Protokoll der Sitzung vom 15.11.2006

Herr Porsch kann gern seine Frage stellen.

Herr Porsch, bitte.

Herr Kollege Herbst, bevor wir die wirklich sehr ernste Sache hier abhandeln: Können wir uns darauf einigen, dass Ihr Antrag „Kindesmisshandlung und deren Verhinderung“ heißt und nicht dessen?

(Oh-Rufe von der CDU)

Herr Porsch, darauf können wir uns gern einigen.

Im April 2006 hat Frau Orosz hier im Landtag bereits ein Frühwarnsystem angekündigt. Was wir heute, ein halbes Jahr später, darüber gehört haben, finden wir recht dürftig. Deshalb ist unser Antrag offenbar auch mehr als nötig.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Modellprojekte als Insellösung helfen uns nicht wirklich weiter. Wir müssen flächendeckend und in ganz Sachsen den Schutz von Kindern vor Misshandlung verbessern.

(Staatsministerin Helma Orosz: Da haben Sie nicht zugehört, das gilt für ganz Sachsen!)

Vier Jahre will sich die Staatsregierung nun für das Modellprojekt Zeit lassen, vier Jahre, in denen unter Umständen weitere Kinder unter Misshandlungen leiden. Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, Frau Orosz, haben bereits damit begonnen, ein Frühwarnsystem zu erproben. Sachsen hinkt wieder einmal hinterher.

(Staatsministerin Helma Orosz: Sie haben nicht zugehört, tut mir leid!)

Angesichts der prominenten Misshandlungsfälle, aber auch der Dunkelziffer fragt die Öffentlichkeit zu Recht: Wie kann es eigentlich zu diesen Misshandlungen kommen und wie stellt sich die Situation in Sachsen konkret dar?

Die Antworten der Ministerin auf diese Fragen waren heute dürftig. Sie waren auch im Bericht zum Antrag von CDU und SPD im April extrem dünn. Wenn Misshandlungen und Vernachlässigung bisher nicht richtig erfasst werden, muss das geändert werden. Deshalb haben wir unseren Antrag gestellt, und deshalb wollen wir auch von der Staatsministerin in einem schriftlichen Bericht wissen, wie viele Fälle beispielsweise ein Mitarbeiter im Jugendamt betreuen muss, wie lange Verfahren vor dem Familiengericht dauern und wie sich die Präventions- und Fürsorgearbeit vor Ort darstellt.

Ein weiterer Baustein ist die von uns geforderte Schwachpunktanalyse für Sachsen; denn in vielen bekannten Fällen gab es ja durchaus Indizien und Hinweise für Misshandlungen. Doch am Ende waren es Kommunikations- und Entscheidungspannen in den Behörden, aber auch zwischen den Behörden, die einen wirksamen Schutz der Kinder verhindert haben.

Deutlich wird es sicher auch am Fall aus Zwickau. Der kleine Mehmet wurde Ende Juli 2006 im Kindergarten abgemeldet. Es war bekannt, dass er auch zuvor sehr spärlich anwesend war. Dennoch erfuhr das Jugendamt nichts davon und offenbar nahm es auch keine Hinweise wahr, die vorher gegeben wurden.

Das Jugendamt nahm die Mitte 2005 beendete Betreuung nicht wieder auf. Wie diese Versäumnisse ausgingen, das wissen wir alle: ein trauriger Fall.

Dass solche Versäumnisse nicht nur in Zwickau, sondern leider auch anderswo passieren können, müssen wir vermuten. Deshalb ist es wichtig, systematisch Schwachpunkte in den Hilfesystemen zu identifizieren, um zukünftig Misshandlungen bis hin zu Tötungen von Kindern zu verhindern.

Laut UNICEF sind in Deutschland jährlich rund 200 000 Kinder von Vernachlässigungen oder Misshandlungen betroffen. Ich glaube, wir sind uns alle in diesem Hause einig, dass jeder Fall ein Fall zu viel ist.

(Beifall bei der FDP, vereinzelt bei der CDU und Beifall des Abg. Karl Nolle, SPD)

Danke schön. Herr Krauß von der CDU-Fraktion spricht als Nächster.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir können es kurz machen, weil wir dieses Thema heute Vormittag schon einmal inhaltlich diskutiert haben. Was unsere Meinung dazu ist, hat Kerstin Nicolaus ausgedrückt.

Der Ministerin sind wir sehr dankbar, dass sie darüber gesprochen hat, wie das Frühwarnsystem aufgebaut werden soll und was ansteht.

Wir werden Ihren Antrag insgesamt ablehnen. Sie haben eine Zeitschiene aufgemacht, die schon dazu führt, dass wir den Antrag ablehnen müssen. Wir können nicht erwarten, dass die Staatsregierung innerhalb von sechs Wochen umfangreiche Situationsberichte und Schwachstellenanalysen vorlegt.

Abgesehen davon wissen wir eigentlich, wo die Probleme liegen. Wir sind jetzt gut beraten, die Dinge anzugehen. Ich glaube, mit diesem Modellprojekt, das geplant ist, sind wir auf dem richtigen Weg.

Wir sind der Ministerin auch dankbar, dass sie unsere Anregungen, die wir schon vor einigen Monaten gegeben haben, mit aufgegriffen hat. Herr Herbst, Sie sind selbst darauf eingegangen, dass sich der Landtag nicht zum ersten Mal mit dieser Problematik beschäftigt und gerade die beiden Koalitionsfraktionen das Thema schon häufiger angeschnitten hatten.

Wir werden die Staatsregierung bei der Einrichtung dieses Modellprojektes unterstützen, aber Ihren Antrag ablehnen.

(Beifall bei der CDU)

Für die Linksfraktion.PDS spricht Herr Neubert.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte es kurz machen. Wir hatten heute früh eine ausführliche Diskussion zu diesem Thema. Ich will ganz kurz auf den Antrag eingehen, der uns vorliegt, und zu Beginn sagen: Wir werden dem Antrag zustimmen.

Herr Krauß, mir scheint Ihre Argumentation unlogisch. Entweder ist die Zeit zu kurz oder Sie wissen schon alles, aber entscheiden müssen Sie sich dann schon.

(Beifall der Abg. Heiko Kosel, Linksfraktion.PDS, und Torsten Herbst, FDP)

Ich denke, die ersten drei Punkte sind als Bestandsaufnahme eine gute Grundlage. Deswegen stimmen wir zu. Der letzte Punkt, der im Grunde genommen die Bitte ist, ein Konzept und einen Zeitplan für die Einführung eines Frühwarnsystems vorzulegen, würde genau mit dem Zeitplan, den die Frau Ministerin hat, Ende des Jahres die Modellprojektstandorte noch zu benennen, d’accord sein. Vor diesem Hintergrund funktioniert Ihre Argumentation nicht. Vielleicht überdenken Sie es noch einmal und stimmen zu.

Bezüglich des letzten Punktes – ich hatte das heute früh in meiner Rede schon dargeboten – ist es aus unserer Pers

pektive wichtig, Kindertagesstätten in verstärktem Maße als Partner einzuführen, als Institutionen, die in dieses Frühwarnsystem integriert sind. Ich hatte das heute früh schon ausgeführt und möchte noch einmal kurz darauf eingehen.

Die Frage, die sich bei dem Durchlaufen von Institutionen oder dem In-Kontakt-Kommen mit Institutionen und Personen für Kinder und Familien stellt, ist: Wie gelingt es, das Raster in einer Form zu gestalten, dass Kinder eben nicht durchrutschen?

Nun sind – wie gesagt – eine große Anzahl von Kindern in Kindertageseinrichtungen. Das heißt, durch eine Sensibilisierung der Erzieherinnen und Erzieher ist es durchaus möglich, Auffälligkeiten wahrzunehmen und gemeinsam mit dem Jugendamt unterstützend und mit einer Hilfestellung aktiv zu werden. Trotzdem denke ich, dass Kindertagesstätten auch für Kinder, die nicht in einer Einrichtung sind, geeignet sind, Ansprechpartner zu sein.

Nehmen wir uns zum Beispiel das Jugendamt in Dresden. In dieser großen Stadt ist es natürlich schwierig, einen Überblick über die Kinder zu haben, einen kontinuierlichen Kontakt zur Familie zu haben und Unterstützung anzubieten. Vor diesem Hintergrund wäre es wirklich überlegenswert – ich bitte auch die Frau Ministerin, das in den Gesprächen zur Konzeptentwicklung, die in der nächsten Zeit anstehen, mit zu bedenken –, auf einer kleinteiligeren Ebene, nämlich auf der Ebene der Kindertagesstätten und ihres Wohnumfeldes, die persönlichen Kontakte sicherzustellen – über Elternbriefe, wie es zum Beispiel vom Leipziger Kinderschutzbund in den letzten Jahren schon praktiziert wurde, über Beratungsangebote, über Fortbildungsseminare für Eltern zur Erlangung von Erziehungskompetenzen etc. pp., aber auch über einen persönlichen Kontakt zu den Eltern der Garant zu sein für eine kontinuierliche Begleitung und für die Sicherstellung, dass Kinder eben nicht durch dieses Raster fallen und es nicht zu diesen Problemfällen kommt, die dann immer wieder die Öffentlichkeit zu Recht aufschrecken.

Das ist einfach eine Ergänzung zum Denken zu diesem letzten Punkt der FDP, die ich gern mit einbringen will.

Danke schön.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und der FDP)

Frau Dr. Schwarz von der SPD-Fraktion spricht als Nächste.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns heute Vormittag ausführlich mit dem Thema beschäftigt und ich habe von Ihnen, Kollege Herbst, auch nichts Neues über das hinausgehend gehört, was Ihre Kollegin gesagt hatte. Ihr Antrag ist in den wesentlichen Punkten ein Berichtsantrag. Es ist nicht unsere Aufgabe, dazu etwas zu sagen, sondern Sie fordern den Bericht von der Staatsregierung.

Was Ihren Punkt 4 angeht, das Konzept, so denke ich, wollen Sie schnell noch auf einen fahrenden Zug aufspringen. Es wäre insofern besser gewesen, diesen Antrag

an den Ausschuss zu überweisen, da, wie Sie wissen, eine Anhörung im Januar zu zwei Anträgen stattfindet; zum einen zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Thema Frühwarnsystem und zum anderen zu einem Antrag der Koalition zur Aufsuchenden Familienhilfe. Genau das in diesem Antrag Stehende findet sich auch hier bei Ihnen – Einbeziehung von Hebammen usw. Das ist ähnlich wie das Modellprojekt in Niedersachsen gestrickt.

Wir haben eben nicht gleich per Schnellschuss alle Dinge parat. Ich gebe Ihnen gern noch einmal meine Rede von heute Vormittag, in der einige Punkte benannt sind, wie wir uns ein solches Frühwarnsystem vorstellen. Wir haben auch die Eckpunkte gehört, die die Staatsministerin heute vorgestellt hat. Aber, wie gesagt, wir als Landtag sollten uns nicht die Möglichkeit nehmen, sondern in der Anhörung schauen, was uns Experten im Hinblick auf ein solches Frühwarnsystem zu sagen haben.

Wenn Sie diese Vorschläge von heute Vormittag als dünn empfinden, dann müssen Sie irgendwo anders gewesen sein, aber nicht hier im Landtag.

Ich möchte noch einmal zum Thema Einbeziehung der Kindertagesstätten etwas sagen. Ich glaube, dass wir, wie Ihre Kollegin heute meinte, nur darin den Dreh- und Angelpunkt sehen, ist so nicht der Fall. Wir haben auch von den Hilfen zur Erziehung gesprochen und von den Aufgaben der Jugendämter. Aber ich denke schon, wir sollten diesen Vorteil, den wir in Sachsen haben, eine hohe Betreuungsquote von Kindern in Kindertageseinrichtungen und all diese Aspekte, wirklich für eine zukünftig flächendeckende Versorgung, in diesem Fall für eine flächendeckende Vorbeugung, Prävention vor Kindesmisshandlungen nutzen.

Aus diesem Grunde können wir Ihren Antrag nur ablehnen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Für die NPDFraktion spricht Frau Schüßler.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der FDP-Fraktion bezieht sich teilweise auf einen aktuellen Vorfall aus dem Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes Zwickau.

Er mag hilfreich sein, indem er einen Situationsbericht über Kindesmisshandlung und -vernachlässigung von Kindern im Freistaat Sachsen einfordert. Wir fragen uns allerdings, ob eine Große Anfrage nicht zweckdienlicher gewesen wäre, als diesen Berichtsantrag ins Plenum zu ziehen. Trotzdem ist die NPD-Fraktion gespannt darauf, ob sich die Staatsregierung in der Lage sieht, bis Ende 2006 den in diesem Antrag geforderten Bericht vorzulegen. Wir lassen uns überraschen.