Protokoll der Sitzung vom 14.12.2011

(Zuruf des Abg. Marko Schiemann, CDU)

Wer Volksentscheide ernst nimmt, muss die Quoren senken!

(Beifall bei den LINKEN)

Die demokratischen Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger sind zu stark begrenzt. Sie können sich kaum an wichtigen politischen Grundsatzentscheidungen beteiligen, auch zu Großprojekten. Das ist übrigens der Unmut, der durch die Bürgerinnen und Bürger in Stuttgart ausgedrückt worden ist. Die mündigen Bürgerinnen und Bürger werden das nicht länger hinnehmen. Auch das, meine Damen und Herren, ist ein Signal aus Stuttgart.

Erst vor zwei Monaten hatten wir hier in diesem Hohen Haus die Gelegenheit, uns für ein Gesetz zur direkten Demokratie zu entscheiden, das diesem neuen Zeitgeist entspricht. Es ist ein modernes Gesetz, das Bürgermitwirkung und Bürgermitbestimmung befördert und nicht durch unüberwindbare Ouoren und Bestimmungen

behindert. Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der FDP, Sie, die heute das Hohelied auf den Volksentscheid in Stuttgart singen, haben diesem Gesetzentwurf der LINKEN ihre Zustimmung verweigert.

450 000 Unterschriften – ich wiederhole: 450 000 Unterschriften – bleibt damit das Quorum für ein Volksbegehren in Sachsen. Das ist ein Volksentscheid-Verhinderungsquorum, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN – Torsten Herbst, FDP, steht am Mikrofon.)

Herr Herbst, ich gehe davon aus, dass Sie vom Instrument der Kurzintervention Gebrauch machen wollen. Dazu haben Sie jetzt Gelegenheit.

Herr Präsident, das möchte ich gern tun. Frau Roth hat in ihrer Rede ausgeführt, dass die FDP gegenüber Volksentscheiden ignorant ist. Das stimmt nicht.

Ich möchte Ihnen zwei Beispiele nennen: Die Volksentscheide zur Waldschlößchenbrücke und zum Autobahnbau wurden maßgeblich mit Unterstützung der FDP initiiert. Wir haben Unterschriften gesammelt und für Beteiligung gesorgt. Am Ende haben zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger der Position der FDP zugestimmt. Ich denke, das ist ein hervorragendes Beispiel für direkte Demokratie.

(Beifall bei der FDP – Tino Günther, FDP: Jawohl!)

Frau Roth, Sie können auf die Kurzintervention antworten. – Das möchten Sie nicht. Als nächster Redner für die SPDFraktion Herr Dulig; bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Titel las, hatte ich etwas Sorge, wie man die Debatte führt, ob man das mit einer Art Triumphgeheul macht oder ob man tatsächlich über Demokratie redet.

Ich finde, das sollten wir wirklich tun; denn wir leben in einer Zeit – wir haben das von diesem Podium aus schon des Öfteren diskutiert –, in der Demokratie- und politische Entscheidungen insgesamt in Zweifel gezogen werden. Meiner Meinung nach kann die Debatte auch nicht so geführt werden: Bist du nun für die parlamentarische Demokratie oder bist du für die direkte Demokratie?

(Andrea Roth, DIE LINKE: Ja, eben!)

Ich bin der Meinung, dass wir die parlamentarische Demokratie stärken müssen, indem wir die direkte Demokratie stärken.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Es geht um eine sinnvolle Ergänzung. Es geht darum, Demokratie lebendig zu machen, aber es geht nicht darum, Entscheidungen abzuschieben. Wir sind als

Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerinnen und Bürger in Sachsen gewählt worden, um Entscheidungen zu treffen, auch wenn es manchmal schwerfällt und hart ist.

Trotzdem zeigt Stuttgart 21, dass es an den geeigneten Stellen richtig ist, das Volk zu fragen, um einen Knoten zu zerschlagen, der in dem Moment politisch nicht lösbar war. Bei der Volksabstimmung in Baden-Württemberg hat mich beeindruckt – ob positiv oder negativ, weiß ich noch nicht –, dass von den über 7 Millionen Wahlberechtigten 3,6 Millionen zur Abstimmung gegangen sind. 48 % sind zur Entscheidung gegangen. Bei der letzten Landtagswahl in Sachsen lag die Wahlbeteiligung bei 52 %. Wir befinden uns hier in einem ähnlichen Korridor.

Das ist durchaus ein Indiz dafür, dass Menschen sich aufmachen, um in der Sache eine richtige Entscheidung zu treffen. Dabei muss man aufpassen, dass man im Nachhinein Dinge nicht schönredet, die man vorher bekämpft hat. Ich weiß nicht, wie wir die heutige Debatte geführt hätten, wenn das Ergebnis ein anderes gewesen wäre. Ich vermute, wir hätten dann nicht über Demokratie diskutiert, sondern über die Gefährdung des Wirtschaftsstandortes oder die verkehrspolitische Steinzeit.

Die Volksabstimmung hat auch gezeigt, dass die Apokalyptiker in beiden Lagern unrecht hatten; denn das ist das Ergebnis: Genau diejenigen, die ihre Endzeitstimmungen auf beiden Seiten geschildert haben, hatten mit dem Ergebnis nicht recht. Stuttgart 21 ist durchaus ein Lehrbeispiel dafür, dass auch festgefahrene politische Situationen und Streitfragen durch einen Volksentscheid sehr gut gelöst werden können.

Stuttgart 21 ist aber auch ein Beleg dafür, dass politische Streitfragen erst ideologisch aufgeladen und durch Hardliner und Lobbyisten zur Eskalation geführt werden können. Auf dieser Ebene ist eine sachliche Debatte fast gar nicht mehr möglich.

Wenn man eine solche Eskalation verhindern will, dann muss man vorher ein Verfahren festlegen, das tatsächlich die Interessen Einzelner einbezieht. Auch das ist eine Lehre von Stuttgart 21: nicht erst zu beginnen, wenn die Situation emotional schon so weit aufgeladen ist, sondern von vornherein mit einem ganz klaren Selbstverständnis zu informieren, zu beteiligen, um dann auf einer Sachebene Entscheidungen treffen zu können.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Dietmar Pellmann, DIE LINKE)

Uns hilft auch keine Ignoranz. Ich meine, dass das Wahlergebnis für die CDU in Baden-Württemberg durchaus mit ihrem Agieren in dieser Zeit zu tun hat. Ich erinnere nur an Ministerpräsident Mappus, der in dieser Zeit vom Durchregieren gesprochen und damit klargemacht hat: Es geht eben nicht um einen Interessenausgleich und um Beteiligung, sondern es geht um Durchregieren. Ich denke, das Wahlergebnis war die richtige Antwort auf diese Argumentation.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wenn wir tatsächlich aus Stuttgart 21 lernen wollen, dann heißt es, erstens frühzeitig zu informieren und zu beteiligen und zweitens die formalen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Bürgerbeteiligung möglich ist. Als vor 20 Jahren die Verfassung gemacht wurde, ist man von einer Einwohnerzahl von 4,5 Millionen ausgegangen. Durch die demografische Entwicklung ist die Hürde zur direkten Demokratie immer höher geworden.

(Zuruf von der CDU: 12 %!)

Deshalb ist es unser Auftrag, wenn wir tatsächlich an die Verfassung herangehen, geeignete Vorschläge zu machen, um die Quoren zu senken; denn wir wollen mehr direkte Demokratie. Das stärkt auch die parlamentarische Demokratie.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Jähnigen; bitte.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anscheinend habe nicht nur ich mich bei den bisherigen Reden gefragt, welche Lehren Sie denn nun aus Stuttgart 21 ziehen wollen.

Wir wissen ja, wie dieser Konflikt entstanden ist. Die Kritik am Projekt, an den hochgelobten Folgen der Immobilienvermarktung des freigewordenen Platzes um den Bahnhof, an der Zentralstruktur der Bahn, die andere Teile Deutschlands, zum Beispiel Sachsen, vernachlässigt, wurde lange verdrängt. Dann eskalierte der Konflikt. 2010 wurde versucht, die Proteste niederzuknüppeln. Danach verlor die CDU in Baden-Württemberg die Macht, und nach der Wahl haben die GRÜNEN mit der SPD den Volksentscheid gemacht.

Ich betrachte Ihr Argumentieren auf die befriedende Funktion dieses Volksentscheides als ein großes Kompliment an die GRÜNEN. Danke schön!

(Beifall bei den GRÜNEN – Lachen bei der FDP)

Es ist für uns selbstverständlich, dass wir diese Niederlage als Konsequenz akzeptieren; Kretschmann hat das gesagt. Wir bedauern sie und ich bedaure sie auch für Sachsen; denn wir wissen ja, dass die Gelder, die in Stuttgart verbuddelt werden – die Kostenprognosen zeigen nach oben –, Gelder sind, die wir für unsere Infrastruktur dringend gebraucht hätten. Wir kennen ja die Kostenexplosion aus unserem eigenen Bahnprojekt in Leipzig.

Welche Konsequenzen sind nun eigentlich zu ziehen? Für Baden-Württemberg war die offene Diskussion vor dem Volksentscheid, die Diskussion nach dem Regierungswechsel befruchtend, offen, ein Umbruch in der Kultur des Landes. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir hier auch, und zwar nicht auf der Basis schöner Reden

im Parlament oder Beschlüssen von Grundsatzprogrammen, sondern ganz konkret im Land.

Die Bürgerinnen und Bürger, lieber Herr Herbst, wollen nicht zum Schluss Großprojekte abnicken. Sie wollen Transparenz und Bürgerbeteiligung von Anfang an.

(Beifall bei den GRÜNEN, den LINKEN und der SPD)

Sie wollen frühzeitig beteiligt werden. Sie wollen wissen, worüber in den Parlamenten und in der direkten Demokratie entschieden wird, und sie wollen eine öffentliche Rechenschaft über die Folgen. Sie wollen realistische Entscheidungen, deren Folgekosten und Auswirkungen sie kennen.

Verkehrsminister Morlok – er fehlt jetzt – hat viele Straßenausbaupläne intern infrage gestellt, zum Beispiel in Pirna. Die Planung für Freiberg ist vor dem Bundesverwaltungsgericht gescheitert. Bei aller Stärke straßenbaukritischer Bürgerinitiativen liegt das nicht daran, dass GRÜNE dagegen protestiert haben, sondern es liegt daran, dass die Verkehrsprognosen und die tatsächlichen Bewegungen so weit auseinanderdriften, dass wir die neuen Planungen gar nicht mehr genehmigungsfähig bekommen. Es ist ein wirtschaftliches Problem. Und es fehlt Geld für den Straßenbau, den Sie in der Fläche des Landes immer noch vertreten. Das ist die Realität. Schieben Sie das nicht auf Protestierer, sondern nennen Sie die Realität einmal beim Namen! Das wäre ein erster Schritt zu Transparenz und Bürgerbeteiligung.

Zu Bürgerbeteiligung selbst und zur Demokratie haben wir GRÜNEN viele gute Vorschläge gemacht. Wir haben Vorschläge gemacht, wie – Herr Schiemann, Ihr Wort ins Ohr Ihrer Fraktion – die Arbeitsfähigkeit und Kontrollrechte des Sächsischen Landtags gestärkt werden können. Wir haben Vorschläge gemacht, wie wir die Arbeits- und Kontrollmöglichkeiten der kommunalen Vertretung

stärken können. Es ist dringend nötig, gerade nach der Kreisreform.

All das hat die CDU abgelehnt, aber wir brauchen es. Die ehrenamtlichen Hauptorgane in den Kommunen können den Verwaltungen zu wenig gegenüberstellen, um klarzumachen, was repräsentative Demokratie eigentlich ist: Kontrolle und Lenkung und nicht die Verwaltung.

Wir brauchen ein Informationsfreiheitsgesetz. Wir brauchen Regelungen zur frühzeitigen Bürgerbeteiligung bei den neuen Bergbauverfahren, dem „Neuen Berggeschrey“. Wir brauchen es bei den neuen Straßenplanungen. Wir brauchen das, was mein Kollege Lichdi in einem guten Gesetzentwurf in der 4. Wahlperiode vorgeschlagen hat: ein Bürgerbeteiligungsgesetz – maßgerechte, frühzeitige Bürgerbeteiligung, wie die Leute sie beanspruchen, mit ganz niedrigen Quoren.

Nicht zuletzt müssen wir die Hürden für direkte Demokratie entscheidend senken. Wo bleiben Ihre Konsequenzen? Wo bleiben Ihre Vorschläge?

(Beifall bei den GRÜNEN, den LINKEN und der SPD)