Protokoll der Sitzung vom 11.03.2010

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Herr Zastrow, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja, sehr gern.

Herr Kind, bitte.

Herr Zastrow, Sie beziehen sich auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil. Sie schlussfolgern daraus, dass nicht gesagt ist, dass die Regelsätze erhöht werden müssten.

Wie verstehen Sie aber den Satz des Bundesverfassungsgerichts: „Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.“

Wie interpretieren Sie diese Passage?

Habe ich es überhört oder haben Sie das Wort Mindestlohn nicht erwähnt?

(Zuruf des Abg. Thomas Kind, Linksfraktion)

Das Wort Mindestlohn kommt in der Begründung des Urteils nicht vor. Ich interpretiere es anders: Es ist keine Aufforderung dazu, dass der Gesetzgeber einen flächendeckenden allgemeinverbindlichen Mindestlohn in Deutschland einführen soll.

Herr Kollege Krauß hatte es vorhin angesprochen. Wenn in einzelnen Branchen die Tarifparteien einen solchen festlegen, ist das völlig in Ordnung. Damit habe ich kein Problem. Wir sind aber gegen eine gesetzliche Vorschrift. Das wissen Sie.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Ich möchte noch eines hinzufügen, Herr Kind: Wenn Sie einen gesetzlichen Mindestlohn diktieren, fordern Sie gleichzeitig die Vernichtung von Tausenden Arbeitsplät

zen. Eine aktuelle Studie von der Freien Universität Berlin gemeinsam mit dem Dresdner Ifo-Institut besagt, dass bei einem flächendeckenden Mindestlohn von nur – Sie wollen mehr – 8,50 Euro in Deutschland 1,2 Millionen Arbeitsplätze gefährdet sind. Das kann keiner ernsthaft wollen.

(Thomas Kind, Linksfraktion: Dann müssen in 23 europäischen Ländern andere ökonomische Gesetze gelten!)

Wir werden diesen Weg nicht mitgehen. Wir lehnen Ihren Antrag ab.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Staatsregierung)

Das war Herr Zastrow von der FDP-Fraktion.

Herr Dr. Hahn, Sie möchten intervenieren.

Ja, Herr Präsident, ich würde gern kurz auf das reagieren, was Herr Zastrow eben gesagt hat. Man kann nicht alles richtig stellen und korrigieren, was er an falschen oder unklaren Dingen gesagt hat.

Deshalb möchte ich erstens Folgendes sagen: Herr Zastrow behauptete, dass wir auf die erhöhte Mindestlohnforderung des DGB aufgesprungen wären. Ich kann Ihnen mitteilen – das können Sie auch nachlesen, ich mache Ihnen gern eine Kopie –, dass wir diesen Beschluss auf dem Parteitag zum Bundestagswahlprogramm im Mai letzten Jahres gefasst haben. Das war deutlich vor dem DGB. Nicht der Wettbewerb um die höchstmögliche Summe war der Ausgangspunkt. Die Summe war bei uns schon lange vorher beschlossen. So viel zum ersten Punkt.

Zum zweiten Punkt: Sie verweisen auf eine Studie, die besagt, dass Arbeitsplätze bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro verloren gehen würden. Sie nennen die Zahlen, die in dieser Studie stehen. Ich bin nicht unbedingt studiengläubig, obwohl man diese ernst nehmen muss. Ich schaue mir lieber die Realität in über 20 europäischen Ländern an und stelle fest, dass in den Ländern, in denen ein Mindestlohn existiert, keine Arbeitsplatzverluste eingetreten sind. Das nehme ich zum Maßstab für die Entscheidung, die wir zu treffen haben.

Die letzte Bemerkung, die ich machen möchte: Sie verweisen immer wieder darauf, dass sich Leistung lohnen muss und man Druck ausüben müsse, damit Leute zur Aufnahme von Beschäftigung bereit sind. Dazu muss ich Ihnen sagen: Wenn auf eine freie Arbeitsstelle in Sachsen 37 Hartz-IV-Empfänger kommen – nach den letzten Zahlen –, dann ist es schlichtweg unmöglich, alle in Arbeit zu bringen. Es ist eine Beleidigung der Arbeitslosen, wenn Sie ihnen unterstellen, sie wollten nicht arbeiten.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Das war Herr Dr. Hahn. – Herr Zastrow, möchten Sie nicht erwidern?

Wir setzen die Aussprache fort. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht nun der Abg. Herr Jennerjahn; bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der Linken gleicht einem Rundumschlag mit der gestreckten Linken. Was beim Boxen gilt, ist auch in der Politik von Bedeutung: Wer einen Treffer landen will, muss seinen Gegenspieler beobachten, die Taktik erkennen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Genau dies macht die Linksfraktion mit dem derzeit vorliegenden Antrag nicht.

Wer die Staatsregierung ersucht, sich auf Bundesebene für die Umsetzung der Hartz-IV-Urteile einzusetzen, nimmt an, dass die schwarz-gelbe Koalition die gleiche Taktik verfolgt und man ihr getrost die Initiative überlassen kann. Ich glaube, dass wir uns an dieser Stelle einig sind, dass dies nicht der Fall ist.

(Dr. André Hahn, Linksfraktion: Bei Herrn Morlok bestimmt; da haben Sie recht!)

Im Antrag der Linken sind einige durchaus richtig aufgeführte Probleme, die diskutiert werden müssen. Es ist aber aus unserer Sicht zu wenig, Forderungen aufzumachen, die inhaltlich nicht weiter untersetzt werden. Auf einige Punkte möchte ich an dieser Stelle weiter eingehen.

Zunächst wäre der Aspekt zu nennen, dass DIE LINKE eine zentrale staatliche Arbeitsvermittlung möchte, um die „Trennung von Arbeitslosen erster und zweiter Klasse zu überwinden“. Sehr geehrte Damen und Herren von der Linksfraktion, das Problem ist, dass die Betroffenen deswegen trotzdem arbeitslos bleiben.

(Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion: Richtig!)

Statt in die Polemik abzudriften, wäre es an dieser Stelle gut, wenn Sie das differenzierte Bild zur Kenntnis nehmen würden, welches die Realität zeichnet. Viele ALG-IIEmpfänger fühlen sich bei ihrer optierenden Kommune weit weniger als Arbeitslose zweiter Klasse als diejenigen, die auf den Fluren der Agentur für Arbeit darauf warten, dass sich jemand ihres Problems annimmt. Verstehen Sie mich an dieser Stelle nicht falsch: Ich möchte nicht das eine pauschal loben und das andere verteufeln oder jemandem den Schwarzen Peter zuschieben. Aber wir hatten das Thema bereits gestern ausführlich diskutiert. Die Voraussetzungen vor Ort müssen ausschlaggebend dafür sein, ob eine Kommune die Aufgabe allein oder gemeinsam mit der Bundesagentur schultern will oder ob sie sie ganz der Bundesagentur überlässt. Darüber hinaus muss es den örtlichen Einrichtungen gestattet sein, eigene Eingliederungsinstrumente zu entwickeln und auf die jeweiligen Klientelbedürfnisse anzupassen.

Ich komme zum nächsten Punkt: Die Überwindung der Bedarfsgemeinschaften ist natürlich ein Ziel, für das sich das Streiten lohnt. Die Frage aus dem Kontext herausge

rissen zu diskutieren, wird dem Thema leider nicht gerecht. An dieser Stelle muss über eine grundsätzliche Individualisierung bei sozialen Transfers gesprochen werden. Damit würden aber auch Privilegien, wie beispielsweise die Familienversicherung, auf den Prüfstand gestellt werden.

Auf die restlichen Forderungen dieses Antrages möchte ich mit dem Verweis auf unser Konzept der bedarfsorientierten grünen Grundsicherung antworten. Mit ihr soll der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu öffentlichen Gütern gewährleistet und das soziokulturelle Existenzminimum gesichert werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Um die Teilhabe und bestmögliche Entfaltung – insbesondere von Kindern – sicherzustellen, wollen wir in Betreuung und Bildung vorgelagert investieren. Ich bin mir sicher, dass Sie dem folgen können. Durch die Einführung einer bedingungslosen Kindergrundsicherung wollen wir das System grundsätzlich so reformieren, dass alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft materiell angemessen und gerecht unterstützt werden.

Wie die Bedarfssätze ermittelt werden können, darauf ist Kollegin Neukirch schon eingegangen. Deswegen erspare ich mir den Bogen.

Wir haben einen nächsten Punkt: Mindestlöhne. Herr Krauß hatte eine Studie vom Ifo-Institut zitiert, die massive negative Arbeitsmarkteffekte durch die Einführung von Mindestlöhnen in Aussicht stellt. Es gibt auch sehr interessante Studien aus den Vereinigten Staaten, die zu dem Schluss kommen, dass eine Anhebung von Löhnen in Unternehmen positive Arbeitsmarkteffekte hat. Man muss gegenüberstellen: Es steigen auf der einen Seite nicht nur die Lohnkosten, sondern es gibt auf der anderen Seite auch Entlastungseffekte für die Unternehmen zu verzeichnen, weil unter anderem die Mitarbeiterfluktuation deutlich geringer ausfällt und dadurch Einarbeitungszeiten entfallen, sprich: die Effizienz der Angestellten gesteigert wird.

Ich bleibe weiter beim Thema Mindestlöhne. Sie wissen, unsere Partei setzt sich auch für die Einführung von Mindestlöhnen ein. Wir bevorzugen das Modell einer Mindestlohnkommission, die auf der Grundlage einer Lohnuntergrenze von 7,50 Euro angemessene branchenspezifische Mindestlöhne festlegt. Das ist aus unserer Sicht allemal realistischer, als jetzt ganz pauschal eine Forderung von mindestens 10 Euro einzuführen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie müssen einfach akzeptieren, dass das Thema Mindestlöhne recht sensibel ist. Es hat lange gedauert, um in kleinen und mittelständischen Unternehmen die Akzeptanz von Mindestlöhnen herbeizuführen. Wenn man jetzt mit solchen Forderungen pauschal hineingeht, dann kann man das Vertrauen auch ganz leicht wieder kaputt machen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es gibt jetzt allerdings noch einen Punkt in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, der mich richtig verärgert. Sie haben einen bunten Strauß an Forderungen aufgemacht. Ich habe so ein bisschen den Eindruck, Sie wollten einmal testen, ob man alle möglichen politischen Forderungen der Linken in einem einzigen Antrag unterbringen kann. Dann speisen Sie uns mit einer halben Seite Begründungstext ab, in dem Sie noch nicht einmal ansatzweise ernsthaft auf Ihre Forderungen eingehen.

Ich warte auf den Tag, an dem Sie mit einem Antrag die Staatsregierung auffordern, die sozialistische Weltrevolution vorzubereiten und zeitnah umzusetzen. Der Begründungstext wird dann aus einem einzigen Wort bestehen. Das eine Wort lautet: selbsterklärend.

Das ist leider ein Politikstil, der bei vielen Ihrer Anträge festzustellen ist. Das hat auch fatale Konsequenzen. Einerseits verhöhnen Sie damit ein Stück weit die Menschen, deren Interessen zu vertreten Sie vorgeben. Andererseits beschädigen Sie aber auch wichtige soziale Fragen, die wir hier ernsthaft diskutieren sollten.

(Alexander Krauß, CDU: Sprechen Sie bitte langsamer! Ich möchte klatschen! – Beifall bei der CDU und des Abg. Holger Zastrow, FDP)

Bitte schön, fühlen Sie sich ganz frei. Sie klatschen, Herr Krauß. Das können Sie gern tun.

Der Änderungsantrag der Kolleginnen und Kollegen der SPD heilt die Ungereimtheiten Ihres Antrages zum Glück. Wir werden uns bei Ihrem Antrag enthalten, es sei denn, der Änderungsantrag der SPD sollte Zustimmung finden. Unter dieser Voraussetzung könnten wir auch dem zugrundeliegenden Antrag zustimmen.