Protokoll der Sitzung vom 15.11.2006

Sie gehören einer Volkspartei an, Herr Hähle. Das ist jedenfalls der allgemeine Duktus in diesem Land, die Lesart.

(Alexander Delle, NPD: 30 %!)

Dann ist es schon wichtig, dass man sich mit den Lebenswirklichkeiten auseinandersetzt. Dazu gehört es auch zu schauen, wie verschiedene Leute mit der Situation im ALG II umgehen. Es sind jetzt übrigens nicht nur die modern gewordenen Unterschichten, die ALG II empfangen – dass wir nicht in dieser Debatte auf falsche Gleise kommen. Da sind fast alle Berufsgruppen dabei, manche mehr, manche weniger. Das hängt von den Branchen ab. Aber es ist nicht so, dass wir eine Unterschichtendebatte führen. Vor diesem Hintergrund ist es doch erst recht wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, was es für eine Partnerschaft bedeutet, vielleicht auch für eine einzelne Frau, die zum Beispiel für eine Weile arbeitslos wird, hofft, dass sie wieder in Arbeit kommt, die aber vielleicht zu diesen beruflichen Problemen, die sie jetzt hat, weil sie arbeitslos geworden ist, auch noch Probleme mit ihrer

Partnerschaft bekommt, weil sie nicht wissen, wie sie das mit der Verhütung klären sollen. Das kann doch nicht Sinn und Zweck der Übung sein, Herr Hähle. Da kann man doch auch nicht demografisch argumentieren: Wir nehmen jedes Kind, egal, unter welchen Umständen es zustande kommt. Das kann doch nicht die Les- und Denkart sein,

(Beifall bei den GRÜNEN und der Linksfraktion.PDS)

sondern es ist wichtig, dass man sich darüber klar wird – wir haben heute mehrmals darüber debattiert, wie das mit der Kinder- und Jugendhilfe ist, mit der Betreuung und Beratung –, dass es, wenn die Kinder erst einmal geboren sind, eine ganze Entscheidungskette für Menschen ist, die wir ihnen nicht unnötig erschweren sollten. Wenn sie nur ALG II bekommen, dann sollten sie trotzdem die Möglichkeit haben, eine Empfängnisverhütung zu betreiben. Um nicht mehr und nicht weniger geht es in diesem Antrag.

(Beifall bei den GRÜNEN und der Linksfraktion.PDS – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Sehr richtig!)

Das war die Eröffnung einer zweiten Runde. Gibt es weiteren Aussprachebedarf? – Dies ist nicht der Fall. Ich frage die Staatsregierung. – Frau Staatsministerin Orosz.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Richtung Antragstellerin: Selbstverständlich sollte Empfängnisverhütung jeder und jedem möglich sein. Allerdings glaube ich auch, dass die Vorschläge des vorliegenden Antrages nicht zu Ende gedacht worden sind. Da stimme ich mit Herrn Dr. Martens überein. Das wurde auch mehrfach in den Redebeiträgen deutlich. Aber es sei mir vorab noch gestattet, einiges richtigzustellen, was Sie zum GMK-Antrag gesagt haben.

Der Fokus des Antrages lag nicht, wie in Ihrem Antrag beschrieben, bei der Senkung der Mittel. Das war einmal so. Aber der Antrag ist novelliert worden, das haben Sie wahrscheinlich verpasst. Ich will aber noch einmal, weil es zu der Debatte passt, Frau Herrmann – ich glaube, einen Kontext herzustellen, ist auch richtig –, darauf eingehen. Es war die Frage der Bedürftigkeit. Diese spielt auch in Ihrem Antrag eine Rolle. Wenn ich Ihnen sagen darf, dass die Schwangerschaftsabbrüche in Sachsen zunehmen, die Fälle und damit auch die Kosten, und wir hier inzwischen fast bei 100 % finanzierter Schwangerschaftsabbrüche in Sachsen sind – in Deutschland ungefähr bei 95 % –, dann ist es, glaube ich, gerechtfertigt, in der Verantwortung, in der wir stehen, sich die Frage zu stellen, ob es in der Tat bei diesen fast 100 % überall eine Bedürftigkeit gibt. Das ist eigentlich der Grundtenor unseres Antrags gewesen, den wir auch weiter verfolgen.

Das Verfahren der derzeitigen Kostenerstattung – das lassen Sie mich bitte noch einmal erwähnen, Herr

Prof. Porsch – lässt in der Tat zu wünschen übrig. Die geforderte glaubhafte Darlegung heißt: Die Schwangere muss weder eine Bescheinigung über regelmäßiges Einkommen oder vorhandenes Vermögen beibringen, noch werden von der Krankenkasse die Angaben mit den vorhandenen Daten der Versicherten verglichen.

Meine Damen und Herren! Bei der Inanspruchnahme aller anderen staatlichen Leistungen – ich kenne keine, die hier eine Ausnahme macht, keine – sind dagegen umfangreiche Anträge mit zahlreichen Nachweisen zur Einkommenssituation vorzulegen. Bei diesen Unterschieden im Rahmen des Verfahrens müssen wir eigentlich auch den Aspekt des Gleichbehandlungsgrundsatzes berücksichtigen. Das ist der Ansatz der Beantwortung der Frage.

Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist auch vom Bundesverfassungsgericht – ich glaube 1994 oder 1996 und zuletzt 2004 –, vom Landesrechnungshof im Saarland beanstandet worden. Der Gesetzgeber ist aufgefordert worden, dieses Gesetz zu evaluieren. Von daher – der Gesetzgeber hat bisher nicht agiert – haben wir unseren Antrag als längst überfällig und legitim betrachtet. So viel dazu. – Ich glaube, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen.

Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag, wie wir mit der tatsächlichen Situation in Deutschland, in Sachsen umgehen und wie wir damit umgehen, dass wir in der Tat den betroffenen Frauen, in dem Fall den Bedürftigen, helfen. Das ist keine Frage. Da stimme ich mit Ihnen überein. Nur können wir nicht auf der einen Seite berechtigt immer wieder, auch in der aktuellen Debatte zur Gesundheitsreform, mehr Eigenverantwortung anmahnen, berechtigt, auch dazu stehe ich, und an einer anderen Stelle zulassen, dass bei fast 100 % der Schwangerschaftsabbrüche Kosten erstattet werden ohne Nachweis, ob es wirtschaftlich tatsächlich eine Bedürftigkeit gibt. Den Kontext stelle ich deswegen her, weil bei Ihrem Antrag das gleiche Verfahren gewählt wird. Es soll in dem Fall eine Personengruppe begünstigt werden, ohne dass wir einen tatsächlichen Nachweis haben, Frau Herrmann, dass die Pauschalierung, die wir, wie wir gerade gehört haben, alle mitgetragen haben, tatsächlich ein Defizit darstellt, um nicht an entsprechende Verhütungsmittel heranzukommen. Ob es nicht eher eine Anwendungsfrage oder auch einfach eine Einstellungsfrage ist – diese Frage haben Sie mit Ihrem Antrag nicht beantwortet. Deswegen, denke ich, ist dieser Antrag unzureichend und nicht zu Ende gedacht.

Ich will gar nicht noch einmal darauf eingehen, dass es in der Tat – jetzt spreche ich hier als Gleichstellungsministerin – nicht so ohne Weiteres abgetan werden kann, dass wir uns nur mit den Frauen befassen, auch mit den Männern, Frau Hermenau.

(Antje Hermenau, GRÜNE: Das ist Wunschdenken!)

Das ist eine andere Frage.

Aber es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, in der Tat die Gleichbehandlung von Frau und Mann auch in dieser Frage zu sehen. Dann müsste man, wenn man Ihren Antrag stringent weiterdenkt, natürlich auch für die Männer Möglichkeiten schaffen.

Aber noch einmal zu zwei aus meiner Sicht berechtigten Gründen. Schwangerschaftsverhütung ist ein Teil der Familien- und Lebensplanung und damit keine Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese ist dafür da, die Gesundheit der Versicherten herzustellen und zu fördern. Schwangerschaft ist zum Glück keine Krankheit im Sinne des SGB.

(Beifall bei der CDU)

Ich hoffe, Frau Hermenau, dass Sie das aus eigenen Erfahrungen bestätigen können. Zum anderen: Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe nach dem SGB XII sind bewusst mit Pauschalleistungen ausgestattet worden. Ich darf daran erinnern, dass bei der früheren Sozialhilfe die Übernahme der Kosten für Empfängnis regelnde Mittel möglich war. Da konnte es allerdings zu einer sehr entwürdigenden Situation kommen. Ich habe es selbst in meiner früheren Tätigkeit erlebt, wenn beispielsweise die Verhütungsform und -häufigkeit der Anwendung auf dem Sozialamt begründet werden mussten und darüber diskutiert worden ist. Das gipfelte sogar – da hat Herr Dr. Martens wieder recht – in Gerichtsurteilen, wie viele Kondome pro Mann und pro Monat angemessen waren oder Ähnliches.

Demgegenüber ist die heutige Lösung, dies in die Pauschalierung einzubeziehen, diesen Menschen gegenüber respektvoller. Damit werden alle damit verbundenen Entscheidungen dorthin gegeben, wo sie hingehören, nämlich zu Mann und Frau, in dem Fall zu dem Leistungsempfänger und seiner Privatsphäre.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und der SPD – Beifall des Abg. Dr. Jürgen Martens, FDP)

Meine Damen und Herren! Gibt es weiteren Aussprachebedarf? – Dies ist nicht der Fall. Dann kommen wir zum Schlusswort. Frau Herrmann, bitte.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang möchte ich einige Zahlen nennen, damit wir wissen, wovon wir reden. Die Pille kostet zwischen neun und 50 Euro im Halbjahr, die Hormonspirale circa 250 Euro plus 50 Euro Kosten für das Einsetzen beim Arzt. Wie hoch ist das ALG II? Da können Sie vergleichen und dann können Sie überlegen, ob die Frau wirklich die Wahl hat zu entscheiden, welches Mittel der Verhütung sie verwendet.

(Beifall bei den GRÜNEN und der Linksfraktion.PDS)

Frau Schwarz, bei Ihnen frage ich mich, ob Sie mir überhaupt zugehört haben. Ich habe am Anfang ganz

deutlich betont, dass es vielfältige Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch gibt. Ich habe nicht behauptet, dass der finanzielle Grund der einzige wäre.

Herr Hähle, wenn man Ihrer Argumentation folgt, dann soll der Staat nicht nur sich entwickelndes Leben schützen, sondern auch noch nicht gezeugtes. Denn darum geht es in unserem Antrag und um nichts anderes.

(Dr. Fritz Hähle, CDU: Da haben Sie aber nicht zugehört!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Morgen über Frühwarnsysteme diskutiert. Das Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim hat eine Längsschnittstudie bei Risikokindern von der Geburt bis zum Jugendalter durchgeführt. Die Ergebnisse liegen vor. In dieser Studie haben sie frühzeitig erkennbare Risikofaktoren festgestellt.

Risikofaktoren, die in der Familiensituation und der Umwelt liegen, sind unter anderem alleinerziehende Eltern, Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse und fehlende soziale Unterstützung. Risikofaktoren aufseiten der Eltern sind unter anderem frühkindliche Bindungsstörungen infolge fehlender Empathie, fehlender Kommunikation und Interaktion sowie der Umstand einer unerwünschten Schwangerschaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag ist deshalb ein Baustein im Gebäude eines Frühwarnsystems und als solchen wollen wir ihn verstanden wissen. Stimmen Sie unserem Antrag zu!

(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion.PDS und der FDP)

Danke schön.

Meine Damen und Herren! Wir nähern uns den Abstimmungen. Es gibt einen Änderungsantrag der Linksfraktion.PDS. Frau Werner will ihn vorstellen.

Herr Präsident! Jetzt habe ich es ein bisschen schwer, weil diejenigen aus den anderen Fraktionen, die nicht zustimmen wollten, sich einen anderen Popanz gesucht haben, an dem sie sich abgearbeitet haben. Darauf müsste ich eigentlich reagieren. Aber ich möchte trotzdem auf unseren Antrag zu sprechen kommen.

Herr Dr. Martens, Sie haben mich am meisten enttäuscht. Natürlich haben wir über Leistungsansprüche gesprochen. Aber Leistungsansprüche resultieren nun einmal aus Menschenrechten. Das fordern Sie im Übrigen für MigrantInnen ein. Deshalb hätte ich von Ihnen als Bürgerrechtler etwas anderes erwartet.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Wo ist denn der Bürgerrechtler?)

Ich habe schon einiges zu unserem Antrag gesagt. Ich möchte auf einen Punkt noch einmal eingehen und Ihnen ein Beispiel nahebringen, weil das oft bei der Entscheidungsfindung hilft. Es stammt aus einer Beratung, in der

über eine Frau berichtet wurde. Es handelt sich – der Name ist geändert – um Marlene Müller, 38, Mutter von drei Kindern, die mit dem dritten Kind vor fünf Jahren die Familienplanung eigentlich abgeschlossen hatte. Aber den endgültigen Schritt wollten die Müllers damals noch nicht gehen. Die Schwangerschaft war für die Frau kein Spaß. Sie litt sehr zeitig unter hohem Blutdruck, starker Gewichtszunahme wegen Wassereinlagerungen und so weiter. Es verschlechterten sich die Nierenwerte. Sie wurde ins Krankenhaus eingewiesen. Es gab eine sehr dramatische Geburt. Nach der Schwangerschaft nahm die Frau Bluthochdruckmedikamente. Die Pille durfte sie nicht mehr nehmen. Die Spirale musste sie sich auch entfernen lassen, weil sie gesundheitliche Schäden hatte. Sie entschieden sich dafür, dass sich die Frau sterilisieren lassen sollte. Der Mann, Bernd Müller, wollte sich nicht sterilisieren lassen. Die Frau hatte keine Möglichkeit, ihn irgendwie zu zwingen. Also hat sie für sich selbst den Entschluss gefasst, das zu machen. Es war aber zu spät. Denn mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz werden die Kosten nicht mehr übernommen.

Der Antrag auf Kostenübernahme aus medizinischen Gründen wurde durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse abgelehnt. So eine Sterilisation kann bis zu 1 000 Euro kosten. Der Durchschnitt für Frauen liegt bei 500 bis 600 Euro.

Frau Müller bekommt ALG II. Ihr Mann ist Lkw-Fahrer, hat also nur ein geringes Einkommen. So kommt die Familie gerade so über die Runden.

Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Kosten für Verhütungsmittel aus dem laufenden Etat angespart werden können. Aber in so einer Familie wird Angespartes für Ferien, Freizeit, für Schulbücher, die anstehende Winterbekleidung usw. genutzt.

Vielleicht ist das Beispiel ein Grund für Sie, noch einmal darüber nachzudenken und unserem Antrag zuzustimmen. Ich kann hier nur noch einmal dafür appellieren, das zu tun.

Danke.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Das war die Einbringung und Begründung des Änderungsantrages. Gibt