Wir beginnen mit der Aussprache. Zunächst die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, danach folgen CDU, DIE LINKE, SPD, AfD und die Staatsregierung, wenn das Wort gewünscht wird. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN steht Frau Abg. Meier am Rednerpult. Bitte, Frau Meier.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In den letzten Monaten haben sich in den sächsischen Justizvollzugsanstalten wiederholt dramatische Vorfälle ereignet. Lassen Sie sie uns gemeinsam Revue passieren.
19. Juli 2016, JVA Torgau: Ein Gefangener versetzt einem anderen während des Aufschlusses derart wuchtige Schläge auf den Kopf, dass dieser wenige Tage später stirbt. Die notwendige Beaufsichtigung des Opfers im Krankenhaus durch Bedienstete der JVA führte dazu, dass zwei Stationen unter Verschluss bleiben mussten, weil nicht mehr genügend Bedienstete im Hafthaus anwesend waren.
10. Oktober 2016, JVA Zwickau: Drei U-Häftlinge schmieden einen verheerenden Fluchtplan. Nachdem sie eine Kostklappe und ein Tischbein manipuliert hatten, locken sie in der Nacht den einzigen Justizvollzugsbeamten auf der Station an und attackieren ihn im Hinterhalt – pures Glück, dass die Kollegen ihn gehört haben und zu Hilfe eilen konnten. Während der Aufschlusszeit war die JVA unterbesetzt; so stand nur ein Beamter für zwei Stationen zur Verfügung. Abwechselnd war daher eine Station unbeaufsichtigt, was die Manipulation erst möglich gemacht hat. In der Nacht waren sowieso nur vier Justizvollzugsbeamte auf den Stationen unterwegs.
12. Oktober 2016, JVA Bautzen: Ein Beamter wird von einem Gefangenen mit einer Faust ins Gesicht geschlagen, darin verborgen eine Rasierklinge. Die Wunde des Beamten musste mit 18 Stichen genäht werden. An diesem Tag fehlten in der Frühaufsicht der JVA Bautzen krankheitsbedingt vier Beamte.
Ebenfalls 12. Oktober 2016, JVA Leipzig: Den Fall alBakr haben wir heute schon hinlänglich diskutiert. Die Expertenkommission kommt zu dem Ergebnis, dass seit der Ankunft von al-Bakr vielfältige Fehler passiert sind und gegen gesetzliche Vorgaben, allgemeine Richtlinien und Weisungen verstoßen wurde. Eine Eingangsuntersuchung beim Anstaltsarzt fand nicht statt – keine Sitzwache. Ursache dafür war auch die geringe Personaldichte.
12. Januar 2017, JVA Leipzig: Ein 28-jähriger Häftling erhängt sich in seiner Zelle. Das Standardaufnahmeverfahren der JVA durchläuft er wenige Stunden zuvor eher sporadisch – wohl aus Personalnot. Obwohl der Gefangene angab, aktuell unter Drogeneinfluss zu stehen, wurde er weder sofort dem Anstaltsarzt noch dem Sozialdienst vorgestellt. Die JVA Leipzig war zu diesem Zeitpunkt überbelegt, die Personaldecke war – wen wundert es? – extrem dünn.
14. Januar 2017, wieder JVA Leipzig: Die JVA ist nach wie vor extrem überbelegt. In einer mit vier Häftlingen belegten Gemeinschaftszelle versuchen zwei, einen dritten zu erhängen, der vierte Häftling stellt sich schlafend.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, waren nur die Vorfälle, die öffentlich in der Presse diskutiert wurden. Aber diese sechs Fälle allein im letzten halben Jahr machen doch deutlich, wie desaströs die Personalausstattung in unseren Justizvollzugsanstalten ist. Wir können und dürfen nicht länger zulassen, dass die Folgen des Personalmangels auf dem Rücken der Beamtinnen und Beamten, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch der Gefangenen ausgetragen werden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht zu leugnen, die Gefangenenklientel wird zunehmend schwieriger. Drogen, psychische Auffälligkeiten, neue kulturelle Hintergründe und erheblich überbelegte Gefängnisse – all dies führt zu Spannungen zwischen den Gefangenen, aber auch zwischen Gefangenen und Vollzugsbediensteten.
Erschwert wird das Ganze durch die Personalsituation. Der langjährige Personalabbau vor allem im allgemeinen Vollzugsdienst führte bei den einzelnen Beamten in einen Teufelskreis aus Überlastung und Krankheit. Ist die Beamtin oder der Beamte gesund und einsatzfähig, sind Überstunden die Regel, da der urlaubs- und krankheitsbedingte Ausfall der Kollegen abgefangen werden muss. Überstunden führen auf Dauer zu Überlastung, die in Krankheit mündet. Ist man wieder gesund, geht der Kreislauf von vorne los: Überstunden, Überbelastung, ungesunde Arbeitsbedingungen. Mich persönlich wundert es nicht, dass der Krankenstand in den Justizvollzugsanstalten mit teilweise 35 oder sogar 40 Tagen pro Jahr so hoch ist.
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch an die Stärkung der Fachdienste denken. Die Untersuchungskommission zu al-Bakr hat ausdrücklich die Konzepte der
Suizidprävention gelobt. Aber – ich habe es heute Morgen schon gesagt – was nutzt ein hervorragendes Konzept, wenn kein Personal vorhanden oder greifbar ist, um es dann tatsächlich umzusetzen? Das genügt bei Weitem nicht.
Es ist richtig, dass jetzt neue Personalmittel in den Haushaltsplan eingestellt wurden und dass Sie heute noch einmal etwas angekündigt haben. Das reicht aber nicht aus. Es wird bei Weitem nicht ausreichen, hier ein paar neue Stellen zu schaffen und einige neue Psychologinnen und Psychologen zusätzlich einzustellen. Das ist richtig, keine Frage – aber es wird nicht ausreichen. Wir brauchen eine detaillierte Analyse der jeweils vorhandenen Aufgaben für jede Anstalt und dazu, welches Personal dort tatsächlich benötigt wird.
Die Bedarfe in den Justizvollzugsanstalten sind unterschiedlich. Haftanstalten mit Sonderstationen brauchen logischerweise besonders geschultes Fachpersonal. In einer JVA mit einem hohen Anteil an nicht Deutsch sprechenden Gefangenen braucht es einen besseren Zugriff auf Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Gefangene, die eine kurze Haftstrafe verbüßen, benötigen eine andere allgemeine und fachliche Betreuung als solche mit langen Haftstrafen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Um diese konkreten Bedarfe zu ermitteln, haben wir diesen Antrag vorgelegt, um nämlich genau zu schauen, wo die Bedarfe sind, und spezifisch zu schauen: Welche baulichen Besonderheiten liegen in der Haftanstalt vor, oder welche Gefangenengruppen sind dort vertreten, die eine höhere Aufmerksamkeit brauchen?
Im zweiten Schritt soll die Kommission überprüfen, wie viele Arbeitsstunden die Vollzugsbediensteten unter Berücksichtigung von Ausfallzeiten wie Krankheit, Urlaub usw. durchschnittlich leisten können, um anschließend zu schauen, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den einzelnen Haftanstalten benötigt werden und wie die einzelnen Personalbereiche, also allgemeiner Vollzugsdienst und auch Fachdienste, personell ausgestattet werden müssen.
In der Stellungnahme zu unserem Antrag führte der Minister vor einem halben Jahr aus – es war genau am 1. August 2016 –, dass er die Einrichtung einer Fachkommission nicht als zielführend erachtet. Heute, sechs Monate später, nach der Stellungnahme des Berichts der Expertenkommission zum Fall al-Bakr, haben Sie, Herr Gemkow, einen vierköpfigen Sonderstab eingerichtet, der unter anderem eine fundierte Erhebung zum Personalbedarf durchführen und konzeptionieren soll. Ich frage: Warum muss immer erst etwas passieren, damit hier einmal eine Einsicht einkehrt?
Herr Modschiedler wird sich gleich hier hinstellen und sagen – das hat er heute Morgen schon angekündigt: Wir hatten doch schon eine Personalkommission. Oder wahlweise wird er sagen: Wir haben doch jetzt den Stab, der wird das schon regeln.
(Steve Ittershagen, CDU: Können Sie ihm das überlassen? Können Sie ihm überlassen, was er sagen möchte? – Zuruf des Abg. Martin Modschiedler, CDU)
Nein, Herr Modschiedler, ich kann Ihnen schon jetzt darauf antworten. Die Personalkommission hat sich alle Fachbereiche angeschaut, aber doch nicht jede einzelne Haftanstalt mit ihren besonderen Bedarfen – und genau deswegen fordern wir diese Kommission, die auch mit Leuten von außen besetzt wird, mit AVD-Leuten, mit Anstaltsleitern, mit der Fachgewerkschaft und auch mit Wissenschaftlern. Dass es sich lohnt, Expertise von außen einzuholen, haben wir doch bei dem Bericht zur Expertenkommission zu al-Bakr gesehen.
(Steve Ittershagen, CDU: Jetzt bin ich mal gespannt! – Zuruf von der CDU: Ob er das wohl sagen wird?)
Danke, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Okay, ich würde das sagen, ich werde es auch sagen. Ich bleibe bei meinen Aussagen von heute Morgen. Warum sollte ich das auch nicht tun? Denn der Antrag von den GRÜNEN ist ein sommerlicher Antrag, und zwar aus dem Jahr 2016. Er ist im Sommer gestellt worden.
Dort wollte man eine Kommission zur Berechnung des Personalbedarfs der jeweiligen Justizvollzugsanstalten. Genau, Frau Meier! Diese Kommission gibt es schon, und zwar ist es diese Personalkommission. Sie hat mit einem Kabinettsbeschluss vom Januar 2015, also im Vorgriff, ihre Tätigkeit aufgenommen und ihren Bericht abgeliefert. Im Januar 2017 hat sie mit allen Sachverständigen aller Fraktionen und aller Bereiche eine Anhörung durchgeführt. Mir ist wichtig: Man kann Externe hinzuziehen, aber in der Kommission war auch der Abteilungsleiter Personal des Justizministeriums beteiligt und auch mitspracheberechtigt.
Insoweit besteht eine Kommission. Diese wieder durch eine weitere, wieder von der Exekutive einzusetzende Kommission einzusetzen, führt das Ganze ad absurdum – jedenfalls die dortige Personaldiskussion.
Herr Kollege Modschiedler, geben Sie mir recht, dass die von Ihnen gerade angesprochene Personalkommission eben nicht den Auftrag erfüllt hat, behördenscharf und damit im Bereich des SMJus auch JVA-scharf zu benennen, wie viel Personal man bräuchte, sondern es eine sehr allgemeine, gleichwohl sehr wichtige Aufgabenkritik bzw. Fragestellung, wie viel Personal man insgesamt bräuchte, in der Landesverwaltung war, und dass das deswegen mit diesem Antrag nichts zu tun hat?
Nein, das kann ich nicht sagen, weil ich nicht der Auffassung bin, dass sie speziell – – Das ist nämlich ihre Auffassung: Sie wollen eine spezielle Kommission bilden, die speziell diese Aussagen, die Sie haben wollen, erfüllen soll.
Die Personalkommission soll, für meine Begriffe, diese Entscheidungen scharf abbilden und ist dafür auch eingesetzt worden. Insoweit kann sie beides. Wenn Sie mich jetzt weiter ausführen lassen, kann ich Ihnen auch noch sagen, weshalb es mit dieser Kommission, die Sie als GRÜNE einsetzen wollen, problematisch ist.
Der erste Punkt ist nämlich, dass Ihr Antrag – schauen Sie einmal hinein – frühestens auf den Zeitraum 2019/2020 abzielt; denn frühestens dann könnte das, was Sie sagen, scharf umrissen, auch scharf gestellt werden. Wir haben aber bereits in dem beschlossenen Haushalt 2017/2018 reagiert, und das mit insgesamt 105 Stellen. Das wird zwar von Ihnen teilweise bestritten, es ist aber auf jeden Fall ein Punkt, der von uns angesetzt worden ist, und zwar 2017/2018, nicht 2019/2020.
Außerdem hat das Justizministerium zum Bericht der Expertenkommission klar erklärt, dass die Bedeutung der Personalausstattung der Justizvollzugsanstalt eine wichtige Stellung einnimmt, dass es ihnen sehr wichtig ist. Es wird also schon jetzt etwas getan, und es wird auch weiter gehandelt. Hinsichtlich der altersbedingten Abgänge – Frau Meier, das hatten Sie schon angesprochen – werden wir das Thema weiter im Blick behalten müssen, da gebe ich Ihnen völlig recht. Das müssen wir im Blick behalten.
Das größte Problem Ihrer Fachkommission ist aber, dass sie überhaupt nicht flexibel agieren kann, sie kann nicht flexibel sein. Die jetzt geforderte Fachkommission würde einen Zeitraum von, ich denke, drei, vier, fünf Jahren benötigen, um für jede JVA den spezifischen Personalbedarf zu ermitteln. Das wurde auch letztes Jahr in den Anhörungen der Sachverständigen deutlich. Jetzt müssen wir aber einmal darüber nachdenken, was passieren wird, denn wir arbeiten auch alle weiter. In diesem Zeitraum wird die Zwickauer Justizvollzugsanstalt Alt geschlossen und ersetzt durch die JVA Zwickau-Marienthal Neu mit wesentlich mehr Plätzen, länderübergreifend mit Thüringen. Die JVA Chemnitz soll erweitert werden und wird es bereits. Die JVA Torgau, das wissen Sie, wird komplett
Die neu zu schaffende Kommission könnte auf diese Veränderungen weder angemessen noch überhaupt flexibel reagieren. Genau diese Möglichkeiten der flexiblen Reaktion fordert aber die bestehende Personalkommission in ihrem Bericht. Das Zitat: „Im Justizvollzug wird der Personalbedarf aus der Zahl der Haftplätze entwickelt. Das System berücksichtigt damit die belegungsmaßgeblichen Faktoren.“ Das ist das Zitat aus der Kommission. – Der Antrag der GRÜNEN kann das aber nicht.
Deswegen noch einmal abschließend zu der Personaldiskussion in Niedersachsen: Wir hatten eine Sachverständigenanhörung im Mai 2016. Diejenigen, die dabei waren, erinnern sich. Der Vorsitzende der Vereinigung der Leiterinnen und Leiter der Justizvollzugseinrichtungen des Landes Niedersachsen – das stand auch so auf dem Zettel, zwei Zeilen – hat sich dahin gehend geäußert, dass die dort eingerichtete Personalbedarfskommission auch nicht zu einem schnellen Zuwachs geführt habe. Es hat nicht mehr Stellen gegeben. Er sagt aber, das Personal sei gerechter verteilt worden. So hat es der Vorsitzende in der Anhörung gesagt. – Wir wollen auch eine gerechte Verteilung, aber das können wir, und zwar mit der aktuell bestehenden Kommission.