Protokoll der Sitzung vom 19.03.2014

Ich habe es beispielsweise begrüßt, dass man auf europäischer Ebene zum ersten Mal nach den Reformen der letzten Jahre so etwas wie einen Bürgerentscheid auf den Weg gebracht hat. Nur, meine Damen und Herren, wenn es auf europäischer Ebene avisiert ist, dann wissen wir doch, wie unendlich schwer es ist, so etwas in Gang zu bringen. Wenn

wir es im Kleinen nicht anfangen, wo soll es dann irgendwann einmal erfolgreich praktiziert werden? Ich räume in allem Freimut ein, dass ich vor 30 Jahren eine ganz andere Rede hierzu gehalten hätte, aber es kann doch auch einmal sein, dass die Zeit vorangeschritten ist und wir andere Antworten brauchen.

Wir sind auf jeden Fall der Auffassung - und dies nicht nur begrenzt auf ein Thema -, dass wir bei sinkenden Wahlbeteiligungen, die mich erschrecken, und bei Entwicklungen der Kommunalwahlen wie demnächst in Frankreich, wo ich große Befürchtungen hinsichtlich des Ergebnisses habe, alle bemüht sein sollten, die Bürgerinnen und Bürger dort zu beteiligen, wo es einigermaßen vertretbar ist. Herr Kollege Pauluhn, man kann darüber diskutieren. Ihre Argumente nehme ich ernst. Man könnte aber zu dem Ergebnis kommen, dass der jetzige Zustand nicht ausreichend ist und dass es besser wäre, das Gesetz zu öffnen, um den Bürgerinnen und Bürgern einige zusätzliche Entscheidungen zu ermöglichen. Das ist unsere Position. Deshalb bitte ich noch einmal um Zustimmung zu unserem Gesetz.

(Beifall von der LINKEN.)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. - Das Wort hat nun die Ministerin für Inneres und Sport Monika Bachmann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf einmal bei dem anfangen, was Herr Lafontaine gesagt hat, dass es keine parteipolitische Maßnahme sei, dass man auf den Boden der Tatsachen zurückkommen solle und den Bürgerinnen und Bürgern gerecht werden solle.

Herr Lafontaine, wir reden ja nicht zum ersten Mal darüber. Wir haben 2011 darüber geredet, damals kam von der FDP den Vorschlag, im KSVG die Nummer 5 zu streichen. Hubert Ulrich hat gesagt, zum gleichen Zeitpunkt hätten in die GRÜNEN in der Landesregierung versucht, im KSVG die Nummer 6 zu streichen. Man ist sich nicht einig geworden, aber in einem war man sich einig: die Initiative nicht weiter zu verfolgen. Das muss doch Gründe gehabt haben! Sie stellen sich heute hierhin und verlangen von uns Antworten. Sie versuchen, junge Kollegen lächerlich zu machen, nach dem Motto „Irgendein Referent hat Ihnen eine Rede geschrieben“ - ja, wenn Sie es nach so viel Jahren nicht mehr könnten, Herr Lafontaine, wäre das bedauerlich,

(Vereinzelt Beifall bei den Regierungsfraktionen)

aber den jungen Kollegen darf man durchaus zubilligen, dass sie sich ihre eigenen Vermerke machen. Die Vermerke haben Ihre Leute auch gehabt. Wir haben nämlich eine Anfrage beantwortet. Schauen

(Abg. Lafontaine (DIE LINKE) )

Sie sich einmal die Landtagsdrucksache 15/512 an, das war die Anfrage von Frau Schramm und Herrn Georgi. Jetzt sagen Sie nicht, die ist auch nicht angekommen. Die liegt mir nämlich vor. Da ist zu allen fachlichen und rechtlichen Bedenken Stellung genommen. Kollege Gläser und andere Kollegen haben eben in aller Deutlichkeit dargestellt, dass man mit Gesetzen nicht einfach umgehen kann, wie man will. Man kann nicht einfach, wenn in der Nähe seines Wohnorts etwas gebaut wird, politisch so handeln, dass man den Leuten sagt: „Ich kümmere mich um dich!“ Alle, die hier sitzen, und die Landesregierung arbeiten für die Bürgerinnen und Bürger des Landes - und dies mit sehr viel Engagement, sehr intensiv und unter fachlichen Gesichtspunkten.

Ich könnte Ihnen 20 fachliche und rechtliche Argumente zu den Windkraftanlagen aufzählen, die Sie eben angesprochen haben. Ich will das nicht tun, weil wir das schriftlich beantwortet haben. Ich darf aber festhalten, dass man mit diesen Themenbereichen sehr ordentlich umgehen muss. Nach Ihrem Antrag wären anders als nach bisheriger Rechtslage Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in folgenden Bereichen möglich: Für Vorhaben, für deren Zulassung ein Planfeststellungsverfahren oder ein förmliches Verwaltungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich ist. Zweitens zum Beispiel für die Bauleitpläne, ihre Aufstellung, Änderung, Ergänzung und Aufhebung. - Diese Änderung ist teilweise rechtlich gar nicht möglich.

Sehr geehrter Herr Lafontaine, damit will ich es bewenden lassen. Zu allen fachlichen und rechtlichen Argumenten dagegen haben wir Stellung genommen, alle Argumente sind heute angesprochen worden. Sich dann am Schluss hier hinzustellen und populistisch den Lafontaine zu machen nach dem Motto „Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir sind für euch da, alle anderen treten euch mit Füßen“ ist unredlich, das macht man nicht. Das ist in meinen Augen unanständig.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen. - Zurufe von der LINKEN: Das hat doch keiner gesagt!)

Vielen Dank. - Das Wort hat nun der Fraktionsvorsitzende der SPD-Landtagsfraktion Stefan Pauluhn.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Kollege Lafontaine, es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass ich in der Debatte darauf hingewiesen habe, dass wir jetzt schon die größtmögliche Bürgerbeteiligung insbesondere im Bereich der Bauleitplanung, der Aufstellung von Bebauungsplänen und Flächennutzungsplänen haben und dass das ein sehr komplexes Feld ist. Wenn man Ihrer „Verhinderungsstrategie“ folgen würde, würden wir einen kom

plexen Abwägungsprozess von Für und Wider auch in der Bauleitplanung - es geht ja nicht immer nur darum, ob wir einen neuen Bebauungsplan aufstellen oder einen bestehenden aufheben, sondern in den allermeisten Fällen geht es um Veränderungen -, der mit größtmöglicher Bürgerbeteiligung verbunden ist, durch ein einfaches Ja oder Nein von Ihnen ersetzen. Das kann nicht im Sinne der Weiterentwicklung der Zukunftsfähigkeit dieses Landes sein. Das ist das Hauptargument, das dagegen spricht.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

Insofern finde ich das, was Sie so leicht dahingesagt haben, wer sich da was mit welchen Stichpunkten aufgeschrieben hat, auch ein bisschen unterirdisch. Das bräuchten Sie gar nicht. Es ist immer noch besser, sich drei Stichpunkte zu machen und sie hier vorzutragen, als morgens erst nach zehn zu kommen.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen. - Zurufe von der LINKEN und Sprechen.)

Herr Pauluhn, ich muss Ihnen mitteilen, dass Oskar Lafontaine heute Morgen entschuldigt war.

(Beifall der Abgeordneten Ensch-Engel (DIE LIN- KE). - Zurufe.)

Aus gegebenem Anlass weise ich darauf hin, dass Unmuts- oder Freudenbekundungen auf der Zuschauertribüne nicht erlaubt sind. - Weitere Wortmeldungen sind nicht eingegangen, ich schließe die Aussprache.

Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf zur weiteren Beratung an den Ausschuss für Inneres und Sport zu überweisen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer für die Annahme des Gesetzentwurfes Drucksache 15/818 in Erster Lesung unter gleichzeitiger Überweisung an den Ausschuss für Inneres und Sport ist, den bitte ich, eine Hand zu erheben. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Ich stelle fest, dass der Gesetzentwurf Drucksache 15/818 in Erster Lesung mit Stimmenmehrheit abgelehnt ist. Zugestimmt hat die Fraktion DIE LINKE, dagegen gestimmt haben die Koalitionsfraktionen, enthalten haben sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die PIRATEN.

Wir kommen zu Punkt 4 der Tagesordnung:

Erste Lesung des von der Regierung eingebrachten Gesetzes zur Änderung schulrechtlicher Gesetze 2014 (Drucksache 15/812)

Zur Begründung erteile ich Herrn Minister Ulrich Commerçon das Wort.

(Ministerin Bachmann)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute in Erster Lesung zu behandelnden Gesetzentwurf zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention befinden wir uns in der Mitte eines langen Weges hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf leistet einen wichtigen Beitrag zur Änderung unseres Blickwinkels auf den schulischen Alltag, aber auch im alltäglichen Leben. Wir schaffen für die Eltern ein echtes Wahlrecht und wenden uns ab von einer defizitorientierten Betrachtung hin zur Kompetenzorientierung. Eine Gesellschaft des Miteinanders frei von Ausgrenzung und Diskriminierung ist jedoch nicht nur eine Angelegenheit der Schule. Sie stellt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar. Inklusion, liebe Kolleginnen und Kollegen, beginnt in unseren Köpfen.

Am 23. April 1986, also vor mehr als einem Vierteljahrhundert, hat die saarländische Landesregierung unter Federführung des damaligen Bildungsministers Professor Diether Breitenbach das Gesetz zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des Schulrechtes in den Landtag des Saarlandes eingebracht. Am Ende des parlamentarischen Verfahrens standen die saarländischen Grundschulen erstmals grundsätzlich auch Kindern mit Behinderungen offen. Die Unterrichtung behinderter Kinder und Jugendlicher in Regelschulen konnte sich nun auf geltendes Recht stützen. Bundesweit galt dieses Gesetz als - ich zitiere aus dem Magazin DER SPIEGEL von damals, mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin - der „bislang umfassendste Versuch, behinderte Kinder zu integrieren“.

Wiederum nahezu eineinhalb Jahrzehnte zuvor, Anfang der Siebzigerjahre, befand sich die Bundesrepublik und mit ihr das Saarland in einer Zeit des bildungspolitischen Aufbruchs. Die konfessionellen Schulen beispielsweise waren zu gemeinsamen Einrichtungen umgewandelt worden. Es war der damalige und langjährige Kultusminister Werner Scherer, der mit seinen Vorstellungen von Bildung in Stufen der bildungspolitischen Debatte im Saarland einen Schub gab und damit einen Beitrag zu einer gesellschaftliche Debatte über die Zukunft des Bildungssystems leistete, die uns im Saarland bildungspolitisch nach vorne brachte.

An der Pädagogischen Hochschule des Saarlandes machten sich damals Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler sowie Fachdidaktiker auf den Weg, diesen eröffneten Rahmen konzeptionell auszufüllen. Es war Professor Alfred Sander, der ausgehend von dem Konzept einer integrativen Lehrerbildung, das Saarbrücker Modell auf den Weg brachte, das eine sonderpädagogische Grundausbildung für alle Lehramtsstudierenden und für die Studierenden der Grundschuldidaktik vorsah. In seinem Referat zu einer bundesweit beachteten

Jahrestagung der Dozenten an sonderpädagogischen Studienstätten im Oktober 1974 in Saarbrücken plädierte Sander dafür, sich mit dem Thema Sonderpädagogik in allgemeinen Schulen zu befassen, das seiner Auffassung nach damals nur appellativen Charakter hatte. Hinzu kamen Empfehlungen und Beschlüsse der Kultusministerkonferenz, der Bund-Länder-Konferenz für Bildungsplanung und des Deutschen Bildungsrates, die alle das Ziel verfolgten, die - ich zitiere - Förderung behinderter Schüler auch innerhalb des allgemeinen Bildungswesens voranzubringen.

Es dauerte dann erneut zehn Jahre bis 1986 im Saarland die gemeinsame Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern erstmals in Deutschland rechtlich verankert wurde. Im Schuljahr 1985/86 wurden drei Kinder mit Behinderungen an Regelschulen unterrichtet. Im Schuljahr 1986/87, zum Inkrafttreten des Gesetzes, waren es 20 Kinder. In den darauf folgenden zehn Jahren stieg die Anzahl der Integrationsmaßnahmen auf 602 im Schuljahr 1996/97. Die Integrationsquote betrug damals 16,5 Prozent. Heute, im Schuljahr 2013/14, werden insgesamt rund 3.000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an unseren Regelschulen unterrichtet. Die Integrationsquote beträgt jetzt 46,4 Prozent. An unseren Grundschulen liegt sie bereits deutlich über 60 Prozent.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit liegt das Saarland bundesweit an der Spitze. Diese Entwicklung verlief allerdings keineswegs, wie man vielleicht annehmen könnte, geradlinig nach oben. Es waren Rückschläge, ja auch Krisen zu verzeichnen. Ich glaube aber, wir können einvernehmlich feststellen, dass wir heute bereits sehr viel erreicht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

Alle Regierungen und die sie jeweils tragenden Fraktionen können zu Recht stolz sein auf das, was sie in der Verwirklichung des Ziels einer gemeinsamen Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen bis heute erreicht haben.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum zitiere ich heute, an diesem Tag, an dem wir in Erster Lesung den Gesetzentwurf zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im saarländischen Schulwesen behandeln, noch einmal die Entwicklung der letzten Jahrzehnte? Ganz einfach, mir ist es wichtig, deutlich zu machen, dass wir nicht neu anfangen. Weder gehen wir heute den ersten Schritt noch beenden wir die letzte Etappe auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Wir befinden uns vielmehr mitten in einem wichtigen gesellschafts- und bildungspolitischen Prozess, der kontinuierlich und mit viel Umsicht vorangetrieben und

begleitet werden muss. Ich habe an anderer Stelle davon gesprochen, dass die Umsetzung der Inklusion eine Jahrhundertreform ist. Der Blick zurück bis in die Zeit der Erarbeitung erster konzeptioneller Ansätze im Saarland vor 40 Jahren ermöglicht uns eine Standortbestimmung und eröffnet uns zugleich auch die Sicht darauf, wie lange es noch dauern wird, bis das gemeinsame Lernen und Leben in unserer Gesellschaft so selbstverständlich sein wird, dass es keiner Erwähnung mehr wert ist. Heute wie damals gab es übrigens heftige Kritik. Heute wie damals geht es einigen zu langsam, andere wiederum befürchten, die Reform werde übers Knie gebrochen. Heute wie damals beklagen einige, es stehe zu wenig Personal zur Verfügung, während andere, denen das Vorhaben zu weit geht, sich hinter der Ressourcenfrage verstecken. Heute wie damals gibt es Vorbehalte, es gibt Emotionen, ja Ängste, wie die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen sind. Und es gibt den Ruf: Zuerst müssen die Rahmenbedingungen stimmen.

Alle, die der Debatte hier im Land und in der Bundesrepublik gefolgt sind, kennen Irmtraud Schnell, eine der Mitstreiterinnen von Herrn Professor Sander. Sie hat 1996 nach 10 Jahren schulischer Integration im Saarland eine Bilanz gezogen. Sie hat ihren Beitrag in einer Publikation anlässlich des 60. Geburtstags von Sander betitelt mit einem Zitat von Karl Valentin: „Wir konnten damals erst übermorgen anfangen.“ - Darin zieht Frau Schnell mit Blick auf den Vorbehalt, für den Start müssten die Rahmenbedingungen erst noch geschaffen werden, folgendes Resümee. Ich zitiere wieder mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin: Wenn wir mit unseren Bemühungen und dem Anfang eines gemeinsamen Lebens und Lernens so lange gewartet hätten, bis alle notwendigen Bedingungen geschaffen sind, wo stünden wir heute? - Man kann es auch mit einem viel älteren Zitat belegen. Seneca hat in seinen moralischen Briefen geschrieben: „Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Vorarbeiten in meinem Haus zu diesem Gesetzentwurf sind auf sehr ernsthafte Weise und sehr gründlich erfolgt. Sie haben auch länger gedauert, als ich mir das anfangs vorstellen konnte. Meine Bitte an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lautete damals: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Wir haben aufmerksam die Entwicklung in anderen Bundesländern verfolgt, wir haben die Stellungnahmen, die Kritik, die Anregungen und die Geltendmachung verschiedener Interessen im Rahmen der internen und auch der externen Anhörung sorgfältig ausgewertet. Ich habe dafür auch in Kauf genommen, dass in der Öffentlichkeit parallel dazu eine intensive Debatte geführt wurde, auf die ich nicht in jedem Detail eingehen konnte und auch nicht in jedem Detail eingehen

wollte, weil wir die Positionierung der berufsständischen Verbände, der Gewerkschaften, der Initiativen, kurzum der gesamten Zivilgesellschaft, berücksichtigen wollten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der SPIEGEL zitiert zu Beginn dieser Woche eine Studie, die heute vorgestellt wird. Darin heißt es, das Saarland stünde auf einem der letzten Plätze. Ich habe eben geschildert, dass das in der Realität sicherlich nicht der Fall ist. In der schulischen Praxis sind wir sehr viel weiter. Was die gesetzliche Grundlage angeht, kann man das allerdings durchaus nachvollziehen. Deshalb gehen wir heute einen entscheidenden Schritt. Am Ende dieses internen Prozesses, am Beginn des parlamentarischen Verfahrens zu diesem Gesetzentwurf und unter Verweis auf die Geschichte der schulischen Integration in unserem Land im Vergleich zu anderen Bundesländern komme ich deshalb zu dem Ergebnis, dass die Bedingungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Saarland heute besser sind, als sie es jemals waren. Und sie sind vielfach besser als in anderen Bundesländern. Dazu beigetragen haben auch - das will ich ausdrücklich erwähnen - die von Klaus Kessler, also der Vorgängerregierung, im Jahr 2011 eingerichteten elf Pilotschulen zur Inklusion. Lieber Kollege Kessler, ich erkenne das ausdrücklich an. Durch die Arbeit der Pilotschulen haben wir einen sehr genauen Überblick über den Handlungsbedarf bei der Umsetzung der Inklusion bekommen. An diesen Schulen wurde eine hervorragende Vorarbeit geleistet. Auf diesen Erfahrungen können wir jetzt aufbauen. Die dort eingesetzten Instrumente und Optionen, die sich bewährt haben, wollen wir jetzt allen Schulen zur Verfügung stellen, damit sie mit der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler umgehen können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe darauf hingewiesen, dass Inklusion ein Jahrhundertthema ist, ein Prozess des Ermöglichens, ein Prozess des Mitnehmens, der über mehrere Generationen verläuft. Damit dieser Prozess gelingt, müssen wir die entscheidenden Schritte heute gehen und die Potenziale für eine gerechtere Gesellschaft im Blick haben, statt immer nur neue Hindernisse zu sehen. Um es klar zu sagen: Die Umsetzung der EU-Behindertenrechtskonvention ist nicht in unser Belieben gestellt. Die Konvention wurde im Jahr 2006 verabschiedet, sie ist völkerrechtlich verbindlich. Zwei Jahre später hat der Bundesgesetzgeber das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Damit ist die Konvention in Deutschland geltendes Recht und verpflichtet die Bundesländer dazu, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die zielgerichtet und wirksam sind, um ein progressives inklusives Bildungssystem zu entwickeln. In Artikel 24 Abs. 2 der Konvention heißt es,

(Minister Commerçon)

ich zitiere: „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderungen vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lege großen Wert auf die Feststellung, dass diese Rechtsnorm keine Mode ist. Sie ist keine Ideologie, und erst recht ist sie keine Gleichmacherei, wie das gelegentlich zu lesen und zu hören ist. Sie wurzelt vielmehr in unserem Grundrechts- und Rechtsstaatsverständnis, in dessen Ausgangspunkt, dem Artikel 1 Grundgesetz, verankert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ - Menschenrechtlich ist dieser Schutz vor Ausgrenzung unmittelbar verknüpft mit den Ansprüchen auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität.

Ziel der Inklusion ist, dass alle Menschen frei und gleich auf der Grundlage der Menschenwürde und der eigenen Selbstbestimmung im Miteinander ihr Leben gestalten können. Im Vordergrund steht eine Wertehaltung, die durch Respekt und Wertschätzung gekennzeichnet ist. Deshalb, meine Damen und Herren, dürfen die Teilhabe aller Kinder an Bildung und der ungehinderte Zugang der Kinder zu unseren Bildungseinrichtungen kein Lippenbekenntnis bleiben.

(Beifall bei den Koalitionsfraktionen.)

Es geht also um ein selbstbestimmtes Leben, um den klassischen Individualitätsgedanken, nach dem die Fülle der in der Menschheit liegenden Möglichkeiten sich nur in dem Maße entfalten kann, in dem sie sich in der Vielzahl der individuellen Gestaltungen beweist. Oder um es mit einem Rückgriff auf die Literatur, dieses Mal auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, auszudrücken; auch hier zitiere ich wieder, und dafür brauche ich, glaube ich, nicht um Erlaubnis zu bitten, Frau Präsidentin: „Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt.“ Auf unser Bildungswesen und auf die vor uns liegenden Aufgaben bezogen bedeutet dies: Alle am Bildungswesen beteiligten Akteurinnen und Akteure haben die Aufgabe, die Kinder in all ihrer Verschiedenartigkeit und Vielfalt in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen zu stellen. Damit das gelingen kann, brauchen unsere Kinder ein Höchstmaß an individueller Förderung, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, unabhängig davon, ob ein Migrationshintergrund vorhanden ist, und unabhängig davon, ob die Kinder nun besondere Begabungen und Talente haben oder ob sie beeinträchtigt sind.

Das ist der Kerngedanke einer inklusiven Schule: Jedes Kind hat Förderbedarf. Nicht die Kinder sollen sich dem Bildungssystem anpassen müssen, sondern die Schulen, unser Bildungssystem und wir alle müssen uns den Kindern in ihrer Vielfalt und mit ihren jeweiligen individuellen Bedürfnissen stellen und diesen Bedürfnissen gerecht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht die Kinder müssen schulfähig werden, sondern unsere Schulen müssen zunehmend kindfähig werden. Ich freue mich sehr darüber, dass wir diesbezüglich - so ist zumindest mein Eindruck - hier im Haus ein hohes Maß an Übereinstimmung erzielt haben.