Meine Damen und Herren! Es bereichert wohl kaum die schulpolitische Debatte zur Entwicklung des Schulsystems in Sachsen, wenn in der Pisa-Studie getroffene Analysen immer wieder aus dem Gesamtzusammenhang der Betrachtung herausgelöst, ideologisch überhöht, verallgemeinert und ohne Bezug zu konkreten Aussagen über das Schulangebot in unserem Land verabsolutiert werden.
Die Formel, die mit dieser Debatte offensichtlich wieder einmal glaubhaft vermittelt werden soll – wir haben das gerade von Frau Bonk sehr deutlich gehört – lautet: Infragestellung leistungsdifferenzierender Schulangebote und Wiederbelebung der Einheitsschule garantiert bessere Lernerfolge.
Meine Damen und Herren! Diese Sichtweise ist auch im Ergebnis der Pisa-Studie nichts anderes als eine Legende, die letztlich nur dem Ziel dient, in vorhandenen parteipolitisch geprägten Denkmustern zu verharren.
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich, Herr Kollege Porsch, diese unzulässige Verallgemeinerung des Themas dieser Debatte, auf das sächsische Schulsystem übertragen, durch zwei Zitate von an der Analyse beteiligten Wissenschaftlern belegen. Da heißt es wörtlich im Ergebnis der ersten Pisa-Studie für Deutschland – ich zitiere –: „Überdurchschnittliche Lesekompetenz bei gleichzeitig unterdurchschnittlichen sozialen Disparitäten wird in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen erreicht.“
„Als Markierland kann Sachsen gelten, in dem beide Parameter tendenziell zur Balance gebracht werden. Die inversive Gruppe mit unterdurchschnittlicher Lesekompetenz und großen sozialen Disparitäten wird durch den Stadtstaat Bremen markiert. Zu dieser Gruppe gehören auch Hessen und Niedersachsen.“
Meine Damen und Herren! Wenn man diese Aussage zugrunde legt und mit den strukturellen Angeboten von Schule in den genannten Ländern vergleicht, lässt das nun wirklich nicht die Aussage zu, dass durch unser Schulsystem in Sachsen eine soziale Selektion erfolgt.
Lassen Sie mich zweitens auch Herrn Schleicher zitieren, der nun wirklich nicht im Verdacht steht, der CDU besonders nahe zu stehen.
Er stellte 2002 in der „Stuttgarter Zeitung“ fest – ich zitiere wiederum –: „Am beeindruckendsten fand ich das Abschneiden von Sachsen. Im Ländervergleich erreicht Sachsen ein gutes Gesamtergebnis bei gleichzeitig ausgewogener Verteilung der Bildungschancen.“
Meine Damen und Herren! Allein diese Aussagen relativieren Annahmen, wie sie dem Antrag zur vorliegenden Debatte zugrunde liegen. Das besonders Bemerkenswerte der Pisa-Studie ist doch die Tatsache, dass sie in einer großen Komplexität vielgestaltige Indikatoren auf die Schulentwicklung analysiert und damit eine breite Debatte über die Schulentwicklungsmöglichkeiten eröffnet hat.
Was die Befunde der Studie allerdings nicht vermitteln, meine Damen und Herren, sind einseitig formulierte Kausalzusammenhänge und damit Vorgaben für konkret herleitbare Maßnahmen. Vielmehr geht es im Umgang mit „Pisa“ um eine Gesamtschau auf wechselseitig miteinander in Beziehung stehende Bedingungen der Schulentwicklung.
Wir werden die Defizite, die aufgezeigt wurden, nicht dadurch ausgleichen können, dass wir ein anderes System einfach kopieren. Vielmehr ist es eine wichtige Feststellung der Studie, die Sie dort nachlesen können, dass weder die soziale Lage noch die kulturelle Distanz primär für Disparitäten der Bildungsbeteiligung verantwortlich sind. Für früh differenzierend gegliederte Schulsysteme wird als Handlungsempfehlung aber gleichwohl eine frühe und früheste Förderung in jenen Kompetenzbereichen empfohlen, die für die Lern- und Schullaufbahn besonders notwendig sind.
An anderer Stelle der Pisa-Studie weisen Befunde fernab von Strukturdebatten darauf hin, dass die Bildung der Eltern und die sozialen bzw. kulturellen Kommunikationsmuster zwischen Eltern und Kindern, insbesondere die Kommunikation hinsichtlich der Schule und des Lernens, in Wechselwirkung miteinander stehen und für die Kinder von bildungsmäßigem Nutzen sein können. Es wird darauf hingewiesen, dass Bildungserfolge möglicherweise mit Kommunikationsmustern zwischen Eltern und Kindern in Beziehung stehen.
Daher leitet sich die Empfehlung an die Politik ab – das haben wir auch gestern so gehört –, die Eltern zu unterstützen, insbesondere jene, die nur niedere Bildungsabschlüsse vorweisen können, um letztlich eine Einflussnahme auf die Kinder und die schulische Entwicklung der Kinder zu fördern.
Meine Damen und Herren! Diese zum Teil wörtlich wiedergegebenen Befunde aus der Studie belegen doch deutlich, dass es eben nicht um das Herleiten und Herauslösen von einseitigen Zusammenhängen gehen kann, auch nicht darum, das gegliederte Schulsystem generell infrage zu stellen.
Es geht vielmehr darum, die vorhandenen Strukturen inhaltlich zu qualifizieren. Sowohl die beiden Schulgesetznovellen als auch der Koalitionsvertrag haben dazu wichtige Maßgaben gesetzt. Diese auszufüllen sehen wir als wichtigere Aufgabe als solche ideologiebehafteten Debatten zu führen, wie Sie sie angezettelt haben.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Pisa“ 2003 bringt keine neuen Erkenntnisse gegenüber den Erkenntnissen aus der PisaStudie 2000 und bestätigt auch die Forderungen und die Konsequenzen, die die SPD-Fraktion in ihrem SPDSchulkonzept fordert. Was sind denn die Lektionen, die wir aus „Pisa“ lernen? Erstens. Erfolgreiche Schulen haben eine auf den einzelnen Schüler, auf die einzelne Schülerin gerichtete fördernde und stärkende Lernkultur. Erfolgreiche Schulen sind selber verantwortlich für ihre Ergebnisse und haben entsprechende Gestaltungsmittel in der Hand.
Zweitens. Mehr Geld bringt automatisch keine besseren Leistungen. Belgien und Tschechien zum Beispiel investieren viel mehr in Bildung und liegen im unteren Durchschnitt.
Drittens. Längeres gemeinsames Lernen ist an sich auch kein Selbstwert und Selbstzweck und bringt auch nicht automatisch sozial ausgewogenere und bessere Leistungen. Auch hier gibt es genügend Beispiele: Brasilien, Mexiko, Russland, USA – alles Länder mit einer längeren gemeinsamen Schulzeit. Die liegen in „Pisa“ auch hinten. Nur zum Trost: Es gibt kein Land in dem gegliederten Schulsystem, das an der Spitze liegt.
Viertens. Hohe Leistungen sind mit hoher sozialer Ausgewogenheit vereinbar. All dies führt uns zu einer veränderten Schul- und Lernkultur und zu den dafür notwendigen Strukturveränderungen.
Wir haben im Koalitionsvertrag die dazu notwendigen Schlussfolgerungen gezogen. Wir wollen uns an den Besten in Europa orientieren.
Für die einen ist es auch wichtig, sich national zu vergleichen. Für uns ist es wichtig, sich international zu vergleichen. Da ist zum Beispiel Finnland an der Spitze. Dahin wollen wir uns auch orientieren.
Wir haben festgeschrieben, dass wir eine andere Lernund Lehrkultur haben wollen, die schülerorientiert ist, die kompetenzorientiert ist, die fördert und stärkt. Die wichtigste Strukturveränderung dazu ist die eigenverantwortliche Schule, die eigenverantwortlich die pädagogischen Prozesse organisiert und in die Hand nimmt, eben die Verantwortung für den Einzelnen in den Vordergrund stellt. Das steht im Koalitionsvertrag, genauso die Öffnung der Schulstruktur, dass es möglich ist, Gemein
schaftsschule in Sachsen zu werden, eine Gemeinschaftsschule, die auf neue differenzierte und fördernde Lernkulturen setzt.
Es kommt dazu die Stärkung des Anfangs, die Stärkung der Grundschule zum Beispiel mit 800 zusätzlichen Stellen, mit einer Realisierung einer Schuleingangsphase. Dazu kommt die Unterstützung von Ganztagsschulen mit immerhin 30 Millionen Euro jährlich. Das sind Dinge, die wir in den Koalitionsvertrag geschrieben haben und die ernst gemeint sind. Da lassen wir uns auch nicht trennen. Dazu kann man auch die Pressemitteilung des Kultusministeriums vom 6. Dezember heranziehen, in der unterstützt wird, dass wir in erster Linie eine veränderte Lern- und Lehrkultur benötigen. Das ist der Punkt, an dem wir jetzt gemeinsam arbeiten wollen.
Ich wollte fragen, ob Sie mit dem Vorredner einmal darüber gesprochen haben und ob auch in der Koalition darüber Austausch gepflegt wurde, wie das dann auch umgesetzt werden soll.
– Keine Sorge, keine Sorge! Wir sind natürlich hier im starken Austausch. In einem Koalitionsvertrag beschreibt man den Kompromiss und den gemeinsamen Weg. Wir haben vereinbart, dass es neben dem gegliederten Schulsystem, das es hier in Sachsen gibt, eine neue Chance gibt, dass etwas wachsen kann, zum Beispiel die Gemeinschaftsschule. Das ist der gemeinsame Weg.
Genauso ist der gemeinsame Weg, den wir vereinbart haben, eine andere Lern- und Lehrkultur, wie auch vom Kultusminister bestätigt. Das heißt, niemand kann eine Partei, eine Fraktion zwingen, die grundsätzlichen Positionen aufzugeben. Aber wir werden uns nicht auseinander dividieren lassen auf dem gemeinsamen Weg. Den haben wir festgeschrieben. Daran können Sie uns auch messen. Keine Sorge!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Jahre sind seit dem ersten Pisa-Schock vergangen. Damals war der Aufschrei in der etablierten Politikerlandschaft, wie zu erwarten gewesen, groß, nicht nur, weil die BRD plötzlich irgendwo im Mittelfeld weit hinter Korea rangierte, sondern auch, weil es kein Land auf der Welt gibt, in dem die Bildungschancen so stark von der sozialen Herkunft abhängen wie in dieser Bundesrepublik. Seither debattiert man pausenlos, aber ertraglos über Reformen auf dem Bildungssektor.
Seit dem ersten Pisa-Schock wurde debattiert, aber die soziale Kluft in den Bildungschancen wurde immer größer. In der neuen Pisa-Studie, die nun seit kurzem vorliegt, schneidet die BRD zwar etwas besser ab, aber das ist vor allem auf den Leistungszuwachs an den Gymnasien zurückzuführen. Die Hauptschulen schneiden unverändert schlecht ab.
Kinder reicher Eltern haben eine fast sechsmal größere Chance, auf das Gymnasium zu kommen, als Kinder aus der unteren Mittelschicht. Die Bundesrepublik geht ihren fragwürdigen Weg weiter. Mit dem nötigen Geld der Eltern können Kinder alles erreichen.