– Nein. – Nationalversammlung einzuberufen ist, um eine neue Verfassung zu verabschieden, ignoriert. Dieser Grundgesetz-Artikel 146 wurde missachtet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat: Der 9. November ist ein Tag, der wie kein anderer in Deutschland die ganze Spanne der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert in sich vereint. Herr Prof. Weiss hat den 09.11.1918 angesprochen, das Ende des Ersten Weltkrieges. Jenes Schlachten, das zum ersten Mal in Europa industriell veranstaltet wurde, das die Politologen als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen, war zu Ende. Die Verursacher wollten die Verantwortung nicht tragen. Die Demokraten mussten das übernehmen und hatten letztendlich auch den Preis dafür zu zahlen.
Scheidemann ruft von einem Fenster des Reichstages die Republik aus. Und das ist eine andere Republik, Herr Külow, als die Räterepublik, die Liebknecht zwei Stunden später vor dem Schloss verkündet hat. Es ist dort nicht zweimal die gleiche Republik, sondern es sind zwei Gegenentwürfe verkündet worden: der eine, der demokratische, der repräsentative; der andere, der Entwurf einer Räterepublik, ein kommunistisches Modell. Auch daran scheiterte Deutschlands erste Demokratie im 20. Jahrhundert. Sie war von Anfang an in der Defensive nach außen wie auch nach innen. Es gab zu wenig Demokraten und zu viele Feinde, zu viele Feinde des demokratischen Systems von Links, vonseiten der KPD, wie auch von Rechts, insbesondere vonseiten der NSDAP.
1923 war das erste Wetterleuchten von dem, was kommen sollte. Hitler unternimmt in München den Bierhallenputsch, einen wirklich dilettantisch ausgeführten Operettenputsch, über den man eigentlich nur lachen könnte, wenn er nicht bereits in sich das getragen hätte, was zehn Jahre später die Macht ergreifen sollte. Die Demokraten haben, kurz und knapp, Hitler unterschätzt in seinem Machtwillen, in seinem Hass auf die Demokratie, in seinem Hass auf die Rechte anderer, und sie haben die Bereitschaft des eigenen Volkes unterschätzt, diesen Leuten zu folgen.
1938 war die Demokratie dann bereits seit fünf Jahren beseitigt. Seit 1933 herrschte die Gewalt und nicht mehr das Recht. Aber am 9. November 1938 wurde dies nun offen. Es wurde offen sichtbar, es war offen organisiert, es war öffentliche Gewalt, die das organisiert hatte.
Grölende Schlägertrupps der SA – ich scheue mich nicht zu sagen: uniformierter Pöbel – zündeten, beschützt von
Polizei und Feuerwehr, Gotteshäuser der jüdischen Mitbürger an, plünderten Geschäfte und Wohnungen der jüdischen Mitbürger, machten Jagd auf sie, demütigten und misshandelten sie und töteten in vielen Fällen. Und die Deutschen an diesem 9. November 1938? Sie schauten zu.
Dieser 9. November 1938 erfüllt uns auch heute noch mit Scham. Er ist einer der schändlichsten Tage, die in Deutschland zu sehen waren. Von hier aus führte der Weg geradewegs nach Auschwitz, dem absoluten Tiefpunkt, den die menschliche Zivilisation bis heute erreicht hat. Aber dieser 9. November 1938 ist nicht nur Geschichte, er ist nicht nur Mahnung, er ist auch Auftrag. Denn solange in Deutschland Politiker sind – insbesondere auch in diesem Landtag –, die davon reden, eine Volksherrschaft errichten zu wollen, die Herrschaft eines Volkes, das – Zitat Herr Gansel – „eine Abstammungsgemeinschaft ist“, so lange müssen wir uns dem entgegenstellen.
(Beifall bei der FDP, der CDU, der Linksfraktion.PDS, der SPD, und den GRÜNEN – Uwe Leichsenring, NPD: Wer soll denn sonst herrschen!)
Das deutsche Volk ist keine Abstammungsgemeinschaft. Mit mir ist ein solches völkisches, rassistisches Verständnis des deutschen Volkes niemals zu machen.
Meine Damen und Herren! Was passiert, wenn wir das Volk als Abstammungsgemeinschaft definieren und eine Herrschaft dieses Volkes, ein solches völkisches System errichten, haben wir am 09.11.1938 gesehen. Dort sind – ich zitiere die damalige Presse – „volksfremde, undeutsche Elemente behandelt worden und sie haben den Zorn des deutschen Volkes erfahren, das gesunde Volksempfinden“, meine Damen und Herren. Es gibt immer noch welche, die sich offensichtlich nicht schämen, nicht einmal heute, solche Dinge weiter zu proklamieren und in den Mund zu nehmen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Der 9. November – ja, die Stimmlage irritiert ein wenig, ich bin erkältet – ist ein Tag für die Deutschen, der in einer Art und Weise historische Irrtümer und Siege verknüpft, die ein ganzes Jahrhundert durchziehen, was kaum ein anderes Volk, ein anderes Land für sich in Anspruch nehmen kann.
Am 9. November 1918 verweigerten Matrosen der Hochseeflotte in Kiel und Wilhelmshaven einem Staat die Gefolgschaft, weil er sinnlos handelte. Kurz darauf trat der Kaiser zurück und die Republik wurde ausgerufen,
und zwar 14 Uhr von Philipp Scheidemann vor dem Reichstag. Das ist die Republik, von der ich rede. 24 Stunden später – nur 24 Stunden später! – hat die Oberste Heeresleitung Deutschlands die Loyalität zu dieser Republik erklärt. Am selben Tag hat auch noch Sachsen die Republik ausgerufen.
Interessant ist, wenn man sich den Zeitgeist dieses Jahres 1918 einmal ansieht: Damals wurde von Oswald Spengler „Der Untergang des Abendlandes“ veröffentlicht. Eine bedrohliche Szenarienfolge wurde im Laufe der nächsten Jahrzehnte aufgemacht, dass der ganze abendländische Kulturkreis dem Untergang entgegenstrebe. Es wurde aber zum Beispiel auch das Buch von Thomas Mann „Die Betrachtung eines Unpolitischen“ veröffentlicht. Übrigens wurde Eduard Beneš 1918 Außenminister der Tschechischen Republik.
Am 9. November 1923 ist es allerdings so gewesen, dass es diesen Marsch in München, der ein Marsch auf Berlin werden sollte, gegeben hat. Hitler wurde zu fünf Jahren verurteilt, von denen er 13 Monate absaß inklusive der Untersuchungshaft. Die Justiz war so unglaublich milde mit diesem Mann. Das war aber auch das Jahr, in dem Sigmund Freud „Das Ich und das Es“ veröffentlicht hat. Wer sich ein bisschen in diesen Sachen auskennt, wird merken, dass sich auch da ein anderer Zeitgeist zu entwickeln begann.
Am 9. November 1938 war dann die Reichspogromnacht, die gerade eindrücklich geschildert wurde. Zum äußeren Anlass genommen wurde die Erschießung eines Legationsrates am 7. November in Paris durch einen siebzehnjährigen jüdischen Deutschen, Herschel Grynszpan. Er hatte erfahren, dass seine Familie deportiert worden war. In seiner Verzweiflung und Not ging er mit seinem siebzehnjährigen Herz in die Deutsche Botschaft und erschoss dort einen Legationsrat. Das war am 7. November, zwei Tage vor dem 9. November. Der junge Mann war verzweifelt.
Bereits am 7. November kam es auch schon in Deutschland zu ersten Übergriffen gegen Juden. Das ging am 8. November weiter. Am 9. November abends 22 Uhr sprach Goebbels vor einer ganzen Reihe von hohen NSDAP-Funktionären und „alten Kämpfern“ anlässlich des 15. Jubiläums und Jahrestages dieses kleinen Hitlerputsches 1923, den alle unterschätzt hatten. Er hat gemeint, „die Juden“ wären für den Mord an dem Legationsrat Rath schuldig. Deswegen würde die Polizei auch nicht dagegen stehen, wenn jetzt überall Pogrome stattfänden.
Das müssen manche hellseherisch vorausgesehen haben. Denn in Chemnitz begannen die Pogrome bereits 19 Uhr. Da war der Volkszorn ganz bestimmt nicht spontan, sondern das heißt, das war alles von langer Hand organisiert und vorgeplant.
Übrigens ist das auch das Jahr, in dem Richard Chamberlains Appeasement-Politik in den letzten Zügen lag. Es ist auch das Jahr, in dem Eduard Beneš begriff, dass er nicht
Und der 9. November 1989? Wieder die Situation, dass Leute einem Staat, weil er sinnlos handelte, die Gefolgschaft verweigerten – völlig korrekt – und ein verhutzelter, sich verhaspelnder Schabowski vor die Kameras tritt und erzählt: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ – Dann wird gefragt: „Ab sofort?“ – „Ähm, ja, ähm, ab sofort.“
Wenn Sie sich an diese Situation bitte erinnern wollen: Wie wenig es eigentlich braucht, eine Regierung, die nicht durch Autorität und Demokratie legitimiert ist, abzusetzen, das zeigen 1918 und 1989; es ist übrigens auch das Jahr, in dem Rolf Henrich „Der vormundschaftliche Staat“ veröffentlicht hat.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Kollegen Weiss sehr dankbar, dass er es noch einmal auf den Punkt gebracht hat: Der 9. November ist ein Schicksalstag für die Deutschen und ihre Geschichte. Hier bündeln sich Licht und Schatten, Gutes und Schlechtes, und man kann die Meilensteine der Deutschen auf ihrem langen Weg in die Demokratie am 9. November verfolgen.
Die Erschießung von Robert Blum signalisierte eigentlich das Ende unserer ersten demokratischen Revolution von 1848 und, Herr Külow, den beanspruchen wir, die Demokraten, als unseren Vorläufer. Ich glaube, Sie sollten ihn nicht in einen Kommunisten umdeuten.
Sie erlauben, dass auch für den Urenkel eines sozialdemokratischen Soldatenrates der 9. November 1918 ein besonderes Datum ist. Endlich gelingt die Errichtung der ersten Republik – übrigens mit ihrer schwarz-rotgoldenen Fahne und dem Deutschlandlied, das damals als Hymne eingeführt wurde.
Meine Damen und Herren! Schon 1923 – wir haben es bereits mehrmals gehört – putschten Hitler und Ludendorff gegen die verhasste Weimarer Republik, gegen die November-Verbrecher; und eigentlich war es auch eine Schande für die ungefestigte, schwache Demokratie, dass sie dem Rechtsextremisten noch Gelegenheit gab, in ehrenvoller Festungshaft „Mein Kampf“ zu schreiben.
Herr Martens, ich stimme ja mit Ihnen weitestgehend überein, aber zum Lachen war das nicht. Entschlossenes Handeln der Demokraten hätte schon damals dem Nationalsozialismus ein Ende setzen können. Man hätte in
dieser ersten Republik eine Identität erzeugen müssen, die die Bürger dazu gebracht hätte, sich mit ihrem Staat zu identifizieren. Dies ist nicht gelungen. Die Weimarer Republik scheiterte am Mangel an Demokraten. Dem deutschen Volk wären die Hitlerdiktatur, die Reichspogromnacht und unsägliche Schuld erspart geblieben. Meine Damen und Herren, diesen Fehler, dass Demokratie und Demokraten schwach sind, dürfen wir nicht wiederholen!
Der 9. November ist aber auch der Tag, an dem die Mauer fiel – übrigens ein Schandmal, das die Kommunisten errichteten, um die Deutschen zu teilen und einzusperren, und, Herr Külow, es ist überhaupt kein Geschichtsrevisionismus, wenn wir heute sagen, mit unserer friedlichen Revolution haben wir im Osten das erste Mal in der deutschen Geschichte aus eigener Kraft ein demokratisches Gemeinwesen errichtet. Der Nationalsozialismus musste durch die Alliierten beseitigt werden; den Kommunismus überwanden die Deutschen selbst. Dies führte nicht nur zur Wiedervereinigung unseres Landes, sondern legitimierte vor allem diese Wiedervereinigung in den Augen der Nachbarvölker. Zusammen mit unseren Leidensgenossen – wir waren ja viele Jahre in derselben Situation mit den Völkern Mittel- und Osteuropas – überwanden wir auch die Spaltung Europas und leiteten eine neue – diesmal hoffentlich gute – Epoche der Weltgeschichte ein.
Meine Damen und Herren! „Unsere ganze Geschichte bestimmt die Identität unserer Nation. Wer einen Teil davon verdrängen will, der versündigt sich an Deutschland“, hat unser Bundespräsident Horst Köhler – und auch dies ist ein wichtiges Datum – am 8. Mai 2005 in Berlin gesagt. Die Deutschen sind nach 1990 – entgegen allen Befürchtungen – nicht in einen überheblichen Nationalismus verfallen. Sie blicken nicht chauvinistisch auf andere Völker herab. Sie haben aus ihrer Geschichte gelernt – bis auf einen, Herr Gansel, kleinen unbelehrbaren Teil.
Heute sind wir im vereinten Europa nur von Freunden umgeben, eigentlich das erste Mal in unserer Geschichte, und das, meine Damen und Herren, lassen wir uns von niemandem kaputtmachen, von niemandem, der es vielleicht versuchen will. Vor allem diese Lehre, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir aus dem 9. November ziehen, und wir sollten diese Debatte eigentlich regelmäßig an diesem Tag wiederholen.
wurde bereits darauf hingewiesen: Heute vor 67 Jahren, am 9. November 1938, brannten überall in Deutschland die Synagogen, zertrümmerten braune Schlägerbanden jüdische Geschäfte und Wohnungen, 91 jüdische Mitbürger wurden ermordet, Zehntausende verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Das Ganze geschah unmittelbar nach einer regelrechten Hetzrede von Goebbels. Wie wir heute wissen, war dies nur der schreckliche Anfang, die schreckliche Ouvertüre für das Unfassbare: die systematische und industrielle Vernichtung von mehreren Millionen Juden. Wir alle wissen: Am Ende kehrte das Feuer in das Land der Brandstifter zurück. Millionen Tote, Verwundete, Vertriebene, ein verwüstetes Land – das war es, was vom nationalsozialistischen Größenwahn zurückblieb.
Aber es gab nach diesem verheerenden Inferno für den größeren Teil Deutschlands immerhin auch die Möglichkeit zum demokratischen Neuanfang, und diesmal wurde die große – und eigentlich unverdiente – Chance auch beherzt genutzt. Unsere Landsleute haben ein neues, ein demokratisches, friedliebendes, ein offenes und sympathisches Deutschland aufgebaut, welches heute auf der ganzen Welt geachtet wird – trotz des unglaublichen Zivilisationsbruches, den unser Volk zu verantworten hat, weil nämlich konsequent die richtigen Schlüsse aus jener unseligen Vergangenheit gezogen wurden.