Protokoll der Sitzung vom 26.01.2006

(Beifall bei der FDP und der Linksfraktion.PDS)

Die Fraktion der GRÜNEN erhält das Wort. Frau Herrmann, bitte.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht zu übersehen: Gegenwärtig stehen die Themen Kindheit und Familie mehr denn je im Zentrum der Aufmerksamkeit und der politischen Auseinandersetzung. Angetrieben werden die Diskussionen von dem Anspruch von Frauen und Männern, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Weil dabei viele potenzielle Mütter und Väter immer noch an unzulänglichen Rahmenbedingungen scheitern, werden immer weniger Kinder im Land geboren.

Wir kennen die mit diesem angeblichen Gebärstreik verbundenen Szenarien. Soziale Sicherungssysteme drohen zu scheitern, Schulen werden jetzt schon geschlossen, von der Wirtschaft wird ein erheblicher Fachkräftemangel für die nächsten Jahre prognostiziert.

Die Forderung lautet daher: Deutschland muss familienfreundlicher werden. Meistens wird damit gleichgesetzt, dass unser Land gleich auch kinderfreundlicher wird.

Die Bundesfamilienministerin, Frau von der Leyen, hat einige Vorhaben genannt und zum Teil auf den Weg gebracht, die sie für geeignet hält, diese Forderung zu erfüllen. Die Linksfraktion will mit dem Antrag die Diskussion zu den Vorschlägen aus Berlin hier in Sachsen aufnehmen und möchte von der Staatsregierung wissen, wie sie zu den Vorschlägen steht und was davon wie in Sachsen umgesetzt werden könnte.

Dem Punkt 1 des Antrages stimmen wir zu. Meine Überlegungen im Folgenden beziehen sich auf den zweiten Punkt.

Richtig ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: Bildung beginnt nicht mit dem Überreichen der Zuckertüte und dem Schuleintritt. Kinder lernen von Anfang an. Die Kitas sind ein wesentlicher Ort, an dem Kinder sich mit der Welt im weitesten Sinne auseinander setzen. Wir nennen diese Auseinandersetzung zu Recht frühkindliche Bildung. Deshalb ist nach unserer Auffassung, die ich hier auch schon wiederholt vertreten habe, der Bildungsplan des seit dem 01.01.2006 gültigen Kita-Gesetzes auch das Herzstück dieses Gesetzes. Wenn Bildung im Vordergrund des Auftrags der Kita steht und nicht die Betreuung, ist die logische Konsequenz die kostenfreie Kita. Das sehen wir genauso wie die Linksfraktion und Frau von der Leyen. Das muss die Perspektive sein.

Aber wir Erwachsenen machen häufig einen Fehler: Wir gehen nur von unserem Standpunkt aus und es fällt uns schwer, die Sichtweisen der Kinder einzunehmen. Kinder brauchen für ihr Aufwachsen Vertrauen, wenn Sie so wollen: Urvertrauen. Sie brauchen die Hand, die Sicherheit bietet, die verlässlich ist, und deshalb brauchen sie die Familie. Dabei spreche ich nicht von einem konservativen Familienmodell, sondern Familie ist dort, wo Kinder sind. Es geht überhaupt nicht darum, was wichtiger ist, Kita oder Familie. Wir müssen vielmehr wahrnehmen, dass weder die Familie noch die Kita oder später die Schule, noch die Peer-Groups noch Sportvereine usw. allein dafür verantwortlich sind, wie Kinder aufwachsen. Eindeutig ist aber, dass alle Genannten Kinder stärken, ermuntern und ermutigen müssen, dass sie dieses Vertrauen ermöglichen müssen.

(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion.PDS und des Abg. Karl Nolle, SPD)

Wenn wir uns daraufhin die Lebenssituation von Kindern anschauen, gibt es da erhebliche Defizite. Nicht alle Eltern können ihren Kindern dieses Vertrauen vermitteln. Manche sind weder mental noch alltagspraktisch in der Lage, ihren Kindern Kompetenzen wie Bindungs- und

Konfliktfähigkeit, Ausdauer, emotionale Stabilität oder praktische Fähigkeiten der Alltagsbewältigung zu ermöglichen. Wir wissen aber, dass die vorgelebten Lebensmuster und Wertvorstellungen in den Familien Kinder nachhaltig prägen.

Die informelle Weitergabe von Perspektiven und Gefühlen in Familien ist – gleichzeitig mit den Erfahrungen im Umfeld, also auch in Kitas – ungeheuer wichtig, wichtiger oft als das, was später kognitiv in der Schule läuft. Wir müssen Familien stärker darin unterstützen, für ihre Kinder zu sorgen, ihnen Nähe und Vertrauen zu bieten.

Deshalb brauchen wir Elternbildung. Wir brauchen mehr aufsuchende und anleitende Familienhilfe. Wir brauchen vielfältig vernetzte Formen dieser Hilfe, um Alltagskompetenzen zu vermitteln, Familienbeziehungen zu stabilisieren oder ein Entgleiten von Zeitstrukturen zu verhindern. Damit unterstützen wir überforderte Eltern, wieder eine Grundstruktur in ihren Alltag zu bringen und sich ihren Kindern emotional zuzuwenden.

Natürlich teilt sich auch die soziale Unsicherheit der Familien mit, gefolgt von Stigmatisierung und Antriebslosigkeit. Die Kinder spüren die Angst der Eltern, nicht bestehen zu können, und das hemmt ihre eigene Lust am Lernen. Man lernt mit Angst nicht gut, sondern mit Sicherheit. Dann können sich Kinder auf neue Erfahrungen einlassen. Deshalb brauchen wir auch lebenslaufbegleitende Maßnahmen einer sensiblen Kinder- und Jugendarbeit. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, beginnt zum Beispiel mit der gezielten Frühförderung.

Diese von mir skizzierte vitale, familienunterstützende und familienergänzende Infrastruktur hätte positive Wirkungen. Sie bietet Eltern und Kindern aus benachteiligten Familien vielfältige Unterstützung an. Sie wirkt damit zusammen mit der Bildung in Kitas im umfassenden Sinn präventiv. Uns ist dieser Ansatz wichtig. Er geht über Kitas hinaus oder anders gesagt: Wir wollen die anderen Lebensfelder, die das Aufwachsen von Kindern ebenso prägen, auch im Blick haben. Deshalb sind kostenlose Kitas für uns ein Ziel, aber nicht das allernächste.

(Beifall der Staatsministerin Helma Orosz)

Die Frage stellt sich: Wer würde wie von kostenfreien Kitas profitieren und welche Forderungen wären vorher zu stellen? An dieser Stelle will ich Prof. Dr. Thomas Olk von der MLU Halle zitieren. Auf einer Tagung im letzten Jahr hat er gesagt:

„Man könnte nun meinen, dass unter der Perspektive einer Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt lediglich quantitative Versorgungsfragen mit einem ausreichenden Angebot an Kindertagesbetreuung eine Rolle spielen. Tatsächlich ist es aber so, dass die Qualitätsfrage bereits aus dieser Perspektive durch die Hintertür auf die Tagesordnung kommt. Dies hängt mit den Orientierungen, Interessen und Bedürfnissen der Mütter zusammen. Es zeigt sich nämlich, dass gerade die Mütter kleiner Kinder ein Interesse an mehr Zeit für ein Zusammenleben mit ihren Kindern haben. Ferner entwickeln sie durchaus

anspruchsvolle Vorstellungen von einer Kindheit. Wenn diese Mütter also dazu motiviert werden sollen, ihre Kinder in eine Kita zu geben, dann setzt dies ein Angebot qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung voraus. Ein ausreichend zugängliches Angebot an qualitativ guten Betreuungseinrichtungen ist daher ein wesentlicher Hebel für die Gewinnung gerade höher qualifizierter Mittelschichtfrauen für eine stärkere Arbeitsmarktpartizipation.“

Also, hier steht die Frage der Qualität der frühkindlichen Bildung vorn, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben den anspruchsvollen Bildungsplan im Gesetz stehen und waren uns in der Opposition einig, dass es an den nötigen Rahmenbedingungen fehlt, um ihn bald in dieser Qualität umzusetzen. Ich nenne nur Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen, Vor- und Nachbereitungszeit, kleinere Gruppen mit mehr Personal usw. usf. Das sind die nächsten Baustellen, bevor wir eine kostenfreie Kita anstreben können.

Wir haben einen Änderungsantrag zum Antrag der Linksfraktion gestellt, den ich dann noch einbringen werde.

(Beifall bei den GRÜNEN und der Abg. Dr. Cornelia Ernst, Linksfraktion.PDS)

Meine Damen und Herren! Das war die erste Runde der Aussprache zu diesem Antrag. Ich frage, ob noch jemand das Wort wünscht. – Das ist nicht der Fall. – Dann frage ich die Staatsregierung. – Frau Orosz, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Ich glaube, die Runde der Beiträge hat deutlich gemacht, dass uns eines zumindest hier im Plenum eint: die Freude darüber, dass Familienpolitik in den letzten Wochen und Monaten endlich alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst hat und dass Leute über Familienpolitik diskutieren, die das im Vorfeld so nicht getan haben. Es ist ein Zeichen dessen, dass wir ein gutes Stück bei der Realisierung und Umsetzung der dringend notwendigen Familienpolitik in Deutschland und so auch in Sachsen vorangekommen sind.

Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen nicht denken, wie es die Antragstellerin heute formuliert hat, dass es aufgrund der unterschiedlichen Beiträge und Vorschläge der letzten Tage und Wochen nun gilt, diese Vorschläge als Priorität zu dokumentieren, ihre Umsetzung zu fordern, und dann der Meinung zu sein, dass wir eine gelingende Familienpolitik leisten können. Ich glaube, das ist der falsche Tenor.

Wir sollten einen solchen Flickenteppich zu vermeiden versuchen. Denn wenn wir über nachhaltige und gelingende Familienpolitik sprechen und diese auch wirklich umsetzen wollen, dann kann das nicht nur die Addition von Maßnahmen sein, ohne darüber nachzudenken, was Familienpolitik tatsächlich ist. Ich bin Frau Kollegin Herrmann sehr dankbar, dass sie in ihrem Redebeitrag noch einmal dezidiert ausgeführt hat, dass Familienpolitik

nicht nur Kostenminimierung von Kita-Beiträgen heißen kann, sondern dass Familienpolitik als ein viel größeres Feld zu betrachten ist, wenn sie erfolgreich sein, wenn sie gelingen und wirklich die Probleme und Sorgen der Familien erreichen soll.

(Beifall bei der CDU und der SPD – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS, steht am Mikrofon.)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Staatsministerin?

Ich würde gern erst einmal ausführen. Vielleicht hat sich dann die Frage erledigt, Herr Professor.

Auf der anderen Seite bin ich froh und dankbar, dass die Antragstellerin, die Linksfraktion.PDS, was außergewöhnlich ist, sehr schnell und sehr positiv auf einen Vorschlag einer CDU-Ministerin reagiert hat. So etwas ist ja nicht alltäglich.

(Heiko Hilker, PDS: Es kommt auf die Vorschläge an!)

Aber es zeigt vielleicht auch, dass ein gewisses Umdenken und eine gewisse Realitätsnähe auch bei dem einen oder anderen von Ihnen angekommen sind.

(Zuruf der Abg. Caren Lay, Linksfraktion.PDS)

Meine Damen und Herren, aber trotzdem möchte ich der Aufforderung der Antragstellerin nachkommen, eine Beurteilung der Fragestellung auch aus Sicht der Staatsregierung vorzunehmen, obwohl schon viele Redebeiträge wie der meiner Kollegin Nicolaus und auch der von Frau Dr. Schwarz einen hohen Anteil dessen beantwortet haben, was die Staatsregierung ebenfalls unterstreichen kann.

Meine Damen und Herren! Nach der Diskussion der letzten Tage, denke ich, kann eine solche Debatte heute hier im Plenum sehr gut zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen. Denn es scheint der Antragstellerin entgangen zu sein, dass wir in Sachsen bereits Prioritäten gesetzt haben, was die Kita-Betreuung betrifft, und das lange vor dem Aufruf unserer geschätzten Bundesministerin Frau von der Leyen.

Wir haben Prioritäten für die Kindertageseinrichtungen gesetzt. Wir haben Prioritäten für die frühkindliche Bildung gesetzt. Wir haben auch bereits Prioritäten bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesetzt.

Meine Damen und Herren! Wer es nachlesen möchte, kann das im Koalitionsvertrag, aber auch im Doppelhaushalt 2005/2006 tun.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Die Staatsregierung hat bereits Sorge dafür getragen, dass die vom Landtag eingestellten zusätzlichen Fördermittel im Umfang von 50 Millionen Euro – das ist heute schon

mehrfach gesagt worden – schnell und unbürokratisch den Trägern von Kindertageseinrichtungen zugute gekommen sind und damit natürlich erheblich zur Qualitätsverbesserung beitragen.

Ich möchte das noch einmal an Beispielen verdeutlichen. Es geht hier nicht nur um die Erhöhung der Landespauschale für die Betriebskosten, um die Möglichkeit, Investitionsmittel beim Land abzurufen und um die Pauschale für das Schulvorbereitungsjahr, sondern es geht vor allen Dingen um Qualität.

Ich glaube, das ist genau das Corpus Delicti. Es kann nicht sein und wird auch keine Unterstützung der Staatsregierung erfahren, darin sind wir uns mit dem Koalitionspartner einig, dass es nur darum geht, Familienpolitik an den Kosten zu messen, sondern Familienpolitik muss sich zumindest genauso prioritär an der Qualität der Maßnahmen messen.

(Beifall bei der CDU – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Wer sagt etwas anderes?)

Meine Damen und Herren, lieber Herr Prof. Porsch, so ist der Vorschlag, Kinderbetreuung beitragsfrei zu stellen, dort angemessen, wo Eltern wegen hoher Beiträge davon absehen müssen, das Angebot öffentlich geförderter Kindertagesbetreuung für ihre Kinder in Anspruch zu nehmen bzw. aufgrund nicht vorhandener Angebote sogar auf private, teurere Lösungen zurückzugreifen. Aber das findet doch in Sachsen nicht statt.

(Vereinzelt Beifall bei der SPD)

Haben Sie das noch nicht verstanden?

Die Verhältnisse, für die diese Vorschläge der Bundesministerin sicherlich Gültigkeit haben, treffen eben auf Sachsen nicht zu.

(Zuruf der Abg. Dr. Cornelia Ernst, Linksfraktion.PDS)