel zum Tag der Deutschen Einheit.

Heute, ein Jahr später, ist alles ein bisschen anders. In Potsdam wird es keine feiernde Menschenmenge auf der Ländermeile geben, dafür Abstands- und Hygieneregeln, die ein gemeinsames Feiern nur auf Distanz zulassen. Das ist schade. Aber diese Ruhe darauf ist verschiedentlich hingewiesen worden gibt uns auch die Möglichkeit, ein Stück weit innezuhalten und mit etwas Abstand auf die letzten 30 Jahre zu blicken.

Die Wiedervereinigung ist und bleibt ein doppelter Glücksfall - Herr Stegner hat es ausgeführt -, ein Glücksfall übrigens, für den es keine Blaupause gab. Jeder Schritt wurde zum ersten Mal getan, gemeinsam von Menschen, die zum Teil stark verunsichert und in ganz unterschiedlichen Systemen aufgewachsen waren.

Seitdem haben die Menschen in unserem Land Unglaubliches geleistet. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, denn wir neigen ja als Deutsche besonders dazu, im Alltag vor allem den Blick auf die Defizite zu lenken. Dabei zeigt die Lebensrealität in Deutschland, dass die Unterschiede zwischen Ost und West - und das ist erfreulich zunehmend verblassen. Zu diesem Schluss kommt auch die Studie „30 Jahre Deutsche Einheit & Vielfalt“ des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, die am Dienstag vorgestellt wurde. Demografisch und wirtschaftlich von Osten und Westen zu sprechen, sei nach den Ergebnissen der Studie kaum noch sinnvoll. Hinter diesem Satz aber, der sich so einfach spricht, stecken viel Arbeit und eben auch persönliche Schicksale. Deshalb gelten unsere Anerkennung und unser Respekt den Menschen im Osten unseres Landes, die sich in einer friedlichen Revolution mutig gegen die DDR-Diktatur auflehnten und die Mauer zu Fall brachten.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Sie waren voller Hoffnung, ein Leben in Frieden, in Freiheit und Selbstbestimmung führen zu können, mussten aber dann - auch darauf ist hingewiesen worden - im wiedervereinten Deutschland miterleben, wie Tausende von Betrieben abgewickelt wurden und Millionen von Menschen nicht nur ihre Arbeit, sondern eben auch ihr Selbstverständnis mancher seine Identität, zumindest aber das Lebenswerk - infrage gestellt sahen. Manche Erwartungshaltung wurde nach der Wiedervereinigung enttäuscht. Für einige blieb das zuweilen vielleicht nüchterne und pragmatische westdeutsche Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis und die weltanschauliche Zurückhaltung fremd. Viele mussten sich erst einmal zurechtfinden in einem Lebensalltag, der sich völlig verändert hatte. Der 1979 in der damaligen DDR geborene Journalist und Schriftsteller Christian Fuchs hat über diese Zeit einmal gesagt:

„Man musste in den 90er-Jahren immer wieder von vorne anfangen und nichts war mehr sicher.“

Diese Erfahrung prägt.

(Tobias von der Heide)

Und doch haben die Menschen in MecklenburgVorpommern, in Brandenburg, in Berlin, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und in Sachsen eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen: Wohlstand an vielen Stellen, wiederaufgebaute Städte und gerade in Sachsen und Thüringen zum Beispiel ein beeindruckendes Schulsystem mit guten Erfolgen im nationalen und internationalen Vergleich, außerdem in diesem Jahr preisgekrönte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter der diesjährige Träger des Preises der Leipziger Buchmesse, Lutz Seiler, der in seinem Roman „Stern 111“ eine berührende Geschichte der unmittelbaren Nachwendezeit erzählt. Nicht zuletzt haben wir seit 15 Jahren eine überaus erfolgreiche und international geschätzte gesamtdeutsche Bundeskanzlerin aus MecklenburgVorpommern.

Aber auch das ist gesagt worden: Unsere Anerkennung gilt heute auch den Menschen in Westdeutschland. Sie haben den Erfolg der Wiedervereinigung nicht nur finanziell, sondern auch politisch ermöglicht und in den Jahren davor das Vertrauen - auch darauf wurde hingewiesen - unserer europäischen und transatlantischen Partner gewonnen. Die Entspannungspolitik wurde zu Recht angesprochen. Und sie haben auch nach der Wende - darauf will ich ausdrücklich hinweisen - Strukturen in Verwaltung, Wissenschaft, Schulen und Kultur mit geprägt und aufgebaut.

Dabei - ja - wurde nicht immer der richtige Ton getroffen, das muss man deutlich sagen. Und ja, ich teile ausdrücklich die Einschätzung, dass zu wenige Ostdeutsche in Führungspositionen sind, und zwar übrigens nicht nur im Osten, sondern natürlich auch im Westen.

Richard von Weizsäcker hat anlässlich des Tages der Deutschen Einheit vor 30 Jahren als erster gesamtdeutscher Bundespräsident gesagt:

„Sich zu vereinen, heißt teilen zu lernen.“

Heute geht es auch darum, Wissen übereinander zu teilen. Schülerinnen und Schüler kennen die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 und die Zeit unmittelbar davor und danach nur aus Geschichtsbüchern, vielleicht aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Ich freue mich total, Herr Habersaat, dass Sie so viel Vertrauen haben, dass das, was in unseren Fachanforderungen steht, an allen unseren Schulen in der Praxis umgesetzt wird. Ich teile diese Einschätzung.

(Vereinzelter Beifall CDU, Beifall Beate Raudies [SPD], Dr. Ralf Stegner [SPD] und Ines Strehlau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN])

Aber ich will auch betonen: Natürlich gibt es fächerübergreifend alle möglichen Anknüpfungspunkte - immer übrigens in einem multiperspektivischen Kontext dargestellt. Die Vorstellung vom Unterricht, der so etwas wie eine Jubelveranstaltung wäre, ist, glaube ich, sehr veraltet. Ja, da geht es natürlich darum, einmal die Bürgerrechtsbewegung im Kontext der Bewertung sozialer Bewegungen darzustellen. Da geht es darum, die Frage zu klären: War die DDR ein Unrechtsstaat? - Natürlich ist das auch immer Gegenstand von kontroversen Debatten an Schulen.

Ich glaube aber, besonders wichtig ist, dass sich junge Menschen auch begegnen und dass wir Räume schaffen, in denen sich junge Menschen aus Schleswig-Holstein mit jungen Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern oder aus Brandenburg treffen. Das ist wichtig. Davon brauchen wir noch mehr. Das ist auch das, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, dass wir jetzt in die Zukunft schauen müssen.

Dieses Jahr hätten wir so gern so viel gemacht an dieser Stelle. Corona hat uns da ein bisschen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich freue mich aber, dass wir zumindest ein großes digitales Vernetzungsprojekt von Schülerinnen und Schülern aus Schleswig-Holstein und aus Mecklenburg-Vorpommern durchführen können. Was ist die Frage? Was machen wir in diesem digitalen Vernetzungsprojekt? - Es geht um die Frage: 30 Jahre Deutsche Einheit - was bedeutet das für mich?

Im Rahmen der Sommerakademie wurde im Kontext der Demokratiebildung die Frage gestellt: Was bedeutet für mich eigentlich Freiheit? - Darauf gibt es natürlich unterschiedliche und vielfältige Perspektiven. Eka von Kalben hat darauf hingewiesen.

Bei allen Projekten und Kooperationen - das ist mir jetzt das entscheidend Wichtige - geht es am Ende darum, Schülerinnen und Schüler überall in unserem Land diskursfähig zu machen. Das ist am Ende das Entscheidende, denn die Geschichte der Wiedervereinigung hat uns gelehrt, wie wichtig es ist, jungen Menschen Mut zu einer eigenen Meinung und zu einer gelingenden Debattenkultur zu vermitteln.

(Beifall CDU, AfD und vereinzelt SPD)

Erlauben Sie mir zum Schluss, die aus Brandenburg stammende FDP-Politikerin Linda Teuteberg zu zitieren, die gesagt hat, selbst im Parlament müsse sie

(Ministerin Karin Prien)

feststellen, dass es manchem Parlamentskollegen und mancher Parlamentskollegin mitunter an der Grundakzeptanz für Streit fehle. Ich glaube, das ist ein wichtiger Satz. Und auch Marco Wanderwitz als Ostbeauftragter der Bundesregierung hat noch einmal auf die Bedeutung der politischen Bildung und übrigens auch des Ehrenamtes hingewiesen.

Deshalb glaube ich, dass wir mit diesem Antrag zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit den richtigen Weg gehen, wenn wir die politisch-historische und die Demokratiebildung an unseren Schulen stärken. - Vielen Dank.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, SSW, Dr. Frank Brodehl [AfD] und Volker Schnurrbusch [AfD])

Die Ministerin hat die vereinbarte Redezeit um 3 Minuten überzogen. Diese Zeit steht jetzt allen Fraktionen zur Verfügung, aber ich sehe nicht, dass davon Gebrauch gemacht werden soll.

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung. Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag, Drucksache 19/2442, abstimmen. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Gibt es Enthaltungen? Das sehe ich nicht. Damit ist der Änderungsantrag Drucksache 19/2442 gegen die Stimmen der AfDFraktion und der Abgeordneten von Sayn-Wittgenstein abgelehnt.

Ich lasse dann über den Antrag, Drucksache 19/2436 (neu), abstimmen. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag Drucksache 19/2436 (neu) einstimmig angenommen.

Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir auf der Besuchertribüne des Schleswig-Holsteinischen Landtages Vertreterinnen und Vertreter der kommunalen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Fuß- und Radverkehrs in Schleswig-Holstein e. V. RAD.SH, und Vertreter und Vertreterinnen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs. - Herzlich willkommen im Schleswig-Holsteinischen Landtag!

(Beifall)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:

Umsetzung der Radstrategie Schleswig-Holstein 2030

Antrag der Fraktionen von CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP Drucksache 19/2432

Änderungsantrag der Abgeordneten des SSW Drucksache 19/2441

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Abgeordnete Kay Richert.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Damen und Herren! Man soll ja immer sparsam mit Theatralik sein. Ich glaube aber, in diesem Fall ist es nicht übertrieben, wenn ich sage: Mit der Radstrategie SchleswigHolstein 2030 ist uns ein ganz, ganz großer Wurf gelungen!

(Beifall FDP, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Christopher Vogt [FDP]: Wir drehen das große Rad!)

Eine intakte Infrastruktur gehört nämlich genauso zu einer generationengerechten Politik wie intakte Finanzen. Natürlich machen wir deswegen schon seit der Regierungsübernahme 2017 viel für den Radverkehr. Ich erinnere nur daran, dass wir mit den Landesstraßen auch die Radwege sanieren. Ich kann Ihnen sagen: Da gibt es einiges zu sanieren, wir haben die Landesstraßen und Radwege nämlich in einem erbärmlichen Zustand übernommen.

(Jette Waldinger-Thiering [SSW]: Uiuiuiui- ui!)

90 Millionen € investieren wir pro Jahr. Alle haben gesagt: Das schafft ihr doch nie! - Ich sage Ihnen heute: Schauen Sie sich um in Schleswig-Holstein, es geht voran. Wenn wir heute Behinderungen im Verkehr haben, dann wegen Baustellen, nicht wegen Schlaglöchern und Wurzelaufbrüchen. Wir beseitigen den jahrzehntelangen Sanierungsstau und hinterlassen kommenden Generationen eine intakte Wegeinfrastruktur.