Protokoll der Sitzung vom 01.09.2016

Lassen Sie mich am Ende auf den Aktionsplan und die Kampagne „Behindern verhindern“ eingehen, die nach meinem Kenntnisstand nicht ganz unumstritten ist. Der Absicht dieser Kampagne kann ich noch folgen, aber nicht nur in meinen Augen, sondern auch in den Augen der Betroffenen, vieler Bürger und insbesondere auch der LAG „Selbsthilfe Sachsen e. V.“ ist diese Kampagne nicht frech, Frau Staatsministerin, sondern sie wird in Teilen sogar als verletzend und diskriminierend wahrgenommen. Hier sei beispielsweise auf den Slogan „Mit Gendefekt ein toller Hecht“ verwiesen. Man hätte meines Erachtens nüchterner und etwas sensibler auf die Belange von Menschen mit Behinderung eingehen sollen.

Wenn man solch eine Kampagne anstößt, um nach sieben langen Jahren endlich Fahrt aufzunehmen, dann sollte man auch die entsprechenden finanziellen Mittel zur Verfügung stellen. Da habe ich persönlich meine Zweifel. Ein Blick in den Einzelplan 08 genügt nämlich, um zu erkennen, dass für viele Titelgruppen wie zum Beispiel die Integration von Migranten die Ausgaben im nächsten Doppelhaushalt massiv nach oben gehen, aber im Gegenzug, obwohl nun die Behindertenrechtskonvention mit der dazugehörigen Kampagne in Sachsen umgesetzt werden soll, die Ausgaben um jeweils 4 Millionen Euro pro Jahr abgesenkt werden. Wenn ich diesen Blick in den Einzelplan 08 wage, muss ich fragen, ob Sie es mit Ihrer Kampagne und mit der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention ehrlich meinen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD)

Herr Wendt sprach gerade für die AfD. Jetzt könnte die Fraktion GRÜNE noch einmal sprechen. – Kein Redebedarf, Herr Zschocke. Wollen wir eine dritte Runde eröffnen? Wie sieht das bei den einbringenden Fraktionen aus? – Ich sehe keinen Redebedarf mehr. Damit kommt jetzt die Staatsregierung zum Zuge. Ich bitte Sie nach vorn, Frau Staatsministerin Klepsch. Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Vor wenigen Tagen ist die Olympiade zu Ende gegangen. Tausende Sachsen haben begeistert die Ergebnisse der Olympiade verfolgt. Wenn ich frage, wann die Paralympics beginnen, dann schaue ich teilweise in unwissende Gesichter, und ich frage, ob jemand weiß, wie viele Sachsen an den Paralympics teilnehmen. Es sind sechs Teilnehmer. Wunderbar. Wir fragen uns auch, warum die mediale Aufmerksamkeit bei den Paralympics nicht die gleiche ist wie bei den Olympischen Spielen.

Aber genau das sind die Themen, mit denen wir uns beschäftigen. Ich bin den Koalitionären dankbar, dass sie bei der Verabschiedung des Koalitionsvertrages dieses Thema zu einem Schwerpunkt gemacht haben. Man hat ganz klar vereinbart, dass für den Freistaat Sachsen ein

Landesaktionsplan zu erarbeiten ist, und genau bei dieser Erarbeitung befinden wir uns gegenwärtig mittendrin.

Im Freistaat Sachsen – der Abg. Krasselt hat es schon gesagt – leben 600 000 Menschen mit Behinderung und davon 400 000 mit Schwerbehinderung. Wenn wir dieses Thema der selbstbestimmten Teilhabe für uns als ein Thema dieser Legislaturperiode mit festgesetzt haben, dann sollten wir zuerst bei uns anfangen und fragen: Kann der Rollstuhlfahrer wirklich zu meinem Wahlkreisbüro kommen? Oder wenn wir eine Veranstaltung organisieren, schauen wir dann als Erstes mit darauf, ob auch ein Behinderten-WC vorhanden ist? Wenn wir vielleicht jüngst erst im Ausland im Urlaub waren, dann war es sicher für uns selbstverständlich, „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“, „Danke“, „Bitte“ in der Landessprache zu lernen. Aber ist es für uns selbstverständlich, „Guten Tag“ zu sagen, wenn wir einem Menschen begegnen, der unsere Sprache nicht versteht?

Ich glaube, das alles sind Themen, mit denen wir uns intensiv auseinandersetzen müssen, nicht nur dürfen, sondern wir müssen es. Die Kampagne „Behindern verhindern“, die der Freistaat Sachsen vor wenigen Wochen ins Leben gerufen hat, regt geradezu an zu diskutieren, zu fragen, vielleicht auch die eine oder andere Kritik zu äußern. Es ist eine Kampagne, die – wie ich meine – frech ist. „Pfiffig“ ist vielleicht sogar der bessere Begriff. Sie ist farbenfroh. Sie hat ein gewisses Augenzwinkern. Mit dieser Kampagne wollen wir wachrütteln. Wir wollen zum Umdenken anregen.

Ich danke den Botschaftern. Ich danke Ihnen, Herr Wehner, dass Sie sich bereit erklärt haben, neben vier weiteren Botschaftern diese Kampagne in die Öffentlichkeit zu bringen. Der Landesaktionsplan wird in den nächsten Wochen auf der Zielgeraden ankommen. Wir werden ihn im Herbst im Kabinett vorstellen und Ihnen zukommen lassen. Er ist ein Schritt auf dem richtigen Weg. Ich bin all denen dankbar, die sich an der Erarbeitung beteiligt haben. Das Dankeschön geht an alle Ministerien, aber auch an alle, die mitgewirkt haben, dass wir uns mit diesem Landesaktionsplan auf dem richtigen Weg befinden.

Ich bin all denen, die hier mitgewirkt haben, dankbar. Herr Zschocke, das Glas ist halb voll und nicht halb leer. Genauso sollten wir diese Thematik für uns sehen – bei all dem, was vielleicht noch besser gemacht werden kann. Wir sind hier auf einem richtigen Weg.

(Beifall bei der CDU, den LINKEN und der SPD)

Nun fangen wir aber nicht bei null an. Ich glaube, auch das muss deutlich gesagt werden. Der Landesaktionsplan ist das eine, die Kampagne dazu ganz wichtig. Aber wir sind hier nicht bei null, ganz im Gegenteil.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Staatsministerin?

Ja.

Bitte schön, Herr Wendt.

Vielen Dank, Herr Präsident. Frau Staatsministerin, entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung. Eine Frage: Können Sie uns kurz darstellen, warum die Haushaltsmittel im kommenden Doppelhaushalt um jeweils 4 Millionen Euro pro Jahr reduziert worden sind?

Herr Wendt, ich wäre noch dazu gekommen. Ganz kurz zu den Haushaltsmitteln: Wir haben uns im Doppelhaushalt 2015/2016 klar dazu bekannt, 5 Millionen Euro für den Landesaktionsplan in Verantwortung des Sozialministeriums einzustellen. Aber wir haben gemeinsam mit allen Ministerien einen Landesaktionsplan erarbeitet. Es war klar festgelegt worden, dass nach der Verabschiedung des Landesaktionsplanes die Ministerien in ihren eigenen Haushaltsplänen ihre Aufgaben abwägen, sodass jetzt der Vergleich, den Sie momentan angestellt haben, kein Vergleich ist. Sie müssen alle Haushaltspläne der Ministerien anschauen und vergleichen, was im Rahmen des Doppelhaushaltes 2017/2018 als Entwurf für die Umsetzung, für weitere Maßnahmen enthalten ist. Also den Vergleich, den Sie angeführt haben, kann man in dem Kontext nicht sehen.

(Zuruf von der AfD: Da werden wir mal schauen!)

Nun noch einmal zurück zum Thema. Wir sind nicht bei null, ich möchte ganz kurz erinnern: Es gibt zahlreiche Kulturangebote, die barrierefrei sind. Das Thema „Lieblingsplätze für alle“ wurde angesprochen. Auch dort gibt es ein Programm, das gut ist und weiter fortgeführt werden muss.

Wir haben ein Arbeitsmarktprogramm ins Leben gerufen. Wir machen das. Es gibt gegenwärtig eine Befragung bei allen sächsischen Arztpraxen, ob weiterer Bedarf vorhanden ist, um dort die Barrierefreiheit herzustellen. Aber auch das sind nur einzelne ausgewählte Beispiele.

Ich möchte zum Schluss noch einen Verein, den ich vor wenigen Tagen erleben durfte, und zwar den Verein „Inklusion Dresden e.V.“, erwähnen. Das ist ein Verein, der sich mit einer Rolli-Fahrschule beschäftigt. Er fährt mit seinen Mitgliedern sachsenweit zu Schulen. Er fährt mit seinen Rollstühlen zu all den Interessierten. Dort kann jeder einmal ausprobieren, was es bedeutet, in einem Rollstuhl zu sitzen und nur ein kleines Hindernis zu überwinden. Man wird, wenn man es ausprobiert hat, seine Stadt, seinen Ort mit ganz anderen Augen sehen. Ich bin diesem Verein dankbar, dass er sich dieser Aufgabe gestellt hat und dazu beiträgt, nicht nur die Barrieren, die im Überwinden von Hindernissen bestehen, abzubauen, sondern auch die Barrieren, die zuerst in den Köpfen und in den Herzen unserer Menschen sind. Ich glaube, genau dazu ist die Kampagne angelegt, nämlich diese Barrieren zu überwinden.

Ganz zum Schluss möchte ich einen Brief erwähnen, der mich von einem im Rollstuhl sitzenden jungen Mann aus Görlitz erreicht hat. Er zeigt, dass die Kampagne nicht falsch angelegt ist. Er hat sich dafür bedankt und ein Lied geschrieben. Ich möchte ganz kurz aus diesem Lied zitieren: „Schau, wie sie plötzlich so freundlich lächeln. Schau, wie barmherzig sie alle sind. Sie sind so hilflos in ihren Gesten und für das Wesentliche blind.“

Lassen Sie uns für das Wesentliche den Blick schärfen und gemeinsam Barrieren abbauen in den Köpfen und Herzen. Wir sind gemeinsam auf dem richtigen Weg.

Danke.

(Beifall bei der CDU, den LINKEN und der SPD)

Das war Frau Staatsministerin Klepsch, die für die Staatsregierung sprach. – Ich sehe am Mikrofon 7 eine Kurzintervention. Bitte, Herr Wendt.

(Sebastian Scheel, DIE LINKE: Mach es jetzt nicht kaputt!)

Vielen Dank, Herr Präsident. Frau Staatsministerin, Es ist gut und wichtig, dass wir uns um dieses Thema kümmern. Wir haben sehr viel Nachholbedarf im Freistaat Sachsen. Für mich ist dennoch nicht nachvollziehbar, warum die Leistungen gekürzt worden sind. Gerade im Bereich Soziales gibt es sehr viel Nachholbedarf und das rechtfertigt meiner Meinung nach keine Kürzung. – Vielen Dank.

Möchten Sie reagieren, Frau Staatsministerin? – Das ist nicht der Fall. Ich sehe eine zweite Kurzintervention am Mikrofon 4. Bitte, Herr Kollege Zschocke.

Frau Ministerin, es betrifft nicht Ihr Ministerium, aber wenn die Beschulung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht als Regelfall betrachtet wird, sondern in das Ermessen der

Schulleiterentscheidung gestellt wird, und wenn die Schulen auch nicht langfristig dafür ausgestattet werden, dann ist das Glas nicht halb voll, sondern es geht dann in die falsche Richtung. Es war mir wichtig, das deutlich zu machen. – Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

Möchten Sie reagieren, Frau Staatsministerin? – Nein. Ich sehe eine weitere Kurzintervention am Mikrofon 1. Frau Kollegin Kliese, bitte.

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich möchte mich mit meiner Kurzintervention auf die Rede der Ministerin beziehen, und zwar auf ihre Ausführungen zum Thema Haushalt. Es ist tatsächlich so, dass keine Kürzungen vorliegen. Es ist so, dass die einzelnen Ministerien aufgefordert sind, ihre Summen, die sie für den Bereich Inklusion benötigen, anzugeben und im Haushalt einzustellen. Das heißt, es ist keine Kürzung im Sozialhaushalt, sondern das Geld befindet sich jetzt in anderen Haushaltstiteln. Wenn Sie zum Beispiel einen Blick in den Haushalt des SMWK werfen, dann finden Sie von den 4 Millionen Euro bereits 1 Million Euro, die das SMWK allein für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in diesem Rahmen veranschlagt hat. Also: Wenn Sie die 4 Millionen Euro suchen, schauen Sie in die anderen Haushalte. Inklusion ist ein Querschnittsthema, deshalb verteilt es sich jetzt.

(Beifall bei der SPD und der CDU)

Das war eine weitere Kurzintervention, die sich auf den vorangegangenen Redebeitrag der Frau Staatsministerin bezog. Gibt es Reaktionsbedarf? – Das kann ich nicht erkennen. Weitere Kurzinterventionen sehe ich nicht. Damit sind wir am Ende der ersten Aktuellen Debatte.

Wir schließen diese ab und kommen zu einer zweiten Aktuellen Debatte, beantragt von der Fraktion AfD.

Zweite Aktuelle Debatte

Wenn Kinder heiraten (müssen) – 56 Kinderehen in Sachsen

Antrag der Fraktion AfD

Als Antragstellerin hat zunächst die Fraktion AfD das Wort. Das Wort ergreift Frau Kollegin Dr. Petry. Bitte sehr.

(Zuruf von den LINKEN: Jetzt wird es lustig!)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn Kinder heiraten (müssen), und wir haben den Titel leicht angepasst, Kinderehen in Sachsen. Es sind nicht 56 Kinderehen, wie wir nach Recherchen festgestellt haben, son

dern vermutlich 23 Kinderehen, allerdings mit steigender Tendenz.

(Unruhe bei der CDU, den LINKEN und der SPD)

„Ein 11-, 13-, 15-jähriges Mädchen“, meine Damen und Herren, ich zitiere, „gehört nicht in eine Ehe, sondern in die Schule.“ So lautet vermutlich eine Aussage aus der Strategiekommission der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in diesen Tagen, die heute in „RP ONLINE“ zu lesen war. In der Tat ist das eine der Kernaussagen, die uns bei diesem Thema beschäftigen muss, neben der Missachtung der Menschenwürde und der Selbstbestimmung.

Der Sündenfall zu diesem Thema, das müssen wir feststellen, ist der vom 12. Juni dieses Jahres beim Oberlandesgericht Bamberg, als dort eine Ehe einer 14-jährigen Syrierin mit einem volljährigen Cousin für rechtens befunden wurde. Damit wurde ein Urteil des Familiengerichtes Aschaffenburg aufgehoben. Warum ist dies unserer Ansicht nach ein Sündenfall? Weil es den Weg ebnet für den weiteren Vollzug und den Bestand von Kinder- und Zwangsehen in Deutschland. Die 23 Kinderehen, über die sich gerade einige von Ihnen echauffiert haben, werden sekundiert durch viel höhere Fallzahlen in Thüringen und Sachsen-Anhalt. Die geschätzte Zahl für ganz Deutschland beläuft sich auf circa 1 000 Kinderehen. Die Dunkelziffer liegt möglicherweise weit höher.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: 1 000 hatten wir gestern schon einmal!)

23 minderjährige Verheiratete, alle weiblich, eine unter 16 Jahren, 27 minderjährige verheiratete Flüchtlinge sind nach Sachsen eingereist. Das sind die Zahlen, die wir erheben konnten, wobei das Ministerium in der Tat Schwierigkeiten hatte, dazu Angaben zu machen. Das hat diverse Gründe.