Protokoll der Sitzung vom 22.06.2005

Auch Ihre Haltung zu den Hartz-IV-Reformen selbst ist unglaubwürdig. Man muss es den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland immer und immer wieder in Erinnerung rufen, weil es Ihre ganze heuchlerische Verlogenheit vor Augen führt. Die beiden rot-rot regierten Länder Berlin und Mecklenburg-Vorpommern haben sich im Bundesrat feige der Stimme enthalten, als dort die so genannten Hartz-IV-Reformen zur Abstimmung standen! Immer und immer wieder muss deutlich vor Augen geführt werden, dass am Ende wieder einmal selbst in

einem so zentralen Thema wie den Hartz-IV-Reformen Ihre Pöstchengeilheit, Ihre Bereitschaft, den Koalitionsfrieden um jeden Preis zu erhalten, über Ihr soziales Gewissen gesiegt hat! Schon das nimmt Ihnen, meine Damen und Herren von der PDS, jedes moralische Recht, sich nun über die Folgen von Hartz IV zu beklagen.

Vollends aufgesetzt wirkt Ihre Kritik an den Zwangsumzügen dann aber dadurch, dass diese nirgendwo so gnadenlos exekutiert werden wie im rot-rot regierten Berlin.

(Dr. Dietmar Pellmann, PDS: Quatsch!)

Nach der jüngsten Studie des Berliner Stadtforschungsinstituts Topos über Sozialstruktur und Lebensverhältnisse der Hartz-IV-Empfänger in Kreuzberg zahlt zirka ein Drittel der Kreuzberger Hartz-IV-Haushalte Mieten, die über den vom rot-roten Senat festgelegten Höchstgrenzen für angemessenen Wohnraum liegen. Auf Berlin hochgerechnet, würde dies 50 000 bis 70 000 Haushalte betreffen. Dass so viele Hartz-IV-Haushalte in nicht angemessenen Wohnungen leben, verwundert umso mehr, als laut besagter Studie die Betroffenen in Wohnungen leben, die in puncto Größe und Ausstattung deutlich unter dem Gebietsdurchschnitt liegen.

Wenn man Derartiges liest, meine Damen und Herren, fragt man sich unwillkürlich, was für gnadenlose Kriterien für die Angemessenheit ausgerechnet ein rot-roter Senat anlegt, so dass gerade Berlin und nicht etwa ein schwarz regiertes Bundesland zum Schwerpunkt der Zwangsumzugsregelung werden kann.

Ich kann Ihnen daher, werte Genossen der PDS, auch nur den Rat geben, bevor Sie hier vollmundige Forderungen an die Staatsregierung richten und sich als das soziale Gewissen aufspielen: Kehren Sie erst einmal vor der eigenen Tür, denn da liegt nun wahrlich genügend Dreck herum!

(Beifall bei der NPD)

Für die FDP-Fraktion Herr Zastrow, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich glaube, ich habe es an dieser Stelle schon einige Male gesagt: Hartz IV mag ja das richtige Konzept für westdeutsche Regionen mit 4 oder 5 % Arbeitslosigkeit sein, also für Regionen, in denen es wirklich eher ein Arbeitsvermittlungsproblem denn ein Jobangebotsproblem gibt. Für den Osten und für Gegenden mit 15, 20 oder 25 % Arbeitslosigkeit ist es mit Sicherheit das falsche Konzept; denn es bestraft Menschen, ohne ihnen Alternativen zu bieten, und es manifestiert die Ausweglosigkeit für viele Menschen, ohne ihnen Chancen für eine spürbare Verbesserung zu eröffnen. Ich frage Sie: Welchen Vorwurf kann die Politik, können wir Menschen machen, die seit 15 Jahren mit hohem persönlichem Einsatz eine Weiterbildungsmaßnahme nach der anderen besucht haben, die seit 15 Jahren Hunderte von erfolglosen Bewerbungen geschrieben haben? Welchen Vorwurf können wir all denen machen, die trotz ihrer Bereitschaft zum Verzicht auf sehr klassische Arbeitnehmerrechte in Firmen tätig waren, die am Ende Pleite gegangen sind, die es nicht geschafft haben oder

die abgewickelt worden sind? Welches Recht zur Bestrafung hat die Politik gegenüber Menschen, die sich bemüht haben, die immer wieder neu angefangen haben? Sie wissen selbst, wie viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger neue Jobs übernommen und in den letzten Jahren nicht nur einen, sondern zwei oder drei neue Berufe erlernt haben, es aber trotzdem beruflich nicht geschafft haben und eindeutig zu den Verlierern des Transformationsprozesses seit 1990 gehören.

Viele Menschen hatten 1990 große Hoffnungen. Auch die Politik hat, wenn ich mich recht erinnere, diesen Menschen große Hoffnungen gemacht. Wir als Politiker konnten viele Hoffnungen, die diese Menschen hatten, vor allem außerhalb der wenigen Ballungszentren, die wir in Sachsen haben, nicht erfüllen. Die Politik hat kein Recht, diesen Menschen Vorwürfe zu machen. Wer das macht, kann nicht nur fordern, er muss auch fördern. Hartz IV tut genau das nicht.

Wir haben jetzt Hartz IV und müssen damit umgehen. Die möglichen Zwangsumzüge – Dr. Pellmann hat es angesprochen – sind nur ein weiteres Beispiel für die vielen handwerklichen Fehler, die dieses angebliche Reformpaket – diesen Begriff möchte ich am liebsten gar nicht mehr in den Mund nehmen – hat. Statt ein sozial gerechteres System zu haben, sind die Menschen jetzt verunsichert und haben eine Menge Zukunftsängste. Sie haben Ängste vor dem, was kommt, auch wenn sie wahrscheinlich – bei den allermeisten wird es Gott sei Dank so sein – von Zwangsumzügen nie persönlich betroffen sein werden.

Wenn jemand seit vielen Jahren – deshalb kann ich die Ängste sehr gut verstehen –, oftmals schon seit DDR-Zeiten, in einer recht bescheidenen Mietwohnung – das sind doch meistens die Arbeitslosen – oder gar in einem Altbau sitzt und vielleicht noch zu DDR-Zeiten mit viel persönlichem Engagement und auch Geld dazu beigetragen hat, dass dieser Altbau nicht abgerissen worden ist, sondern dass er erhalten werden konnte und vielleicht nach der Wende irgendwann von neuen Eigentümern saniert worden ist, muss ich ganz ehrlich sagen, dass ich weiß, was allein die Vorstellung eines eventuellen Umzuges für den Betreffenden bedeutet. Das bedeutet einfach Verlust der Heimat, das bedeutet Verlust der Identität, und dazu muss ich Ihnen sagen: Angst – und sehr viele Menschen in Sachsen haben Angst – ist ein ganz, ganz schlechter Motivator, um aus dem Teufelskreis der Arbeitslosigkeit herauszukommen.

Herr Zastrow, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja, gern.

Kollege Zastrow, ich frage Sie: Wie stehen Ihre Worte, die sehr mitfühlend klangen, in Übereinstimmung mit der Haltung Ihrer Fraktion im Dresdner Stadtrat, wo Ihr Vertreter in der entscheidenden Sitzung, als es um die Kosten der Unterkunft ging, eine Erhöhung gegenüber der Vorlage der Verwaltung abgelehnt hat, eine Erhöhung, die Umzüge vermeiden sollte, wobei er diese Ablehnung noch mit

den Worten „Alles rausgeschmissenes Geld!“ kommentiert hat?

(Beifall bei der CDU – Uwe Leichsenring, NPD: Hört, hört!)

Herr Gerstenberg, in der Stadtratssitzung war ich wahrscheinlich selbst nicht anwesend. Ich kann mir nicht – –

(Dr. Karl-Heinz Gerstenberg, GRÜNE: Das war Herr Mücke!)

Herr Mücke, hast du das gesagt?

(Zuruf: Nein!)

Bitte keinen Disput über die Ränge! Herr Mücke, bitte.

Hat er jetzt das Wort?

Nein, das geht nicht.

Also, ich kann dazu leider nichts sagen. Ich kann es mir nicht vorstellen, Herr Gerstenberg. Das muss ich dazu sagen. Sie wissen, dass wir als FDP in Sachsen eine etwas andere Position zu diesem Thema einnehmen als viele unserer Landesverbände in einer anderen Ecke in diesem Land.

(Zuruf des Abg. Alexander Krauß, CDU)

Kann ich erst einmal weitermachen? – Gut.

Liebe Kollegen von der PDS, Herr Dr. Pellmann, ich will Ihnen Ihre gute Absicht überhaupt nicht absprechen. Ich glaube, dass Sie sich ernsthaft Sorgen um die Schicksale der Menschen machen. Wir haben eine ganze Menge davon in den Zeitungen gesehen, wobei sicherlich viel Hysterie dabei ist, wobei viele Dinge, denke ich, überspitzt dargestellt worden sind. Ich glaube aber auch: Wenn Sie, ohne diese Zahlen überhaupt zu kennen, davon sprechen, dass Tausende von Zwangsumzügen betroffen sein werden, dann leisten Sie zu der Angst und zu der Verunsicherung, die die Menschen in diesem Land haben, auch einen Beitrag. Ohne dass wir auch nur ansatzweise wissen, wie viele Menschen am Ende tatsächlich dieses Schicksal erleiden könnten, dürfen Sie diese Panikmache nicht betreiben.

Wir als FDP haben beispielsweise gestern Abend noch einmal bei den Verantwortlichen der Stadt Dresden angerufen. Die Stadt Dresden, die als große Stadt voraussichtlich eine ganze Menge Betroffener haben wird, ist zurzeit nicht bereit, auch nur eine Schätzung abzugeben, wie viele tatsächlich Betroffene es dort geben wird.

(Alexander Krauß, CDU: Hat wohl Herr Mücke angerufen?)

Die Einzelfallprüfungen sind in der Stadt Dresden – wie in einer ganzen Menge anderer Kommunen – überhaupt noch nicht erfolgt, so dass kein verlässliches Zahlenmaterial vorliegt. Wir kennen also nicht einmal die Zahlen für die Stadt, in der fast jeder zehnte Sachse lebt, und

wir kennen die Zahlen aus den meisten anderen Kommunen in Sachsen auch nicht. Auf dieser Grundlage, sehr geehrte Kollegen von der PDS, kann man zum heutigen Zeitpunkt keine seriösen Entscheidungen treffen.

Ich möchte Ihnen sagen, was wir aus Sicht unseres Parlamentes tun sollten: Wir sollten erstens den Kommunen vor Ort die Chance geben, alle Möglichkeiten zur Umgehung der Zwangsumzüge zu prüfen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Denn solange die Kommunen die Einzelfallprüfung nicht abgeschlossen haben, so lange gibt es noch eine realistische Chance, dass die allermeisten dieser Zwangsumzüge – wie Sie es gesagt haben und wie Sie es selber wollen – durch die vor Ort bestehenden Toleranzregelungen umgangen werden können. Diese sind von Kommune zu Kommune jeweils ein wenig unterschiedlich, zum Beispiel was die Wohnflächen betrifft, auch was Untervermietungsmöglichkeiten betrifft. Allein durch das Gegenrechnen der zu erwartenden Umzugskosten wird sich einiges lösen lassen.

Zum Zweiten sollten wir auch einmal schauen – ich empfehle allen, den Mut dazu zu haben –, wie sich solch ein Wohnungsmarkt entwickelt. Versuchen Sie beispielsweise einmal, in Dresden zurzeit eine Ein- oder eine Zweiraumwohnung zu suchen und anzumieten. Dann werden Sie merken, dass das sehr kompliziert ist. So einfach geht das nicht mehr. Denn erstens haben sich viele Menschen aufgrund der Arbeitslosigkeit und der sozialen Not, die nicht plötzlich durch Hartz IV kommt, sondern die schon sehr lange existiert, bereits in den letzten Jahren kleinere Wohnungen gesucht. Sie haben also Vorsorge betrieben. Zum anderen ist jetzt durch die Androhung und die Umsetzung von Hartz IV ein richtiger Run – es ist ein richtiger Boom – auf den Markt von kleinen Wohnungen passiert. Das führt dazu, dass in diesem Bereich – das trifft selbst kommunale Wohnungsgesellschaften; wer sich ein bisschen mit Immobilien auskennt, wird mir Recht geben – inzwischen Preissteigerungen zu verzeichnen sind, bei denen ich am Ende sehr gern sehen möchte, ob sich für den einen oder anderen, der aus einer größeren Wohnung in eine kleinere Wohnung umziehen soll, der Umzug überhaupt noch lohnt.

Es ist sehr wichtig, die Einzelfallprüfungen abzuwarten. Glauben Sie mir eines: In einer Stadt wie Dresden, in der es ungefähr 35 000 leer stehende Wohnungen gibt – in Leipzig sind es mit Sicherheit nicht weniger –,

(Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Pellmann, PDS)

wäre jeder Vermieter ein sehr schlechter Kaufmann, wenn er am Ende wegen zehn oder 50 Euro auf einen langjährigen Mieter verzichtet und ihn ziehen lässt. Ich glaube, dass auch dort der Markt einiges regeln wird. Es wird nur sehr wenige Vermieter in Sachsen geben, die bereit sind, für einen kurzfristigen Vorteil ein hohes und langes Leerstandsrisiko einzugehen.

Liebe Kollegen von der PDS, ich empfehle Ihnen, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. Denn bei aller berechtigten Sorge glaube ich, dass wir in diesem Parlament erst eine Entscheidung über eventuelle Maßnahmen treffen können, wenn wir zügig – es ist ganz klar, wir dürfen das nicht auf die lange Bank schieben – vernünftiges Zahlenmaterial vorliegen haben und uns ein richtiges Bild über die Situation in Sachsen

machen können, keines, das wir über irgendwelche Zeitungen vermittelt bekommen, sondern eines, das tatsächlich und seriös erhoben wird.

Deswegen bitte ich Sie, unserem Änderungsantrag zuzustimmen.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Dr. Dietmar Pellmann, PDS)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Herrmann, bitte.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir jetzt von Herrn Zastrow so viel über Angst und Betroffenheit gehört haben, will ich versuchen, uns aus dem depressiven Loch wieder herauszuholen.

(Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der Staatsregierung)

Die PDS fordert in ihrem Antrag eine ganze Reihe von Maßnahmen, die geeignet sein sollen, Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II vor Zwangsumzügen zu bewahren. Dabei scheint sie von großer Eile gepeinigt, weil zum 1. Juli erste Folgen der Regelungen zu den Kosten der Unterkunft eintreten. Der Landesbeirat für die Umsetzung des Sozialgesetzbuches II soll quasi als Feuerwehr Sofortmaßnahmen veranlassen, die die Wunden der Betroffenen wie der Kommunen heilen sollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag ist verständlich in seiner Sorge um die Betroffenen, aber er geht an der Situation und am Ansatz des Gesetzes vorbei.

In § 22 SGB II wurde geregelt, dass die Kosten der Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe übernommen werden, sofern sie angemessen sind.