Die Stadt, in der am 9. Oktober 1989 nach Friedensgebeten in fünf Kirchen etwa 70 000 Menschen trotz Gewaltandrohung friedlich über den Innenstadtring für Freiheit und Demokratie demonstrierten und damit dem SEDRegime den Todesstoß versetzten. Diese Ehrung haben die mutigen Menschen in Leipzig und aus anderen Teilen Sachsens, die ihnen solidarisch zu Hilfe eilten, mehr als andere verdient. Nicht umsonst erhielt Leipzig damals spontan durch den Volksmund den Titel „Heldenstadt“ verliehen. Das ist eine Auszeichnung, die eigentlich aus dem stalinistischen Wortschatz entlehnt ist, aber plötzlich einen neuen Klang bekam.
Meine Damen und Herren! Wenn wir uns heute froh und dankbar der Ereignisse vor 20 Jahren erinnern, dürfen wir nicht vergessen, dass es bereits zuvor mutige Versuche des Aufbäumens gegen die kommunistische Diktatur gab, die mehr oder weniger blutig unterdrückt wurden. Dabei denke ich nur an den 17. Juni 1953, an die Aufstände 1956 in Ungarn und Polen oder den Prager Frühling 1968. Erst mit den erfolgreichen Streikbewegungen der Solidarnosc in Polen zeigten sich erste sichtbare Risse im kommunistischen Machtregime, die durch die sanfte, aber wirksame Rolle von Papst Johannes Paul II. vertieft wurde. Dass Gorbatschow die Zeichen der Zeit zu deuten wusste, hat sicher dazu beigetragen, dass der 9. Oktober auf dem Leipziger Innenstadtring Gott sei Dank nicht wie einige Monate zuvor auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking endete.
Meine Damen und Herren, es war ein Glücksfall, dass zu dieser Zeit in der Bundesrepublik nicht Politiker wie zum Beispiel Oskar Lafontaine das Sagen hatten, die die Wiedervereinigung als „Lebenslüge der deutschen Nation“ abqualifizierten, sondern dass der Bundeskanzler Helmut Kohl hieß,
der als Historiker und Patriot die Forderungen der Demonstranten zu werten wusste; denn der selbstbewusste Ruf „Wir sind das Volk!“ verwandelte sich schon bald in die machtvolle Forderung „Wir sind ein Volk!“. Wenn diese Forderung auch manchen in Westdeutschland, aber vor allem jenseits der Grenzen abschreckte, haben doch die vergangenen Jahre bewiesen, dass das wiedervereinigte demokratische Deutschland keine Großmachtbestrebungen verfolgt, sondern ein friedlicher Nachbar und Garant für Frieden und Sicherheit in Europa und der Welt ist.
Die Deutschen, die am 9. November 1989, als die Mauer fiel, als das glücklichste Volk der Welt bezeichnet wurden, haben gemeinsam mit ihren Nachbarn im freien Europa allen Grund, die 20. Wiederkehr der friedlichen Revolution und der Wiedererringung der Einheit Deutschlands zu feiern. Das sollte nicht nur im Rahmen hochoffizieller Festakte vor Mikrofonen und Fernsehkameras stattfinden, sondern vor allem an der Basis, nämlich dort, wo das sächsische Herz schlägt: in den Städten und Dörfern, in
den Kirchen und Schulen, Vereinen und Verbänden. Dabei, meine Damen und Herren, bietet sich die ganz besondere Chance, unserer Jugend, die nach dem Mauerfall geboren ist und Unfreiheit, Mangelwirtschaft und Reisebeschränkungen nicht kennenlernen musste, ein realistisches Geschichtsbild zu vermitteln, ein Kapitel deutscher Geschichte, für das wir uns nicht – so wie in vielen Fällen – schämen müssen, sondern über das wir mit Recht froh und stolz sein dürfen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Stellen Sie mit mir nur geistig die Uhr um 18 Jahre und einige Wochen zurück. In der „Leipziger Volkszeitung“ vom 6. Oktober 1989 – „Leipziger Volkszeitung“, natürlich das Zentralorgan der Bezirksleitung der SED – gab es einen Leserbrief. Diesen Leserbrief möchte ich Ihnen in Gänze vortragen. „Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden! – Die Angehörigen der Kampfgruppenhundertschaft ‚Hans Geiffert’ verurteilen, was gewissenlose Elemente seit einiger Zeit in der Stadt Leipzig veranstalten. Wir sind dafür, dass die Bürger christlichen Glaubens in der Nikolaikirche ihre Andacht und ihr Gebet verrichten. Das garantiert ihnen unsere Verfassung und die Staatsmacht unserer sozialistischen DDR. Wir sind allerdings dagegen, dass diese kirchlichen Veranstaltungen missbraucht werden, um staatsfeindliche Provokationen gegen unsere DDR durchzuführen. Wir fühlen uns belästigt, wenn wir nach getaner Arbeit mit diesen Dingen konfrontiert werden. Deshalb erwarten wir, dass alles getan wird, um die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, um die in 40 Jahren harter Arbeit geschaffenen Werte und Errungenschaften des Sozialismus in der DDR zu schützen, und unsere Aufbauwerke zielstrebig und planmäßig zum Wohle aller Bürger fortgesetzt werden.
Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden,“ – jetzt hören Sie alle genau zu – „und wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand! Wir sprechen diesen Elementen das Recht ab, für ihre Zwecke die Lieder und Losungen der Arbeiterklasse zu nutzen. Letztlich versuchen sie damit nur, ihre wahren Ziele zu verbergen. – Kommandeur Günter Lutz im Auftrag der Kampfgruppenhundertschaft ‚Hans Geiffert’“, 6. Oktober 1989, ein Freitag.
Dann kam der 9. Oktober. Bekanntermaßen war ich zu diesem Zeitpunkt Lehrer. In Schulen ist es so geregelt, wenn es zur großen Pause dreimal klingelt, dann haben die Lehrer zur Kurzkonferenz ins Lehrerzimmer zu kommen. Unser Direktor, Mitglied der Bezirksleitung der SED Leipzig, sagte uns Lehrern, wir sollten sofort in unseren Klassen, in denen wir jetzt unterrichten, den
jungen Leuten sagen, dass sie heute Abend nicht zur Montagsdemonstration gehen sollten, da heute Abend mit diesem konterrevolutionären Spuk endgültig Schluss gemacht wird.
Dann kam der späte Nachmittag des 9. Oktober. Selbstverständlich gingen meine Frau, meine Tochter und ich zur Montagsdemonstration. Auf dem Weg zum KarlMarx-Platz, wo der Treffpunkt war, sind wir an den Kampfgruppen auf dem Dorotheenplatz bei Apels Garten vorbeigegangen, die dort mehr oder weniger zwanglos lagerten. Wir hatten große Angst. Plötzlich waren da 70 000, die Angst hatten und trotzdem kamen und um den Ring marschierten.
An diesem Abend ist die DDR endgültig ins Strudeln gekommen und hat sich nie wieder erholt. Dieser Weg führte unmittelbar zum 3. Oktober 1990,
Herr Schowtka sagte es und ich sage es noch einmal: Keiner von uns wäre heute in diesem Saal, hätte es nicht den 9. Oktober 1989 in Leipzig gegeben.
Wir sprechen in den letzten Stunden in diesem Zusammenhang ja immer wieder von den Begriffen „Freiheit“ und „Einheit“. Auch ich habe das getan. Ich stelle noch einmal klar und deutlich heraus: Vor der Einheit am 3. Oktober kam die Freiheit und diese Freiheit haben wir Ostdeutschen uns selbst genommen und dies werden wir historisch nie vergessen. Das soll auch niemals je vergessen werden.
Die Einheit war eine großartige historische Leistung der Politik, die dann begann. Und größter Respekt als Sozialdemokrat auch vor Helmut Kohl, der keinen politischen Fehler in dieser harten Zeit gemacht hat.
Ich brauche eigentlich gar nicht weiter zu begründen, warum ein Freiheitsdenkmal nach Leipzig muss, denn dort gehört es hin.
Aber nun zu einem zweiten Teil der Geschichte: Es gibt inzwischen einen Beschluss des Bundestages. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass sich heute die demokratischen Parteien nicht in den noch folgenden Redebeiträgen unter Umständen darüber zerfleischen, was das Bessere oder was das Schlechtere wäre. Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 9. November war zunächst ein Antrag der Fraktionen CDU und SPD. Zwei Tage später ist die Fraktion der FDP diesem Antrag beigetreten. Der Antrag war unterschrieben von Vol
ker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion, Dr. Peter Struck und Fraktion, Dr. Guido Westerwelle und Fraktion.
Es wurden Beschlüsse gefasst. Ich lese Ihnen jetzt den Punkt 4 dieses Beschlusses des Bundestages vom 9. November dieses Jahres vor, also auch einem historischen Datum. Der Punkt 4 lautet: „Die Bundesregierung wird aufgefordert, unter Mitwirkung der Initiatoren des Denkmalprojektes der Deutschen Gesellschaft e. V. eine Konzeption für dieses Denkmal als Vorlage für den Deutschen Bundestag zu erstellen. Der Deutsche Bundestag entscheidet über das finanzielle Volumen und die Ausschreibung eines Wettbewerbes zur künstlerischen Gestaltung dieses Denkmals. Konzeption wie Wettbewerbsergebnis sollten öffentlich diskutiert werden.“
Damit brauchen wir uns im Prinzip nicht mehr streiten und es gibt, wie ich glaube, keinen Grund, dem Antrag der Koalition nicht zuzustimmen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schowtka, Ihre Rede war mit Sicherheit keine Sternstunde, von der Sie am Anfang gesprochen haben.
Das wollte ich nur vorab gesagt haben. Ansonsten möchte ich mich dann sehr gern zum Thema in aller Ruhe und Sachlichkeit äußern.
Was den Herbst 1989 anbelangt, so gibt es dazu in der Bevölkerung – und wohl auch in diesem Haus – naturgemäß unterschiedliche Sichten und Bewertungen. Die einen sprechen von Wende, andere sprechen von gesellschaftlichem Umbruch oder Aufbruch, wieder andere – wir haben es gehört – von einer friedlichen Revolution.
Ich will mich am Streit über diese Begrifflichkeiten und Definitionen heute nicht beteiligen, sondern zu den vorliegenden Anträgen der Koalition sprechen und dabei gleich zu Beginn erklären, dass wir diesen vom Grundsatz durchaus zustimmen können, auch wenn wir nicht alle darin enthaltenen Formulierungen und Wertungen teilen. Auch sonst übernehmen wir ja nicht einfach die Terminologie von anderen.
Wir können und müssen – nicht nur heute, sondern auch in anderen Zusammenhängen – über alles reden, auch über Vergehen und Verbrechen, die es in der DDR gegeben hat und für die unsere Vorgängerpartei unbestritten die Hauptverantwortung trug.
Wir werden uns aber zugleich nicht an Geschichtsverfälschungen beteiligen. Deshalb lehnen wir die pauschale Formulierung vom Unrechtsstaat DDR, durch die deren Legitimität praktisch von Anfang an infrage gestellt wird, ebenso entschieden ab wie eine Gleichsetzung von DDR und Nazizeit.
Wer heute den Begriff „friedliche Revolution“ verwendet, der sollte nicht aus dem Blick verlieren, dass die Ereignisse in der DDR auch deshalb weitgehend friedlich verliefen, weil die damals Herrschenden, weil die SEDFührung zum Glück keine militärischen Mittel eingesetzt hat.
Erinnern ist wichtig. Erinnern tut not. Und Erinnern ist bisweilen auch schmerzhaft. Das gilt nicht zuletzt auch für meine Partei. Dazu wird meine Fraktionskollegin Dr. Ernst dann noch einige Ausführungen machen.