Protokoll der Sitzung vom 17.10.2008

Es gibt also genügend zu tun und zu ändern. Werfen wir einen Blick in den Bericht, der der am 22. Oktober stattfindenden Veranstaltung zugrunde liegen soll. Der Bildungsbericht des BMBF „Bildung in Deutschland 2008“ beschäftigt sich schwerpunktmäßig in einem Kapitel mit dem Thema „Übergänge“. Da werden gleich als Erstes Probleme bei den Abschlüssen deutlich. Zwar konstatiert das BMBF, dass das durchschnittliche Kompetenzniveau im Schulalter im internationalen Vergleich leicht gestiegen ist, und es sind Verbesserungen bei der Anzahl der Studienberechtigten und den Hochschulabsolventinnen und -absolventen zu verzeichnen. Aber die Abschlussquoten bleiben, gemessen am internationalen Vergleich und den Notwendigkeiten, immer noch zu gering.

Die Studienanfängerquote liegt nun bei knapp 37 % einschließlich derjenigen Studierenden, die aus dem Ausland kommen und vielfach wieder dorthin zurückgehen. Sie hat weder den Höchstwert von 39 % aus dem Jahre 2003 noch die vom Wissenschaftsrat gesetzte Zielmarke von 40 % erreicht. Das liegt auch in Sachsen unter anderem daran, dass es kaum Möglichkeiten des direkten Übergangs von der Berufsausbildung an die Hochschulen gibt. Die so häufig unter dem Begriff des dritten Bildungsweges zusammengefassten Möglichkeiten

machen bundesweit gerade einmal 1 % der Zulassungen an Universitäten und 2 % im Fachhochschulbereich aus. Wissen Sie, was das bedeutet? Dass Sie Nichtabiturienten de facto keine Chance zum Einstieg in eine Akademikerausbildung geben. Wir sagen: Das ist ungerecht.

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion)

Ein zentrales Problem, auf das der Bildungsbericht der Bundesregierung hinweist, ist die immer noch viel zu hohe Zahl der Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Schulabschluss, ohne jeden Abschluss. Die Abgängerzahlen in Sachsen besagen laut Bildungsbericht Sachsen, dass von 47 000 Schülern der Klassenstufen 7 bis 9 im Schuljahr 2006/2007 insgesamt 1 400 Schüler die sächsische Mittelschule ohne einen Hauptschulabschluss verließen. Und weiter: Während der vergangenen fünf Schuljahre schwankte der Anteil der Abgänger ohne Hauptschulabschluss zwischen 2,4 und 2,8 % aller Schulabgänger und blieb damit relativ konstant.

Es ist also keine grundlegende Verbesserung eingetreten trotz all Ihrer Erklärungen, jeden Einzelnen fördern zu wollen. Auch im Vergleich zum Bundesdurchschnitt kann von einer Vorbildrolle Sachsens nicht die Rede sein; denn im Bundesdurchschnitt befinden sich 2,4 % derjenigen, die keinen Abschluss haben, im Alter von 18 bis 25 Jahren gar nicht mehr im Bildungssystem.

Allgemein wird in Deutschland die Schuleingangsphase flexibler gestaltet. Dabei gibt es mehr vorzeitige Einschulungen als Zurückstellungen. In Sachsen hingegen ist das Verhältnis nach den Zahlen des sächsischen Bildungsberichtes genau umgekehrt. Das heißt, 2007/2008 wurden 5 % der Schülerinnen und Schüler um ein Jahr zurückgestellt. Bundesweit waren es 2006 unter 5 %, während in Sachsen die Zahl sogar noch bei 10,5 % lag und lediglich 0,5 % vorzeitig eingeschult wurden.

Die Ursachen für diese abweichende Entwicklung müssten noch genauer untersucht werden, könnten aber damit zusammenhängen, dass in Sachsen eine nennenswerte Begabtenförderung laut Ihrem eigenen Bildungsbericht faktisch nur im gymnasialen Bereich stattfindet.

Laut Bildungsbericht des Bundes hat jeder zweite Hauptschüler auch 13 Monate nach Schulende noch keinen Platz für eine berufliche Ausbildung gefunden. Der überwiegende Teil der Hauptschüler – ob mit oder ohne Abschluss – müsse zunächst Nachqualifizierungs- und Überbrückungsmaßnahmen durchlaufen, deren Effektivität und Effizienz erheblich angezweifelt werden. Das tun wir auch. Denn 30 Monate nach Schulende konnten immer noch 40 % der Hauptschüler nicht in eine qualifizierte Berufsausbildung vermittelt werden. Besonders groß sind dem Bericht zufolge die Probleme bei jungen Männern.

Überhaupt: Eine gewisse Sensibilität gegenüber den unterschiedlichen Möglichkeiten der Geschlechter lässt sich in Ihrem Bildungswesen vermissen. In Sachsen lernen erheblich mehr Jungs als Mädchen im Hauptschulausbildungsgang. Wenn die Zahlen insgesamt auch etwas

rückläufig sind, so war es mit Beginn des Schuljahres 2007/2008 so, dass etwa jeder fünfte männliche Schüler an Mittelschulen dem Hauptschulbildungsgang zugeordnet wurde. Bei Mädchen waren es 13,8 %. Hier staut sich offensichtlich ein Problem an, dass schon mit Blick auf die Demografieentwicklung dringend Antworten gefunden werden müssen, Antworten, die sowohl die Bundes- als auch die Staatsregierung schuldig bleiben.

Insgesamt haben sich im Zusammenhang mit den geschlechtsspezifischen Disparitäten neue Probleme aufgetan. Mädchen und junge Frauen werden im Vergleich erfolgreicher, während das Risiko der Jungen, im Bildungssystem zu scheitern, zunimmt.

Schülerinnen mit Realschulabschluss hingegen haben in der Regel bessere Ausbildungschancen. Während für Hauptschüler die Berufschancen immer schlechter werden, schafft dagegen bundesweit jeder zweite Realschüler mit mittlerer Reife bereits drei Monate nach Schulende den Sprung in eine qualifizierte Ausbildung.

In dem nach 2006 zum zweiten Mal von Bund und Ländern gemeinsam vorgelegten Bericht wird zudem konstatiert, dass sich mit wachsender Kinderarmut das im deutschen Bildungssystem ohnehin vorhandene Problem der fehlenden Chancengleichheit verschärft, selbst bei gleichintelligenten Kindern aus Unterschicht und aus Akademikerfamilien. Besonders der Übergang von der Primärstufe in eine der Schularten des Sekundärbereiches I gehört zu den Stellen, an denen sich im deutschen Bildungssystem soziale Disparitäten zeigen.

Einer Mainzer Studie entsprechend hat der Übergang zum Gymnasium weniger mit den Noten der Kinder zu tun, sondern – das wurde jüngst veröffentlicht – die Lehrerinnen und Lehrer achten dabei besonders auf den Hintergrund des Elternhauses.

Zitat aus dem Bildungsbericht des Bundes: „Mit einem höheren sozioökonomischen Status gehen bis zu dreimal geringere Hauptschul- und bis zu fünfmal höhere Gymnasialbesuchsquoten einher.“

Internationale Schulleistungsstudien zeigen, dass die Kopplung zwischen dem sozialen Status der Herkunftsfamilie und erworbenen Kompetenzen in Deutschland nach wie vor stärker ausgeprägt ist als in anderen Staaten. Auch der Hochschulzugang erzeugt neue Disparitäten. Kinder aus Akademikerfamilien nehmen bei gleichen Abiturnoten häufiger ein Studium auf als Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern. Außerdem ist bundesweit eine mangelnde Durchlässigkeit des Systems nach oben zu konstatieren; denn auf jeden aufwärtsgerichteten Wechsel kommen statistisch gesehen fast fünf Wechsel in geringer qualifizierende Schularten. – So viel zur Durchlässigkeit Ihres selektierenden Schulwesens.

(Caren Lay, Linksfraktion: Hört, hört!)

Angesichts dieser Problemlagen ist es mehr als bedenklich, wenn der Anteil der Bildungsausgaben im Bruttoinlandsprodukt von 6,9 % im Jahre 1995 auf 6,3 % im Jahre 2005 und auf 6,2 % im Jahre 2006 zurückging und

im internationalen Vergleich unter dem OECD-Vergleich lag. Die Bildungsausgaben haben sich nicht proportional zum Wirtschaftswachstum entwickelt. Die Weiterbildungsbudgets wurden sogar drastisch reduziert. Kein Grund für politische Jubelgesänge also.

Es bleibt positiv zu vermerken, dass die Nutzung der Angebote für die frühkindliche Bildung bundesweit deutlich zugenommen hat und auch der Ausbau von Ganztagsangeboten vorangeschritten ist, wobei die Länder allerdings unterschiedliche Schwerpunkte und Kriterien setzen, die einen nationalen Vergleich – wie im Bildungsbericht des Freistaates angenommen – zumindest als problematisch erscheinen lassen, zumal hier keine Differenzierung nach offener, gebundener bzw. teilgebundener Form erfolgt. Ich möchte hinzufügen, dass wir in Sachsen nur die offene Form kennen und von Ganztagsschule keine Rede sein kann.

(Zuruf von der CDU: Richtig!)

So wird dann in Sachsen die oft weitgehend übernommene Grundschul-Hort-Struktur als offene Form eines Ganztagsangebotes definiert. Schon erreicht der Anteil der Schulen im Ganztagsangebot im Grundschulbereich 95,9 %, wobei tatsächlich aber nicht von einer Ganztagsschule mit einem durchstrukturierten, aufeinander abgestimmten und durchgängig ganztägigen Lern- und Erholungsangebot die Rede sein kann.

Bedenklich stimmen sollte außerdem der Trend zum Abbau der Maßnahmen in der außerschulischen Jugendarbeit. Der bundesweite Rückgang der Ausgaben für die Jugendarbeit betrug in den Jahren von 2000 bis 2006 inflationsbereinigt 6 %.

Ein weiteres Problem auch und gerade in Sachsen ist der hohe Altersdurchschnitt des Lehrerpersonals und der daraus resultierende hohe Ersatzbedarf für pädagogisch qualifiziertes Personal an den Schulen. Das durchschnittliche Alter der Lehrkräfte in Sachsen liegt im Schuljahr 2007/2008 beispielsweise bei 48,2 Jahren. Insbesondere an Grund- und Mittelschulen ist der Anteil älterer, in absehbarer Zeit die Schulen verlassender Lehrer besonders hoch. Hier wäre es zum Beispiel ein lohnendes Betätigungsfeld für die Staatsregierung und das SMK, unseren Initiativen zuzustimmen und endlich für einen ausreichend qualifizierten Nachwuchs an den Schulen zu sorgen.

Meine Damen und Herren! Reine Symbolpolitik, wie der anstehende Bildungsgipfel, Spitzenveranstaltungen zur Verkündigung guter Botschaften des eigenen Regierens, getragen durch die Initiative „Neue soziale Marktwirtschaft“, ohne klare Abstimmung und Veränderungen im Land tragen zur Politikverdrossenheit bei der Bevölkerung bei. Gemessen an den real notwendigen Veränderungen im Bildungswesen ist es verantwortungslos, einen solch plakativen Gipfel stattfinden zu lassen.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Über den Sinn und Zweck dieses Bildungsgipfels ist nicht viel bekannt. Eine Qualifizierungsoffensive zum Fachkräftemangel findet sich als Inhalt. Angesichts des eigentlichen Handlungsbedarfs spricht es Bände, dass Ihr einziges bislang bekanntes Anliegen ein wirtschaftspolitisches ist.

Aufgabe im Zusammenhang mit diesem Bildungsgipfel muss es sein, klarzumachen, dass Bildung, wie sie derzeit in Deutschland funktioniert, nicht alternativlos ist. Es blühen die Pflanzen von Pädagogik unter dem Zeichen individueller Förderung im ganzen Land. Die Frage nach der Bildung muss zu einer der grundlegenden demokratischen Entscheidungen gemacht werden,

(Beifall der Abg. Caren Lay und Dr. Cornelia Ernst, Linksfraktion)

weil von ihr so vieles im Gesellschaftsaufbau abhängt: Einbindung statt Ausgrenzung, aktive Teilhabe und kritische Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens,

(Zurufe der Abg. Heinz Lehmann und Thomas Colditz, CDU)

nicht einfach einen Lebensentwurf vorgesetzt zu bekommen. Wie viele Menschen lassen Sie in vorgefertigten Bahnen ohne Abschlüsse am Rand, im Privaten, in alternativlosen Arbeitsverhältnissen? Selbstbefreiung ist ganz offensichtlich kein Ziel konservativer Bildungspolitik – bis auf die Maßnahmen zur Gleichstellung von Müttern und Vätern bei der Kinderbetreuung. Diesbezüglich scheinen Sie schon ein wenig verstanden zu haben, worum es geht.

Im Schulwesen herrscht immer noch Ungleichheitsideologie. Selbstermächtigung muss das Ziel von Bildungspolitik in demokratischen Gesellschaften sein. Das ist der nächste zivilisatorische Schritt, der gegangen werden muss. Es formiert sich Widerstand. In Hessen zum Beispiel mussten die von der CDU eingeführten Studiengebühren zurückgenommen werden. Bildungspolitik wird bei den Wahlauseinandersetzungen im nächsten Jahr eine tragende Rolle spielen. Die Parteien bereiten sich auf diese Auseinandersetzungen vor. Es geht um die Herstellung parlamentarischer Mehrheiten für die Einführung des längeren gemeinsamen Lernens – auch in Sachsen. Es ist unser aller Aufgabe, deutlich zu machen, dass das Bildungswesen in Deutschland auch anders gestaltet sein kann. Als Anlass nehmen wir diesen Bildungsgipfel.

Vielen Dank.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Für die Fraktion der GRÜNEN die Abg. Frau Günther-Schmidt, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema Bildung ist eine nationale Herausforderung, die nur durch eine intensive Zusammenarbeit auf allen politischen Ebenen erfolgreich bewältigt werden kann. Wer jetzt nicht die richtigen Weichen stellt, vernachlässigt eine der zentralen Gerech

tigkeitsfragen und verkennt die Bedeutung der Bildung für unsere Zukunft

In der frühkindlichen Bildung mangelt es an bundeseinheitlichen Qualitätsstandards. Deshalb brauchen wir eine Qualitätsoffensive in diesem Bereich und eine bessere Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieher, möglichst auf Hochschulniveau.

Das deutsche Schulsystem ist ungerecht. Kinder aus sozial schwachen und Migrantenfamilien haben bei gleicher Begabung eine geringere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als ihre Mitschüler. Das deutsche Schulsystem vergeudet systematisch Potenziale. Viel zu viele Kinder durchlaufen die Schule ohne einen Schulabschluss oder das für eine Ausbildung notwendige Kompetenzniveau. Das mehrgliedrige Schulsystem mit seiner frühen Selektion der Kinder, die mangelnde Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und das geringe Angebot an Ganztagsangeboten sind die Hauptursachen dieser Bildungsmisere.

Das deutsche Ausbildungssystem hat über die Jahrzehnte stark an seiner Integrationskraft verloren. Deutschlandweit schaffen es nur noch 60 % aller Bewerber um einen Ausbildungsplatz in eine reguläre betriebliche Ausbildung. Die anderen landen in Übergangsmaßnahmen ohne anerkannten Abschluss. Viele berufsvorbereitende Maßnahmen erweisen sich als ineffiziente Warteschleifen. So verschwenden Jugendliche ihre Lebenszeit und die öffentliche Hand jährlich 3 bis 4 Milliarden Euro. Doch weder der Bund noch die Länder trauen sich an wirkungsvolle Reformen heran.

„Man könne nicht erwarten, dass der merkelsche Bildungsgipfel einen Urknall auslöst und das gesamte deutsche Bildungssystem neu erfindet“, warnte diese Woche die saarländische Bildungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer von der CDU. Ich habe offen gestanden auch keine besonders hohen Erwartungen an dieses Ereignis.

Wir haben vorgestern auch hier wieder gehört, wie die alten Ideologen in der CDU das überkommene Bildungssystem – –

(Zuruf des Abg. Thomas Colditz, CDU)

Herr Colditz, ich hatte gehofft, dass Sie sich angesprochen fühlen.

(Thomas Colditz, CDU: Die alten …)

Ja, das musste sein. – Wir haben vorgestern auch hier wieder gehört, wie die alten Ideologen in der CDU das überkommene Bildungssystem

(Thomas Colditz, CDU: Schon wieder!)

mit Zähnen und Klauen verteidigen und sich die Welt schönreden.

(Dr. Matthias Rößler, CDU: Das ist ein attraktiver Mann!)