Protokoll der Sitzung vom 24.06.2009

Der Umgang mit Behinderungen kann nach meiner festen Überzeugung nicht davon abhängig gemacht werden, welche Ursache diese haben. Wenn man dies täte, käme man dann zu der Frage, ob an der Behinderung irgendjemand oder irgendetwas schuld sei. In letzter Konsequenz ist dann die krude und menschenverachtende Position nicht mehr weit, wonach ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnt, welche uns hier in einer Fachregierungserklärung vom derzeitigen Kultusminister vorgetragen wurde.

(Caren Lay, Linksfraktion: Wir erinnern uns alle!)

Ja, es war schrecklich.

Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie sind Menschen mit Behinderungen und als solche haben sie Anspruch auf gesetzlichen Schutz. Und mehr noch: Wir sollten sie, wie es der Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie im März dieses Jahres formulierte, als eine Form von Vielfalt anerkennen und ihre Fähigkeiten nicht allein an der Rechtschreib- und Rechenkompetenz festmachen; denn Legastheniker und Dyskalkuliker sind nicht

minderintelligente Menschen und der heute noch übliche Umgang mit ihnen in der Schule schöpft deren tatsächliches Potenzial bei Weitem nicht aus.

Wir wollen in unserem Gesetzentwurf eine klarere Regelung zur Diagnose der Teilleistungsstörungen als Voraussetzung für den Anspruch auf Notenschutz und Nachteilsausgleich. Wir beziehen in diese Regelung bewusst die Begutachtung durch einen Facharzt ein. Einerseits sind wir dazu gezwungen, weil die erschreckend geringe Zahl von Schulpsychologen in Sachsen leider dazu führt, dass die Wartezeit hier zwischen einem halben Jahr und zwei Jahren liegt. In dieser Zeit besteht die Gefahr, dass das Kind eine verhängnisvolle demotivierende Schullaufbahn einschlägt. Zweitens wollen wir auch nicht, dass die Lehrer die Diagnose stellen müssen, denn dafür sind sie nicht qualifiziert. Lehrer sollen künftig allerdings tatsächlich besser ausgebildet werden, um mögliche Störungen frühzeitig zu erkennen.

Die Ausbildung von Lehrern ist jedoch ein anderes Kapitel, das mit dem heute zu beschließenden Gesetzentwurf nur in dem Sinne im Zusammenhang steht, als die Gewährung eines individuellen Rechtsanspruches des Kindes auf individuelle Förderung das System Schule praktisch zwingt, aktiv zu werden. Aber die Unterscheidung zwischen einer vorübergehenden LeseRechtschreib-Schwäche, für die es hierzulande die Förderung in LRS-Klassen gibt, und einer umschriebenen Teilleistungsstörung Legasthenie muss – auch das hat die Anhörung gezeigt – den Fachleuten überlassen bleiben.

Die Diagnose einer entsprechenden Störung kann nicht nur eine wie auch immer geartete Förderung nach sich ziehen. Das ist der zweite Teil unseres Gesetzentwurfes. Sie können ja auch eine körperliche Behinderung nicht einfach wegfördern; sie bleibt bestehen, und zwar ein Leben lang. So ist es auch mit Legasthenie und Dyskalkulie. Mit diesen Behinderungen müssen die Betroffenen leben. Aber man kann selbst in der Schule mit ihnen leben, wenn man nämlich einen entsprechenden Nachteilsausgleich oder eben Notenschutz erhält. Wir wollen, dass es dafür einen Rechtsanspruch gibt, übrigens auch in der Sekundarstufe II, denn bis dahin hat sich das Problem ja nicht erledigt.

Die Gewährung des Nachteilsausgleichs darf in Zeugnissen und sonstigen Leistungsbestätigungen nicht angegeben werden. Der Notenschutz kann in jeder Schulform angeordnet werden. Dies kann den Druck auf den betroffenen Schüler mindern.

Meine Damen und Herren, von verschiedener Seite wird sowohl in der Diskussion zu unserem Gesetzentwurf als auch gegenüber den Betroffenen zum Ausdruck gebracht, dass es für diese Kinder ja die Möglichkeit der Hilfe nach § 35 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gebe. Dieser Paragraf regelt die Eingliederungshilfe bei drohender seelischer Behinderung. Ich finde es schlimm, wenn einem Kind erst einmal eine seelische Behinderung drohen muss, damit es endlich Hilfe erhalten kann. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir das beenden und die

Grundsätze der Behandlung legasthener und dyskalkuler Schüler außerhalb des Ermessens einer Verwaltungsbehörde stellen.

Ich hoffe, dass Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die CDUFraktion; Herr Abg. Seidel.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN strebt, wie eben gehört, eine Änderung des § 35a des Schulgesetzes an. Die Neufassung sieht eine Konkretisierung von Regelungen zu Teilleistungsschwächen vor, indem ein Anspruch auf Begutachtung und Anerkennung der Teilleistungsschwächen im Bereich Lesen, Schreiben und/oder Rechnen und auf Fördermaßnahmen, Nachteilsausgleich und Notenschutz bestehen soll.

Das mit dem Gesetzentwurf beschriebene Anliegen ist nicht neu und war auch in der Vergangenheit schon Gegenstand parlamentarischer Beratungen. Parallel dazu haben sich auch rechtliche Vorgaben entwickelt, die konkrete Hilfestellungen und Fördermaßnahmen für die Betroffenen vor Ort bestimmen.

Der § 35a des Schulgesetzes in seiner bisherigen Formulierung trägt unseres Erachtens hinreichend der individuellen Förderung und der besonderen Berücksichtigung von Teilleistungsschwächen im Unterricht Rechnung. Es heißt dort: „Die Ausgestaltung des Unterrichts und anderer schulischer Veranstaltungen orientiert sich an den individuellen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen der Schüler.“

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Seidel?

Nein. Frau Günther-Schmidt hat doch eben sehr ausführlich gesprochen. Das reicht doch jetzt. Danke schön.

(Lachen bei der NPD)

„Dabei ist“, wie § 35a besagt, „insbesondere den Teilleistungsschwächen Rechnung zu tragen.“ Diese geltende gesetzliche Regelung ist umfassend, verbindlich und auf vorhandene individuelle Förderbedarfe ausgerichtet. Sie wird konkretisiert und umgesetzt durch die jeweiligen Schulordnungen für die einzelnen Schuljahre. Weitere Bestimmungen sind in der Verwaltungsvorschrift LeseRechtschreib-Förderung enthalten. Darüber hinaus wurden für den Bereich der Rechenschwierigkeiten Empfehlungen zur Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens veröffentlicht. Damit werden Grundsätze, die die Kultusministerkonferenz schon 2003 zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben bzw. im Rechnen verabschiedet hat,

in Sachsen mit entsprechenden Vorgaben untersetzt. Das betrifft Maßnahmen der Förderung, des Nachteilsausgleichs ebenso wie die Möglichkeit zur Notenaussetzung.

Meine Damen und Herren, die Diskussion um eventuell weiterführende gesetzliche Rahmenvorgaben ist also wenig sinnvoll. Es geht doch vielmehr um die weitere Qualifizierung und Intensivierung bereits stattfindender Maßnahmen. Ich denke hierbei an die Lehrerausbildung genauso wie an Förderbildungskonzeptionen, die bereits existieren, aber auch an Möglichkeiten, die Diagnoseverfahren so zu qualifizieren, dass schon in der frühkindlichen Bildung im Kindergarten Einfluss genommen werden kann.

Demgegenüber würde die Aufhebung des § 13a der Schulordnung für Grundschulen auch die Rechtsgrundlage zum Führen von LRS-Klassen entziehen. Das aber ist kontraproduktiv. Derzeit werden bei uns in Sachsen 2 331 Schüler in 184 LRS-Klassen beschult. In LeseRechtschreib-Klassen wird der Unterricht der Klassenstufe 3 nach einer stärker auf die notwendige Förderung ausgerichteten Stundentafel auf zwei Schuljahre gedehnt. Der Unterricht wird in der Regel durch speziell ausgebildete Lehrer erteilt.

Die Vorlage von privaten Gutachten als Voraussetzung für die Begutachtung und die Anerkennung einer Teilleistungsschwäche ist in der Praxis problematisch, da es hierzu keine einheitlichen Standards gibt. Zudem sind damit Kosten verbunden, ohne dass geklärt ist, wer diese Kosten trägt. Die Verwaltungsvorschrift sieht als Voraussetzung für ein Feststellungsverfahren eine von der Schule oder den Eltern vermutete Lese-RechtschreibSchwäche vor. Lehrer aller Schularten werden gezielt bis hin zum Zertifikatskurs qualifiziert.

(Astrid Günther-Schmidt, GRÜNE, tritt ans Mikrofon.)

Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?

Nein, danke.

Die Gleichstellung von Lese-Rechtschreib-Schwäche und Rechenstörungen kann nicht unterstützt werden, da Ursache, Entstehung und Ausprägung von Rechenstörungen nicht hinreichend erforscht und abgesichert sind. Die Berücksichtigung einer Rechenstörung im Fach Mathematik in Form von Notenschutz ließe keine sinnvolle Notengebung in diesem Fach mehr zu. Zudem bestünde die Gefahr der Verletzung des Grundsatzes der gleichen Leistungsbewertung.

Die Kultusministerempfehlung in der Fassung vom November 2007 wendet sich erstmals der Rechenstörung zu. Die Kultusministerkonferenz gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass eine Berücksichtigung bei der Notengebung im Fach Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Fächern ohne Verletzung des Grundsatzes der gleichen Leistungsbewertung kaum möglich sei. Dies stelle allerdings nicht die Praxis in einzelnen Ländern in

Frage, da in der Primärstufe dyskalkulen Schülern besondere Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen seien oder die Möglichkeit zu geben sei, durch individuell ergänzende oder zusätzliche Aufgaben ihre Fähigkeiten darzustellen.

Der Gesetzentwurf erhielt im Ausschuss für Schule und Sport lediglich die Stimme der einreichenden Fraktion. Die Vertreter aller anderen Fraktionen haben diesen Gesetzentwurf als nicht notwendig oder eben kontraproduktiv abgelehnt. Ich bitte Sie alle in diesem Hohen Haus, diesen Gesetzentwurf ebenso wie im Ausschuss abzulehnen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU)

Die Linksfraktion; Frau Falken, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Seidel, ich habe das Gefühl, dass wir in unterschiedlichen Ausschüssen gesessen und zum selben Thema gesprochen haben. Denn daran, dass wir es als Ausschuss in der Diskussion als nicht notwendig empfunden haben, ein derartiges Gesetz auf den Weg zu bringen, kann ich mich gar nicht erinnern. Aber dazu komme ich gleich noch in meinen Ausführungen.

Möchten Sie eine Frage beantworten, Frau Falken?

Ich mache extra eine Pause; ja.

Danke schön. – Frau Kollegin Falken, können Sie sich daran erinnern, dass sich im Ausschuss sogar der CDU-Kollege Colditz dahin gehend geäußert hat, dass es Handlungsbedarf gibt, und dass er angeregt hat, darüber noch einmal eine längere Zeit nachdenken zu wollen, weil er für sich und seine Fraktion einen Weg suchen würde?

Frau Günther-Schmidt, das ist ein Part, den ich in meine heutige Rede eingebaut habe, weil ich es besonders toll fand, dass es uns im Ausschuss mal gelungen ist, grundsätzlich zu einer Problematik mit den demokratischen Fraktionen – die NPD diskutiert da im Ausschuss sowieso nicht mit – einen ähnlichen Standpunkt zu erreichen. Das fand ich einfach ganz toll. Aber da habe ich jetzt einen Teil meiner Rede schon angesprochen.

Wir als Linksfraktion unterstützen grundsätzlich einen gesetzlichen Anspruch der Schülerinnen und Schüler mit Teilleistungsstörungen beim Lesen und beim Rechtschreiben oder auch beim Rechnen. Grundsätzlich sind wir dafür, eine gesetzliche Grundlage darzustellen. Genau das war auch das Ergebnis der Ausschusssitzung, weil dort festgestellt worden ist, dass es Handlungsbedarf gibt, und zwar über die Grenzen der demokratischen Fraktionen hinaus.

Wir haben unser Problem an einer anderen Stelle. Wir als Linksfraktion sind der Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf noch nicht so ausgereift ist, dass wir ihm heute zustimmen können. Wir müssen prüfen, dass mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf nicht Ansprüche, die Schülerinnen und Schüler haben, außer Kraft gesetzt werden. Das darf nicht passieren. Unser gut funktionierendes System der Lese-Rechtschreib-Klassen können wir aufgrund dieses Gesetzentwurfs nicht aushebeln.

Bezüglich einer Veränderung oder eines Streichens von Schulordnungen im Grundschulbereich haben wir also Bedenken. Hierzu sind wir auch der Auffassung – da stimme ich wirklich mit Herrn Colditz überein –, dass wir das noch einmal anschauen müssen, dass wir das in aller Ruhe beraten sollten und dass wir das ganz klar noch einmal prüfen müssen, damit nicht aufgrund dieses neuen Gesetzentwurfes, der richtig und gut gemeint ist, Schülerinnen und Schülern in anderen Bereichen eher ein Nachteil entsteht. Das ist für uns Anlass zu sagen, dass wir diesem Gesetzentwurf hier und heute noch nicht zustimmen können.

Wir möchten aber noch einen zweiten Punkt ansprechen, der sich in der Anhörung sehr klar ergeben hat und den wir in diesem Hohen Hause bereits häufig angesprochen haben, insbesondere seitens der Oppositionsfraktionen. Das ist die Erstellung von Gutachten, also die Betreuung durch Schulpsychologen oder auch durch geeignete Personen, die derartige Gutachten erstellen können. Auf diesem Gebiet haben wir ein riesiges Manko. Hier muss im Freistaat unbedingt etwas geschehen. Die Überlegung, von außen Psychologen hinzuzuziehen, ist eine Variante, aber ich glaube nicht, dass es die optimale ist. Wir hätten viel lieber, dass wir endlich im Freistaat Sachsen die notwendigen Schulpsychologen einstellen, um den Schülerinnen und Schülern eine optimale Unterstützung schon in der Diagnostik zu geben.

Qualifizierte Lehrer. Wir haben – die Fachberaterin aus Chemnitz hat das in der Anhörung sehr deutlich gesagt – qualifizierte Lehrer. Wir haben Lehrer, die ganz besonders ausgebildet worden sind, insbesondere in der LeseRechtschreib-Schwäche, aber auch in der Schwäche mit der Mathematik zu arbeiten. Hier fehlt es ganz klar an Folgendem:

Erstens. Diese Lehrer reichen nicht aus.

Zweitens. Die Anrechnungsstunden, die sie für diese Tätigkeit bekommen, reichen hinten und vorne nicht.

Hier muss ernsthaft etwas geschehen. Das möchte ich in meinem Redebeitrag noch einmal besonders benennen.

Frau Günther-Schmidt, lassen Sie uns in der nächsten Legislaturperiode gemeinsam einen derartigen Gesetzentwurf erarbeiten – vielleicht sogar mit der CDU, wir schauen mal – und dann stimmen wir gemeinsam zu.

(Beifall bei der Linksfraktion und den GRÜNEN)

Die SPD-Fraktion; Herr Gerlach, bitte.