Protokoll der Sitzung vom 10.03.2000

Wer sich diesem Antrag auf Ausschußüberweisung anschließt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Keine Stimmenthaltung, aber eine Reihe von Gegenstimmen. Die Anträge sind somit in die Ausschüsse für Bildung und Wissenschaft und für Gleichstellung, Kinder, Jugend und Sport überwiesen worden. Meine Damen und Herren! Damit ist der Tagesordnungspunkt 32 beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:

Erste Beratung

Maßnahmen zum Erhalt des Projektes „G.A.I.L. Gegen Angst in belastenden Lebenslagen“

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 3/2782

Es ist eine Fünfminutendebatte vereinbart worden. Einbringer wird Frau Ferchland für die PDS-Fraktion sein. Nach der Einbringung wird Herr Minister Dr. Püchel reden. Bitte, Frau Ferchland.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits beim Tagesordnungspunkt „häusliche Gewalt“ wurde ausführlich darüber diskutiert, daß insbesondere im präventiven Bereich größeres Engagement notwendig ist. Genau darum geht es in unserem Antrag. Es geht um den Erhalt von praktischen Maßnahmen zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit im Land Sachsen-Anhalt und zum Schutz von Opfern von Kriminalität in unserem Land. Hier ist unser gemeinsames Engagement notwendig.

Seit Mai 1998 arbeitet in vier Polizeirevieren der Stadt Magdeburg und im Polizeirevier Schönebeck das Projekt G.A.I.L. „G.A.I.L.“ heißt „Gegen Angst in belastenden Lebenslagen - Sozialarbeit im Polizeirevier“. Dort arbeiten engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unmittelbar bei Krisennotlagen bzw. Gefährdungen fachgerecht und professionell gleich nach Bekanntwerden eines Sachverhaltes bei der Polizei sozialarbeiterisch. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß es eine strikte Trennung von polizeilicher und sozialarbeiterischer Tätigkeit gibt.

Damit wird innerhalb des Hilfesystems der Kommunen eine Lücke geschlossen, da Träger und auch Ämter nur feste Öffnungszeiten haben und unter Umständen

schwer zu erreichen sind. Dies ist aber eine Krisenintervention, denn gerade in Abendstunden, an Feiertagen und an Wochenenden sind Beratungsstellen und Ämter geschlossen. Dort greift dieses Projekt ein; denn es wird konkrete Hilfe gebraucht. Dies ist in Sachsen-Anhalt ein einmaliges Projekt.

Der Kernpunkt der Arbeit des Projektes besteht in der Betreuung von Opfern, insbesondere von Frauen und Kindern nach häuslicher Gewalt, da insbesondere die Situation kurz nach der Tat von den Opfern oftmals nicht allein verkraftet werden kann. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter bieten hier ihre Hilfe an.

Die Mitarbeiter leisten auch Hilfe in besonders schlimmen Konflikt- und Problemsituationen. Sie unterstützen zum Beispiel Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte bei der Überbringung von Todesnachrichten.

Durch die schnelle und unmittelbare sozialarbeiterische Erfassung von menschlichen Notlagen und Krisen ist es möglich, fachgerecht und professionell schnelle Hilfe anzubieten. Es ist also ein ausdrücklich freiwilliges Angebot, das seit Mai 1998 in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen mittlerweile über 1 500mal in Anspruch genommen wurde.

Nun droht das Ende des Projektes, da die Finanzierung zum 30. Mai 2000 planmäßig ausläuft und vom Arbeitsamt Magdeburg keine unmittelbare Anschlußförderung vorgesehen ist. Damit gingen auf einen Schlag 28 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Arbeitsstellen verloren. Wichtiger ist aber, daß die Arbeit, die dort geleistet wird, plötzlich abbricht.

Das können und wollen wir nicht akzeptieren; denn wir haben uns vor Ort davon überzeugen können, daß hier eine sehr wichtige präventive Arbeit geleistet wird, die mit praktischen Konsequenzen auch zu mehr Öffentlichkeit in Sachsen-Anhalt führt. Dafür steht die PDS ausdrücklich.

Wir fordern in unserem Antrag den Erhalt des Projektes und wollen für den Zeitraum vom 1. Mai 2000 bis zum Ende des Jahres eine Übergangsfinanzierung erreichen, um anschließend eine Festbetragsfinanzierung durchzusetzen. Hier sollte die Landesregierung umgehend initiativ werden, um eine Lösung herbeizuführen. Über die Ergebnisse ist in den Ausschüssen zu berichten. Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag. - Danke.

(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren! Wir hören jetzt die Fraktionen in der Reihenfolge SPD, FDVP, CDU und PDS. Die DVU-FL hat auf einen Redebeitrag verzichtet. Zunächst hat aber Herr Minister Püchel das Wort. Bitte, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 49 000 Straftaten im Jahre 1996 brachten Magdeburg bei der Kriminalitätsbelastung unter den deutschen Großstädten einen unrühmlichen zweiten Platz ein. Die negative Kriminalitätsentwicklung bis Mitte der 90er Jahre verlangte nach wirksamen Maßnahmen bei der Verfolgung und insbesondere auch bei der Vorbeugung und Vermeidung von Straftaten.

Unter der Gesamtbezeichnung „Prisma - Programm zur Erhöhung der inneren Sicherheit in Magdeburg“ startete

die PD Magdeburg deshalb ein Bündel von präventiven und repressiven polizeilichen Maßnahmen. Auch Aktivitäten außerhalb des Polizeibereichs wurden in dieses Projekt integriert, unter anderem das in dem vorliegenden Antrag befürwortete Projekt G.A.I.L.

Inzwischen kann die Magdeburger Polizei auf eine positive Entwicklung verweisen. Rund 40 000 Straftaten im vergangenen Jahr sind zwar sicher kein Anlaß zur Zufriedenheit, ergeben jedoch im Vergleich zu der anfangs genannten Zahl für das Jahr 1996 einen Rückgang der Kriminalität um 18,3 %. Hinzu kommt eine Aufklärungsquote von derzeit 52,4 %. Sie lag im Jahr 1996 noch bei 36,7 %. Darauf kann die PD Magdeburg zu Recht stolz sein.

Teile der ursprünglich im Rahmen von Prisma initiierten Modelle sind inzwischen in die bestehende polizeiliche Alltagsorganisation überführt worden. Zu nennen sind insofern vor allem die Jugendkommissariate mit den Jugendberatungsstellen bei der Polizei, die ausgehend von Magdeburg inzwischen flächendeckend im Land angelegt sind. Dafür hat die Landesregierung trotz des Zwanges, Stellen abzubauen, landesweit 28 Stellen zu Lasten des Polizeihaushaltes bereitgestellt.

Mit diesem erfolgreichen Projekt gelang eine zeitnahe Verknüpfung repressiver und präventiver Polizeiarbeit mit sozialpädagogischen Maßnahmen. Hierbei sind nicht die Arbeitsfelder der originär zuständigen Träger der Jugendhilfe übernommen worden. Vielmehr wird eine sinnvolle Krisenintervention im Kontext der polizeilichen Arbeit betrieben.

Diese Form der Krisenintervention ist Bestandteil einer täterorientierten und deliktübergreifenden Strategie zur Eindämmung und Zurückdrängung von Jugenddelinquenz. Insbesondere wird hiermit der Rückfallhäufigkeit wirksam begegnet. Dieses erfolgreiche Projekt soll auch in Zukunft fortgesetzt werden.

Das Projekt G.A.I.L. - Gegen Angst in belastenden Lebenslagen - ist im Unterschied dazu - dieser Unterschied ist im Hinblick auf den Antrag wesentlich und wird leider häufig übersehen - von Beginn an in freier Trägerschaft von einem Verein getragen und aus ABMMitteln finanziert worden. Die Polizei war nur unterstützend im weitesten Sinne tätig.

Die Aktivitäten des Vereins wurden durch das Arbeitsamt Magdeburg mit einem ABM-Projekt gefördert. Der ursprünglich vom Trägerverein Offene Türen für die Jugend Magdeburgs e. V. verfolgte Ansatz, Jugendliche im Vorfeld der Begehung von Straftaten intensiv zu betreuen, wurde nach dem erwähnten Ausbau der Jugendkommissariate und dem Einsatz von Sozialarbeitern in der polizeilichen Jugendberatung hinfällig.

Der Verein widmete sich daraufhin anderen Tätigkeitsfeldern der Sozialarbeit mit Bezug zur polizeilichen Arbeit. So befaßten sich die Mitarbeiter von Jugendbehörden mit der Überbringung von Todesnachrichten, der Betreuung von Verbrechensopfern und suizidgefährdeten Personen.

Diese sogenannte Sozialarbeit im Polizeirevier ist für Betroffene wie auch für die Polizei sehr hilfreich. Es handelt sich hierbei auch nicht um polizeiliche Arbeit, sondern um Sozialarbeit.

Neben den im Antrag genannten Finanzierungsfragen hatte dies bereits in der Vergangenheit ungeklärte Fragen aufgeworfen - nach den originären Zuständigkeiten, aber auch nach rechtlichen und praktischen Problemen,

die die enge Anbindung eines privaten Vereins an die unmittelbare Erledigung der Arbeit der Polizei mit sich bringt. Schnittstellen ergeben sich hier insbesondere zu den kommunalen Zuständigkeiten von Jugendamt, Sozialamt und Gesundheitsamt. Hinzu kommt eine ganze Reihe weiterer Ansprechpartner, die in einschlägigen Krisensituationen Hilfe bieten, wie die Kirchen, die Arbeiterwohlfahrt, das Magdeburger Interventionsprojekt für Opfer von sexuellen Gewalttaten.

Die genannten Fragen wurden anläßlich des Auslaufens dieser AB-Maßnahme gemeinsam mit der Polizeidirektion und dem Verein noch einmal eingehend erörtert. Was die Fragen der Anbindung und der Koordinierung mit den originär zuständigen Behörden betrifft, so ist ein Gespräch mit der Stadt vereinbart. Das Sozialministerium hat hier seine Moderation angeboten.

Nach Ablaufen der AB-Maßnahmen ist vom Verein beabsichtigt, nach der halbjährigen Wartefrist gemäß den AB-Vorschriften eine neue Beantragung vorzunehmen. Nach dieser Pause besteht die Aussicht, daß das Projekt auf ABM-Basis wieder aufgenommen wird. Entsprechend wird übrigens auch ein Projekt der PD-Magdeburg, das Also-Projekt, weiterbetrieben, ebenfalls auf dieser Basis.

Die Inanspruchnahme des Landeshaushalts zur Fortführung dieses Projekts, wie Sie es in Ihrem Antrag und in Ihrem Beitrag verlangt haben, ist mit Blick auf die bereits erwähnten Aktivitäten in Land und Kommunen in diesem Bereich, auf die angespannte Haushaltslage und nicht zuletzt auf den privaten Charakter des Vereins demgegenüber ausgeschlossen.

Bei den betreffenden Mitarbeitern handelt es sich übrigens zum Großteil um Studenten der Fachhochschule, die berufsbegleitend studieren. Ich halte die vorstehend aufgezeigte Möglichkeit der Lösung des Problems für gangbar und auch akzeptabel. So leid es mir tut, ich sehe keine andere Möglichkeit als diese.

(Beifall bei der SPD)

Danke sehr. - Nun hat für die SPD-Fraktion der Abgeordnete Herr Rothe das Wort. Bitte, Herr Rothe.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann mich kurz fassen. Der Herr Innenminister hat die Problematik dargelegt.

Ich habe volles Verständnis für das Anliegen, Frau Kollegin Ferchland, daß Sie dieses Projekt, das auf ABMBasis läuft, erhalten wollen. Wir können aber hier nicht mal eben eine Mehrausgabe beschließen, die sich per annum auf 2 Millionen DM belaufen würde. Wenn Sie 28 Sozialarbeiter à 60 000 DM Personalkosten rechnen und die Sachkosten hinzunehmen, ist das das Volumen. Natürlich würde dann auch der Ruf laut, das, was in Magdeburg zusätzlich über die vorhandenen Jugendberatungsstellen hinaus getan wird, mindestens auf andere Großstädte zu übertragen.

(Herr Dr. Rehhahn, SPD: Wittenberg!)

Das zum Finanzvolumen.

Es gibt andere Fragen, die sich hier auftun, etwa die nach einer sinnvollen Aufgabenteilung zwischen der Polizei und den Kommunen, die ja Träger der originären Jugendhilfe sind.

Ich meine, daß wir uns sorgfältig überlegen müssen, ob es sinnvoll ist, über den Bereich der Jugendhilfe hinaus auch im Erwachsenenbereich in den Polizeirevieren Sozialarbeit zu leisten, oder ob nicht Erwachsene einen Anspruch darauf haben, daß, wenn Polizei draufsteht, auch nur die Polizei drin ist. Kann es denn richtig sein, daß ein Erwachsener, der delinquent wird, im Polizeirevier, wenn auch natürlich auf freiwilliger Basis, dem Staat als Fürsorger oder Erzieher begegnet? Oder ist es nicht richtig, daß das tatsächlich bei der Kommune bleibt? Das schließt allerdings nicht aus, daß wir uns überlegen, wie wir die Zusammenarbeit verbessern können, also den Brückenschlag von der Polizei zu den Hilfeeinrichtungen, die in den Kommunen vorhanden sind.

Ich meine, daß es hier über eine Reihe von Fragen zu reden gilt, und schlage deshalb namens der SPD vor, daß wir diesen Antrag in den Innenausschuß überweisen. Wir könnten mit der Beratung dort schon am kommenden Mittwoch beginnen. Dort könnte man sich durch das Innenministerium noch einmal näher zu den Fragen berichten lassen, die der Herr Innenminister hier eben schon behandelt hat. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Danke sehr. - Für die FDVP erteile ich der Abgeordneten Frau Wiechmann das Wort. Bitte sehr, Frau Wiechmann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Projekt „Gegen Angst in belastenden Lebenslagen - Sozialarbeit im Polizeirevier“ leistet Nothilfe in Form von Sozialarbeit. Es bedeutet mobile Krisenintervention und schließt eine Lücke innerhalb des Hilfenetzes der Kommunen. Durch die schnelle und unmittelbare sozialarbeiterische Erfassung von menschlichen Notlagen und Krisen unmittelbar zeitlich und örtlich nach Bekanntwerden des Sachverhalts bei der Polizei ist es möglich, daß erkannte Krisen, Notlagen und Gefährdungen durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sofort fachgerecht und professionell betreut werden können.

Das Projekt, meine Damen und Herren, ist ein Novum. Durch eine in dieser Form noch nicht vorhandene Sozialarbeit im Polizeirevier können mit Hilfe einer ersten Krisenintervention und einer wesentlich schnelleren Vermittlung an die zuständigen Hilfeeinrichtungen Maßnahmen eingeleitet werden, die einer Chronifizierung und negativen Entwicklung des Sachverhalts entgegenwirken. Dadurch wird wesentlich effektiver und kostengünstiger auf soziale Probleme reagiert.

Das Projekt findet sich institutionalisiert in anderen Bundesländern in der Krisenberatung auch wieder. Es ist aber im Land Sachsen-Anhalt ein notwendiges Bindeglied, um die sozialarbeiterischen Institutionen einer Kommune effektiver und effizienter arbeiten lassen zu können. - Das, meine Damen und Herren, soll als Information über das Konzept erst einmal genügen.

Mit dem Projekt wird kurzfristig angestrebt, den erkannten Krisen die akute Gefährdung zu nehmen. Dies geschieht vor allem über einen Zeitraum von zwölf Stunden durch Interventionsstrategien. Mittelfristig werden die sozialarbeiterischen Sachverhalte, die über die

akute Krise hinausgehen, intensiver betreut, deren Ursachen und Ansatzpunkte geklärt und mögliche Lösungsansätze vereinbart. In dieser Phase, die einen Zeitraum von bis zu 24 Stunden betrifft, gibt es Kontaktaufnahmen zu anderen Trägern der Sozialarbeit.