Protokoll der Sitzung vom 11.11.2004

Meine Damen und Herren! Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe zunächst den Änderungsantrag der PDS-Fraktion in der Drucksache 4/0191 auf. Ich frage Sie, wer diesem Antrag seine Zustimmung geben kann. – Danke schön. Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Bei einigen Stimmenthaltungen und Stimmen dafür ist dieser Antrag doch mehrheitlich abgelehnt worden.

Nun kommen wir zum Änderungsantrag der FDP-Fraktion in der Drucksache 4/0186. Hier geht es darum, den Inhalt dieses Antrages an den Inhalt des Antrages der CDU-Fraktion anzuschließen, also zu ergänzen. Ich frage, wer der Drucksache 4/0186 zustimmen kann. Ich bitte um das Handzeichen. – Danke schön. Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Bei einigen Stimmenthaltungen und Stimmen dafür ist dennoch dieser Änderungsantrag mehrheitlich abgelehnt worden.

Also bleibt uns die Abstimmung zum Antrag der CDUFraktion in der Drucksache 4/0103, „Sächsische Bundeswehrstandorte“. Wer dieser Drucksache zustimmen kann, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke schön. Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Vielen Dank. Bei Stimmenthaltungen und Gegenstimmen ist dieser Antrag mehrheitlich angenommen worden. Damit ist dieser Tagesordnungspunkt beendet. Wir gehen über zum

Tagesordnungspunkt 5

Für eine achtjährige gemeinsame Schulzeit aller Schülerinnen und Schüler

Drucksache 4/0079, Antrag der Fraktion der PDS

Hierzu können die Fraktionen Stellung nehmen. Die Reihenfolge in der ersten Runde ist: PDS als Einreicherin, CDU, SPD, NPD, FDP, BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN und die Staatsregierung, wenn gewünscht. Ich erteile der PDS-Fraktion als Einreicherin das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen von der CDU! Ich würde mir wünschen, dass Sie halb so viel Engagement zeigen würden, wenn es um die Schulschließungen geht.

(Beifall bei der PDS)

Das ist aber jetzt nicht mein Thema, sondern ein anderes.

Die frühzeitige Trennung des Bildungsweges gehört im internationalen Vergleich zu den Besonderheiten des deutschen Schulsystems und ist gleichzeitig eine seiner größten Schwächen. In der Regel schon nach dem ersten Halbjahr der 4. Klasse erhalten die Eltern eine Bildungsempfehlung für den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder, die von den Grundschullehrerinnen und -lehrern verantwortungsbewusst und sorgfältig erstellt wird.

Die Pisa-Studie und die Iglu-Studie haben aber nachgewiesen, dass diese Empfehlung oft nicht optimal gelingt oder, wenn doch, nicht selten von dem Elternwillen umgestoßen wird. Das Schulkind wird dabei zum Subjekt und kann objektiv nicht bei der Entscheidung mitwirken.

Alle demokratischen Parteien außer der CDU haben im zurückliegenden Wahlkampf für eine längere gemeinsame Schulzeit plädiert. Lassen Sie mich hier noch einmal darstellen, welche Argumente dafür sprechen und welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind.

Erstens: Die frühe Auslese schließt Spätentwickler von einer fairen Beurteilung bei der Bildungsempfehlung und damit von gerechten Bildungschancen aus. Eine so genannte Durchlässigkeit, also der spätere Wechsel von der Mittelschule an das Gymnasium, von der immer wieder geredet wird, ist in Wahrheit nicht gegeben. Wie sollte dieser Wechsel funktionieren, wenn zum Beispiel an den Gymnasien in der 6. Klasse eine zweite Fremdsprache eingeführt wird, an der Mittelschule jedoch nicht?

Der entsprechende Passus in der Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien zeigt, merke ich an, dass dieses

Problem durchaus wahrgenommen wird. Wer ihn noch nicht gelesen hat, der sollte das bei Gelegenheit tun, denn was da geschrieben wird, kann nicht einmal als Absichtserklärung ernst genommen werden. Leider ist das nicht der einzige Schwachpunkt in dieser Vereinbarung.

Zweitens: Eine längere gemeinsame Schulzeit fördert entscheidend die Entwicklung des Sozialverhaltens und der Sozialkompetenz.

(Beifall bei der PDS)

Die Kinder lernen Möglichkeiten zur gemeinsamen Hilfe effektiv kennen. Führungskompetenzen können sich wesentlich besser entwickeln. Die gegenseitige Erfahrung unterschiedlicher Lebenswelten ist möglich. Das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt, weil heute Kinder die unterschiedlichen Lebenswelten gar nicht mehr kennen lernen.

Für Ausländer- und Aussiedlerkinder ergeben sich weitaus bessere Integrationsmöglichkeiten. Ich möchte ausdrücklich anmerken, dass dieser Aspekt nicht nur durch die Interessen der betroffenen Kinder begründet ist; schließlich geht es auch darum, Benachteiligungen von Schülerinnen und Schülern wegen ihrer sozialen Herkunft zu verringern. Solche Benachteiligungen wirken sich für die Gesellschaft verheerend aus, weil damit soziale Unterschiede wie eine Kettenreaktion vertieft und verfestigt werden.

Was der Einzelne aus seinen Chancen macht, hängt immer von vielen Faktoren ab. Das ist ganz klar. Aber ob ein Kind bestimmte Bildungschancen überhaupt bekommt, darf nicht von seiner sozialen Herkunft abhängen. Das ist nicht nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch existenziell für unsere Gesellschaft.

(Beifall bei der PDS)

Drittens: Nur eine längere gemeinsame Schulzeit ermöglicht eine adäquate individuelle Förderung aller Kinder und damit meine ich ausdrücklich: der Leistungsstarken, des Mittelfeldes und der Leistungsschwachen. Diese Einteilung ist ja nicht statisch. Sie kann sich zum Beispiel durch optimale Förderung im Laufe der Zeit verändern. Eine frühzeitige Trennung ist aber gleichbedeutend mit einer statischen Einteilung und geht klar am Ziel vorbei. Ich denke dabei auch an Schülerinnen und Schüler, die

heutzutage eher irrtümlich zum Gymnasium gekommen sind und die Anforderungen bereits in der 5. und 6. Klasse nicht oder nur schwer, vielleicht nur mit Nachhilfeunterricht erfüllen können. In einer Regelschule wären sie nicht bis zur 8. Klasse hintan, sondern könnten sich entwickeln. Individuelle Förderung könnte mit dynamischen Zielstellungen optimiert werden. Vielleicht zeigt sich in der 8. Klasse, dass die Anforderungen eines Gymnasiums und der Sekundarstufe II erfüllt werden können, vielleicht auch nicht. Das ist auch ein Ergebnis, das immerhin besser ist als ein nicht bestandenes Abitur. Dieselbe Argumentation gilt umgekehrt natürlich auch für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die heutzutage irrtümlich nicht aufs Gymnasium gehen.

Das Stichwort Ganztagsschule gehört auch an diese Stelle. Es liegt auf der Hand, dass für das Konzept der individuellen und optimalen Förderung hier schon rein organisatorisch bessere, besonders gute Voraussetzungen bestehen. Aber Ganztagsschule ist für sich ein Konzept und keine organisatorische Maßnahme. Deshalb möchte ich heute nichts weiter dazu ausführen, sondern es erst einmal bei diesem Stichwort belassen.

Viertens: Eine längere gemeinsame Schulzeit entspricht auch dem Grundsatz der Selbstbestimmung. – Jetzt muss ich erst einen Schluck trinken, damit das auch gut rüberkommt.

(Beifall bei der PDS)

Zitat aus der Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien; damit Sie es schneller finden: Seite 25: „Bildung und Erziehung sollen junge Menschen zu einer selbstbestimmten und verantwortungsvollen Lebensgestaltung befähigen.“ Wie wollen Sie das schaffen, wenn Sie das nicht irgendwie verändern?

In der 8. Klasse sind die Schülerinnen und Schüler – anders als in der 4. Klasse – durchaus in der Lage, gemeinsam mit ihren Eltern verantwortlich über ihren weiteren Bildungsweg zu bestimmen. Auch die Eltern, die für ihr Grundschulkind eher tradiert entschieden, haben inzwischen ihre Kompetenz tatsächlich gewonnen. Eine Bildungsempfehlung ist deshalb überhaupt nicht mehr notwendig und irgendwelche Quotierungen, die es nach wie vor irgendwo gibt, auch nicht. Ich halte diesen Aspekt für sehr wichtig.

Sehr geehrte Damen und Herren! Die gemeinsame Schulzeit, die bis zur 8. Klasse führt, ist keine Einheitsschule. Wer so etwas von sich gibt, hat entweder keinerlei Kompetenz zum Thema oder will unredlich Leute verdummen. Merke: Gemeinsame Schule ist keine Einheitsschule, im Gegenteil, denn erst die längere gemeinsame Schulzeit eröffnet die Möglichkeit zur optimalen Ausschöpfung der individuellen Potenzen.

Auch ohne weitere Ausführungen zur Umsetzung dieses Konzeptes ist absehbar, dass eine gemeinsame Schulzeit bis zur 8. Klasse nicht durch einen Verwaltungsakt erledigt wird, sondern in eine umfassende Reform des Lehrens und Lernens eingebettet sein muss. Darum geht es eigentlich.

Zu meinem Bedauern muss ich beim Lesen des Koalitionsvertrages zwischen der CDU und der SPD feststellen, dass davon entgegen den Ankündigungen keine

Rede mehr ist und die gemeinsame Schule bis zur 8. Klasse überhaupt nicht mehr vorkommt.

(Gunther Hatzsch, SPD: Richtig lesen!)

Sehr geehrte Damen und Herren der SPD! Ich gehe davon aus, dass Sie nicht vergessen haben, was Ihre Aussagen im zurückliegenden Wahlkampf waren. Wenn doch, möchte ich Sie hier und heute daran erinnern. Deshalb fordere ich Sie besonders auf, unseren Antrag als ersten Schritt für eine dringend notwendige umfassende Reform des Lehrens und Lernens zu unterstützen.

(Beifall bei der PDS)

Die CDU-Fraktion ist an der Reihe. Herr Colditz, bitte.

(Dr. André Hahn, PDS: Einfach zustimmen, dann sind wir schnell fertig!)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bis zum Ende der vorigen Legislaturperiode haben wir umfänglich die Erfordernisse der Schulentwicklung im Land diskutiert, mit der Novelle des Schulgesetzes neue rechtliche Rahmenbedingungen beschrieben, durch eine umfängliche Reform der Lehrpläne Erfordernisse der Wissens- und Kompetenzentwicklung neu gewichtet und damit Qualitätsentwicklung in unseren Schulen auch neu ins Blickfeld gerückt. Insofern befinden wir uns schon längst in einem tiefgreifenden Reformprozess und es bedarf keiner weitreichenden Initiative, ihn erst in Gang zu setzen. Meine Damen und Herren, im Mittelpunkt aller notwendigen Initiativen gerade nach „Pisa“ steht das Erfordernis, die Qualität schulischer Ausbildung zu erhöhen. Diesem Qualitätsanspruch werden wir aber dann gerecht, wenn Schülerinnen und Schüler über dauerhaft verfügbares, flexibles, abrufbares und anwendungsbereites Wissen verfügen. Ich denke, das ist auch die Kernbotschaft, die Kernanalyse der Pisa-Studie, wenn Schüler mit Kompetenzen zum Erwerb neuer Einsichten kreativ umgehen können. Insofern stellen sich bei der Auseinandersetzung um die qualitative Weiterentwicklung der Schullandschaft vordergründig eben nicht Organisationsund Strukturfragen, sondern vielmehr die Frage nach der von der konkreten Einzelschule auszugestaltenden Organisation des Unterrichts einschließlich der dazu notwendigen Rahmenbedingungen.

Ziel des Unterrichts aus Sicht des Schülers muss es sein, nicht einen Zeugnisabschluss zu erlangen, sondern das Weiterstreben nach Bildung zu befördern. Oder wie Humboldt feststellte: Der Schüler ist reif, wenn er so viel gelernt hat, dass er für sich selbst zu lernen imstande ist.

Wenn man diesem Ansatz folgt, meine Damen und Herren, lassen sich auch die Herausforderungen an einen qualitativ weiterentwickelten Unterricht analysieren. Es geht um die Entwicklung und Vermittlung langfristiger Lernstrategien statt kurzfristiger Wissensvermittlung. Es geht um die Vermittlung von grundlegend flexibel verfügbaren Wissensbeständen statt kurzfristig vorrätigem Routinewissen. Es geht um die Befähigung zum selbständigen und kumulativen Wissenserwerb.

Diese Zielvorgaben zu erfüllen erfordert aber eben nicht in erster Linie, meine Damen und Herren, das System organisatorisch auf den Kopf zu stellen.

Welche der eben beschriebenen qualitativen Gestaltungserfordernisse an ein modernes Lehren und Lernen sollen denn durch eine generelle Infragestellung des entwickelten und deutschlandweit anerkannten Schulsystems hier in Sachsen erreicht werden? Lediglich die Organisationsstruktur zu ändern ist doch kein Ansatz, um zu qualitativ inhaltlicher Verbesserung schulischer Angebote zu gelangen.

Meine Damen und Herren, dem Antrag zu folgen hieße, ein Chaos an unseren Schulen zu initiieren. Vorliegende Lehrpläne würden Makulatur. Räumliche Gegebenheiten würden in ihrer Kapazität nicht mehr ausreichen. Notwendige Schulnetzplanungsentscheidungen und Fragen des Personaleinsatzes würden für zusätzliche Unruhe sorgen, für eine Unruhe, die kein wirksames Ergebnis von Schulentwicklung zur Folge hätte.

Diese Meinung, meine Damen und Herren, wird auch von jenen vertreten, die sich tagtäglich dem Schulalltag praktisch stellen. Ich kann hier wörtlich aus einem kürzlich vom Sächsischen Lehrerverband verfassten Schreiben zitieren. Dort heißt es: „Der Sächsische Lehrerverband bekennt sich auch weiterhin zum zweizügigen Schulsystem und lehnt eine generelle Veränderung der Schulstruktur ab. Dies würde zu großen Unruhen an den Schulen und einem gewaltigen Durcheinander führen. Lehrer und Schüler brauchen Ruhe zum Arbeiten. Wir können uns auch nicht vorstellen, dass eine Verkürzung der Realschulzeiten des Gymnasiums zu einer Qualitätssteigerung führt, weil bei der Pisa-Studie das Gymnasium viel bessere Ergebnisse als Gesamtschulen erzielt hat.“ Ende des Zitats. Soweit die Meinung der Praxis. Ich kann feststellen, dass dies auch vom Philologenverband ähnlich gesehen wird.

Meine Damen und Herren! Nicht unberücksichtigt bleiben kann auch die Tatsache, dass wir mit den vorhandenen Schulstrukturen an die Anerkennung der Kultusministerkonferenz gebunden sind. Eine gesetzliche Verankerung einer flächendeckenden gemeinsamen Schulzeit von acht Jahren stellt letztlich auch unseren Gymnasialabschluss gegenüber der KMK grundsätzlich infrage. Aber auch abgesehen von der Anerkennungsfrage wäre in vier Jahren lediglich ein „Abitur light“ zu realisieren.

Schließlich noch ein Wort zur immer wieder neu in die Diskussion gebrachten Sozialselektion, die durch gemeinsame Schulangebote angeblich vermieden werden kann. Ich halte das persönlich für einen etwas überhöhten ideologischen Ansatz. Schule hat den Auftrag, durch Förderung und Ausgestaltung von individuellen und auch differenzierten Bildungsbiografien auf die Orientierung und Leistungsfähigkeit der Gesellschaft hinzuwirken. Hier gibt es zweifellos noch Handlungsbedarf, dem wir durch eine stärkere individuelle Förderung noch mehr entsprechen müssen.

(Zuruf von der CDU: Richtig!)

Zudem schafft aber die Chance der einzelschulischen Profilierung bis hin zur im Koalitionspapier genannten Möglichkeit der Einrichtung von Gemeinschaftsschulen

unter bestimmten Gegebenheiten auch eine Grundlage, Erfahrungen in diesem Bereich zu sammeln. Insbesondere bei der Analyse dieser Entwicklung wird dann künftig hoffentlich auch eine sachbezogenere und ideologiefreiere Diskussion möglich sein, als sie bisher geführt wird.

Ich denke, wir tun gut daran, meine Damen und Herren, unser Schulsystem nicht in Bausch und Bogen infrage zu stellen, sondern aufzubauen und vorhandene Strukturen inhaltlich auszubauen, zu ergänzen und weiterzuentwickeln.